Lebenselixier der Löwen

Daniel Reimann
12. September 201413:47
Das Nachwuchsleistungszentrum von 1860 München gehört zu den renommiertesten in Deutschlandspox
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Ein Blick in die Kristallkugel: Übernehmen Retortenklubs den Fußball? Wird die Bundesliga zum globalen Phänomen? Und wie werden die Superstars von übermorgen entdeckt? In der neuesten Ausgabe der Themenwoche beschäftigt sich SPOX mit der Zukunft des Fußballs - und das in verschiedensten Facetten. Diesmal geht es um das Nachwuchsleistungszentrum des TSV 1860 München. Denn während die Löwen sportlich durch die 2. Liga dümpeln, ist die Nachwuchsarbeit noch immer erstklassig. SPOX ging der ewig sprudelnden Quelle auf den Grund und sprach mit Protagonisten.

SPOX

Der Regen prasselt gnadenlos nieder in Giesing. Die Farbe des Markers schmiert beim Schreiben, der Hinweis "wasserfest" ist durch die Regentropfen nur schwer zu entziffern. Die Karten mit den Spielerporträts weichen auf, sie kleben zusammen. Doch die Autogrammjäger stört das nicht. Sie erleben gerade ihr persönliches Highlight.

Um die 40 Kids dürften es sein, zwischen etwa acht und zwölf Jahren, die sich um die Profis von 1860 scharen. "Ist das der Sanchez?", ruft einer und sucht eifrig nach dem passenden Kärtchen, den Stift zwischen Unterarm und Bauch geklemmt. "Ich hab' Schindler", freut sich ein anderer Junge neben ihm und hält sein frisch ergattertes Autogramm auf einem Porträt des Löwen-Verteidigers hoch in den Regen.

Die anderen Mitstreiter sind noch auf der Jagd und umringen die vom Training erschöpften Spieler. Die Witterung, die jeden anderen vernünftigen Menschen dazu bewegt hätte, sich irgendwo unterzustellen, ist den Kids aus der 1860-Fußballschule egal.

An diesem Tag schauen sie am Trainingsgelände in der Grünwalder Straße vorbei, wo sie ihren Stars ganz nah sein dürfen. Viele von ihnen teilen den Traum vom Leben als Fußballprofi. Und zwar in seiner romantischsten Form, ohne mögliche Schattenseiten - durch Kinderaugen eben. Und wer weiß: Vielleicht wird einer von ihnen in einigen Jahren tatsächlich selbst zu den Autogrammschreibern gehören.

Nachwuchsförderung nach wie vor erstklassig

Für die Erfüllung dieses Traumes müssen unzählige Faktoren zusammenpassen. Doch bei 1860 München ist man als ambitionierter Nachwuchsspieler zumindest nicht an der falschen Adresse. Sportlich dümpelt 1860 zwar seit nunmehr zehn Jahren mehr schlecht als recht durch die Zweitklassigkeit - doch die Nachwuchsförderung hat in Giesing nach wie vor Premiumformat.

Erst Anfang des Jahres wurde das Nachwuchsleistungszentrum der Löwen erneut mit drei Sternen zertifiziert - mehr geht nicht. Obendrein gab es als besondere Auszeichnung einen Zusatzstern, den Präsident Gerhard Mayrhofer auf die hohe "Durchlässigkeit" und "Effektivität" zurückführte.

Tatsächlich brachten die Löwen in den letzten Jahren haufenweise große Talente hervor, die längst Bundesliga- und teilweise Nationalspieler sind. Lars und Sven Bender, Kevin Volland, Marcel Schäfer, Daniel Baier oder Moritz Leitner wurden allesamt im Nachwuchsleistungszentrum an an der Grünwalder Straße groß.

"Nur ganz wenige Vereine in Deutschland können eine solche Anzahl an Talenten aufweisen, die den Sprung zu den Profis geschafft haben", schwärmt NLZ-Leiter Wolfgang Schellenberg im Gespräch mit SPOX.

Außergewöhnlich hohe Durchlässigkeit

Schellenberg wirkt stolz. Es hat etwas Väterliches, wenn er über den Löwen-Nachwuchs spricht. Er selbst hat schon fast alle Jugendteams in Giesing trainiert, seit 2012 leitet er nun das NLZ.

"Bundesliga-Vereine können sich natürlich einen höheren Standard an Rahmenbedingungen erlauben. Wir müssen das mit unserer Qualität ausgleichen", sagt er und nimmt auf einem Barhocker vor der Sponsorenwand Platz. Ein Blick in den Raum, auf die improvisiert zusammengeschusterte "Pressetribüne" oder den mit vergilbten Medienlogos geschmückten Pressecontainer bestätigen den Eindruck: Erstklassigkeit sieht anders aus.

Die vielen finanziellen und strukturellen Nachteile gelte es mit einer eigenen, besonderen Qualität auszugleichen. Diese "spiegelt sich darin wider, wie viele Jungs den Sprung in den Profibereich schaffen. Das ist ein Riesenfaustpfand, das wir vielen Vereinen voraus haben", freut sich der 42-Jährige.

Auch im aktuellen Kader stehen wieder elf Spieler mit Vergangenheit im 1860-Nachwuchs. Kapitän Christopher Schindler trägt sogar seit 1999 das Trikot der Löwen.

Familienatmosphäre in Giesing

Doch es gibt noch andere Faktoren, die junge Talente zu 1860 locken. Dominik Stahl, seit zehn Jahren ein Löwe, schwärmt gegenüber SPOX von einer "sehr familiären Atmosphäre, die sich durch alle Bereiche zieht. Es gibt wenige Vereine, bei denen man so viel Kontakt zu den Profis hat."

Eine Atmosphäre, die man schon außerhalb der NLZ-Katakomben am Trainingsgelände wahrnimmt. Fans und Nachwuchsspieler kommen ihren Stars außergewöhnlich nah, abgeschottetes Training gibt es nicht.

Für die Anhänger gehört die Nähe zu den Spielern seit jeher dazu. Die alteingesessenen Fans sitzen im "Löwenstüberl" an blau-weißen Tischdecken, bewirtet von der 71-jährigen Christl, die dort längst Kultstatus erreicht hat, und fachsimpeln über die neuesten Probleme. Über den steinernen, lebensgroßen Löwen hinweg blicken sie mürrisch auf Trainingsplatz 1. Dort dreht die erste Mannschaft nur wenige Meter entfernt ihre Runden.

"Emotionale Bindung" als Schlüssel

Was für Fans ein sympathischer Randaspekt ist, hat für die Nachwuchsspieler eine weitaus wichtigere Bedeutung. "Zwischen dem Gebäude der Profiabteilung und dem NLZ liegen zehn Meter. Die Spieler spüren, dass sie hier im Profibereich eine Zukunft haben. Emotionale Bindung ist das alles Entscheidende", erklärt Sportgeschäftsführer Gerhard Poschner.

Allein diese räumliche Nähe kann für Junglöwen ein gewaltiger Ansporn sein. Sie arbeiten darauf hin, eines Tages nach dem Training nicht mehr am Stüberl vorbeimarschieren und links in die NLZ-Katakomben abbiegen zu müssen, sondern nach rechts. In die Kabinen der Profis.

"Die Spieler spüren, dass sie hier im Profibereich eine Zukunft haben. Das ist das alles Entscheidende", so Poschner. Man wolle vielversprechende Talente nicht bloß mit Profiverträgen an den Verein koppeln, sondern mit "emotionaler Bindung" - ermöglicht durch räumliche Nähe zu den Profis, eine familiäre Atmosphäre und eine außergewöhnlich hohe Durchlässigkeit.

Denn, wie auch Poschner klarstellt, "so ein Profivertrag ist am Ende des Tages nur ein Stück Papier". Dass ein Vertrag nicht immer als verpflichtendes Bindemittel taugt, hat nicht zuletzt die Posse um Hakan Calhanoglu im vergangenen Transfersommer bewiesen.

Selbstständigkeit und Persönlichkeitsentwicklung

Darüber hinaus setzt man im Löwen-NLZ noch eine weitere markante Priorität: "

"Man wird schon früh sehr stark zur Selbstständigkeit erzogen", erzählt Stahl aus seiner Jugend. Er wurde einst von Ernst Tanner entdeckt und zog mit 15 Jahren ins 320 Kilometer entfernte München. "Ich musste mit 15 Jahren mein Leben in die Hand nehmen", so Stahl.

In Zeiten, wo talentierten Nachwuchsstars bereits die Welt zu Füßen gelegt und jeder Handgriff abgenommen wird, ist das keine Selbstverständlichkeit. Dabei sei Selbstständigkeit "ein ganz wichtiger Punkte der Persönlichkeitsentwicklung", mahnt Schellenberg. "Die Jungs müssen lernen, Entscheidungen zu treffen, auf dem Platz und neben dem Platz." Selbstständigkeit und Professionalität seien "entscheidende Faktoren neben Talent", sagt Schellenberg.

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Wie hart man landen kann, wenn Talent und Professionalität nicht Hand in Hand gehen, bewies unlängst Julian Weigl. Der 18-Jährige ist eines der aktuell vielversprechendsten Talente, soll aber nach einem ausgiebigen Abend mit Teamkollegen im Taxi über seinen Verein hergezogen haben.

Blöd nur, dass der Taxifahrer Löwen-Fan war und die Jungs kurzerhand bei der Vereinsführung verpfiff. Prompt wurden er und seine drei Mitstreiter in die zweite Mannschaft versetzt. Weigl war jüngster und wohl kurzzeitigster Kapitän der Löwen-Geschichte.

Chaotisches Umfeld, hohe Fluktuation

Dieser Ausrutscher passt jedoch in die stets chaotische, von Negativschlagzeilen geprägte jüngere Geschichte beim TSV. SPOX

Ein solch hektisches Umfeld, stets befeuert durch die hohe Fluktuation der Verantwortlichen, hat in Giesing Tradition. Alleine seit Stahls Ankunft in München kamen und gingen insgesamt zehn verschiedene Trainer. In zehn Jahren.

Mittlerweile geht 1860 in die elfte Saison seit dem Abstieg 2004 und ist damit aktuell dienstältester Zweitligist. Faktoren, die es der Vereinsführung und der Scoutingabteilung erschweren, junge Talente nach München zu locken.

Kampf um Talente und Konkurrenz zu Bayern

Hinzu kommt die schlagkräftige Konkurrenz in der Stadt, die nur wenige Kilometer weiter an der Säbener Straße ansässig ist: "Gerade im Bereich der jüngeren Jahrgänge, wo die Spieler noch aus der Region geholt werden, haben wir das gleiche Einzugsgebiet wie der FC Bayern", sagt Schellenberg. Müßig zu erwähnen, wer sich im Tauziehen um ein hoffnungsvolles Talent eher behaupten kann.

Auch unmittelbare Abwerbungsversuche haben keine Seltenheit. An Nachwuchsjuwel Mike Ott, der im Sommer nach Nürnberg ging, waren die Bayern ebenso interessiert wie aktuell an Angelo Mayer, einem der Shootingstars der zweiten Mannschaft. "Der Markt um Talente wird aggressiver", stellt Schellenberg fest.

SPOX-Redakteur Daniel Reimann (r.) traf Gerhard Poschner zum Gesprächspox

Um gar nicht erst der direkten Konkurrenz der Bayern ausgesetzt zu sein, sei es deshalb "Aufgabe von 1860, schneller zu sein! Wenn die Jungs sehen, wie viele es zuletzt geschafft haben. Bei uns ist die Wahrscheinlichkeit groß, irgendwann das große Ziel Profibereich zu erreichen", sagt Schellenberg und verweist auf den 19-jährigen Maximilian Wittek, der gegen RB Leipzig sein Debüt gab.

Versiegt die Quelle langsam?

Allerdings drängt sich die Frage auf, wie lange die Quelle des Löwen-NLZ noch unaufhörlich sprudelt. Der letzte, der einen großen Sprung machte, war Kevin Volland. Er verließ die Löwen 2012 und verpasste jüngst den WM-Zug nur knapp. Doch seitdem ist auch der Fluss außergewöhnlicher Talente zurückgegangen. Von 2006 bis 2012 gingen noch insgesamt sieben Fritz-Walter-Medaillen für die besten Nachwuchsspieler nach Giesing, seitdem allerdings keine mehr. Es scheint, als wären die besten Zeiten rund um den 1989er Jahrgang der Bender-Zwillinge passe.

Ein Grund könnten neben der sportlichen Zweitklassigkeit auch die gewaltigen finanziellen Einschnitte aus dem Jahr 2010 sein, die der damalige Geschäftsführer Robert Schäfer dem NLZ im Zuge von Sparmaßnahmen aufhalste. "Unser Nachwuchsleistungszentrum kostet jährlich drei Millionen Euro, der SC Freiburg macht das für 1,8 Millionen, und der macht es auch hervorragend", lautete Schäfers Argumentation. Die Löwen scheinen nun die ersten Nebenwirkungen davon zu spüren zu bekommen.

Aktuell gibt es zumindest keinen Nachwuchsspieler mit einer derart vielversprechenden Perspektive wie bei den Bender-Zwillingen im Profikader. Wittek schnupperte gerade die erste Profiluft, Weigl hat sein lupenreines Image unnötig beschädigt und wird sich erst einmal mit dem Stichwort Professionalität auseinandersetzen müssen.

Auch von den Etablierten scheint derzeit keiner vor dem großen Karrieresprung zu stehen. Der 22-jährige Bobby Wood kommt kaum über den Status "Talent" hinaus. Christopher Schindler hat sich unauffällig etabliert, ist aber auch "schon" 24 Jahre alt. Ähnlich wie Dominik Stahl, der überdies in der besten Phase seiner Karriere von einer schweren Knieverletzung heimgesucht wurde.

Verkaufen, um zu überleben

Erst der Blick in die zweite Mannschaft macht den Löwen-Fans leise Hoffnung: Mit Angelo Mayer, Marius Wolf und Richard Neudecker tummeln sich gleich mehrere blutjunge Top-Talente in der U 21. Noch ist eine dauerhafte Beförderung zu den Profis kein Thema. Einerseits, weil sie noch nicht so weit sind. Und andererseits, weil die Löwen nicht mehr auf den schnellen Verkauf großer Talente angewiesen sind.

Lange war es Alltag, dass 1860 sein Tafelsilber früh verscherbeln musste, um finanziell überleben zu können. Das blieb interessierten Vereinen nicht verborgen, so dass die Verhandlungsposition der Löwen stets miserabel war. Kevin Volland (600.000 Euro ), Sven Bender (im Tausch für Antonio Rukavina) oder Moritz Leitner (500.000 Euro) musste man gemessen an ihrem Talent weit unter Wert verkaufen.

Die Ausbildung von Top-Talenten war über das letzte Jahrzehnt das Lebenselixier der Löwen. Einerseits wäre der Verein ohne die zuverlässige Sichtung und Ausbildung des NLZ sowie den Verkauf zahlreicher Nachwuchsspieler schon längst ruiniert. Doch der negative Beigeschmack ist gewaltig: 1860 konnte keines seiner größten Talente langfristig binden. Die Besten verließen den Klub nach ein, zwei Profijahren.

"Lieber ins NLZ investieren"

Damit soll nun Schluss sein. Seitdem aus der teils lebensbedrohlichen Eiszeit mit Investor Hasan Ismaik unter Präsident Mayrhofer wieder eine Partnerschaft wurde, geht es bei den Löwen nicht mehr vorrangig ums nackte Überleben.

Daher sind auch Kürzungen im Nachwuchsbereich wie zu Schäfers Zeiten kein Thema mehr. Stattdessen sei Poschner bereit, "lieber auf einen Spieler im Lizenzspieleretat zu verzichten, um dieses Geld dann in das NLZ zu investieren". Vergangene Saison wurde der Etat für den Nachwuchs erstmals wieder gesteigert.

"Unser Anspruch ist, dass die Spieler, die wir ausgebildet haben, uns auch so lange wie möglich helfen, sportlichen Erfolg zu haben", sagt Poschner. Sein Ziel: 1860 soll in Zukunft nicht mehr nur finanziell von seiner Nachwuchsarbeit profitieren. Damit die Liste derer, die den Verein sehr früh verließen, nicht noch länger wird.

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