Das Finale der Schach-WM steht vor den entscheidenden Partien (Do., 13 Uhr im LIVE-TICKER). Macht Magnus Carlsen die Titelverteidigung fix oder beißt sich Viswanathan Anand zurück? SPOX sprach mit Jan Gustafsson, einem der fünf besten Spieler Deutschlands und Großmeister Ilja Zaragatski, die die Popularität Ihres Sports beim Schach-Portal Chess24 vorantreiben. Das Duo über Anands verbesserte Strategie, zockende Schachspieler und die Elo-Inflation.
SPOX: Herr Gustafsson, nach der achten Partie führt Magnus Carlsen weiterhin mit einem Punkt gegen Viswanathan Anand. Wie skizzieren Sie den bisherigen Verlauf des WM-Finals?
Jan Gustafsson: Carlsen ist als großer Favorit in das Finale gegangen und ist dieser Rolle bisher auch gerecht geworden. Dabei ist bemerkenswert, dass sein Spielstil deutlich variabler ist als noch im Vorjahr. Er hat schon im Vorfeld des Finals viel experimentiert, um ein noch kompletterer Spieler zu werden. Anand spielt seinen Stiefel dagegen in gewohnter Manier herunter, hat aber vor allem in Partie drei gezeigt, dass er immer noch gefährlich ist.
SPOX: Sie sprechen von Experimentierfreudigkeit. Andere Experten unterstellten Carlsen eine gewisse Leichtfertigkeit und erklärten seine Niederlagen damit, dass er versuche, seine Gegner nicht nur zu schlagen, sondern zu demütigen. Können Sie diese Aussagen nachvollziehen, Herr Zaragatski?
Ilja Zaragatski: Diese Meinung kann ich nicht teilen. Carlsens Spielweise hat überhaupt nichts damit zu tun, einen Gegner zu demütigen, im Gegenteil - er versucht in jeder Partie, sein bestmögliches Schach zu spielen. Dass er in diese Partien Stellungstypen angestrebt hat, die er im Normalfall nur ungerne spielt, zeigt, dass er sich als Schachspieler weiterentwickeln möchte und sein Repertoire komplettiert.
SPOX: Entwickelt sich auch Anand trotz seines deutlich höheren Alters noch weiter?
Gustafsson: Seine Spielstärke hat sich nicht verändert, das ist in seinem Alter auch fast unmöglich. Die Einstellung und Strategie für das Finale sind dafür deutlich besser als im letzten Jahr. Er gestaltet das Spiel offener und hat mit Weiß einen gefährlichen Aufschlag vorzuweisen. Er hat aus 2013, als er keine Partie gegen Carlsen gewinnen konnte, gelernt und seine Strategie entsprechend angepasst.
SPOX: Ist Anand stärker als im letzten Jahr?
Zaragatski: Er ist nicht stärker, mit seiner anderen Herangehensweise aber ein stärkerer Gegner für Carlsen. Dazu kommt, dass der vermeintliche Heimvorteil im letzten Jahr für ihn eher ein Nachteil war.
SPOX: Ein Nachteil? Im Normalfall ist das Heimrecht im Sport doch etwas sehr positives.
Gustafsson: Im Schach gilt das nicht unbedingt. Zum einen gibt es keine Fans, die einen anfeuern und nach vorne schreien. Es gibt auch keinen Schiedsrichter, der sich unter Umständen dazu hinreißen lässt, auf den Punkt zu zeigen, weil 50.000 Fans lautstark einen Elfmeter fordern. Viel wichtiger ist es, sich komplett auf ein Turnier konzentrieren und alle Ablenkungen ausblenden zu können. Das geht fernab der Heimat und ohne großen Druck besser.
SPOX: Dass das Finale dieses Jahr in Sotschi ausgetragen wird, war eine Überraschung und hat auch für einigen medialen Wirbel gesorgt. Vor allem die hohen Eintrittspreise wurden offiziell angeprangert. Wieso fiel die Wahl auf Russland?
Zaragatski: Für Insider ist diese Entscheidung nicht verwunderlich. Der Präsident der FIDE (Internationaler Schachverband) Kirsan Ilyumzhinov verfügt über ausgezeichnete Kontakte in den Kreml und versteht sich auch mit Vladimir Putin exzellent. Ihm ist es zu verdanken, dass die WM dieses Jahr in Russland stattfindet. Das Wichtigste beim Austragungsort ist aber, dass die Bedingungen für die Spieler gut sind - und das ist in Sotschi definitiv der Fall. Dem medialen Interesse am Sport hat es auch nicht geschadet. Die WM ist in diesem Jahr sogar noch populärer als 2013.
SPOX: In Norwegen werden die Partien sogar live im Fernsehen übertragen. Ist dieses Modell auch in Deutschland vorstellbar?
Gustafsson: Das sehe ich eher nicht. Es gab in den 80er Jahren mal die Sendung "Schach der Großmeister", die eigentlich immer gut ankam, sich aber auf Dauer nicht halten konnte. In Deutschland fehlt ein echtes Aushängeschild, der beste deutsche Schachspieler kursiert in der Weltrangliste auf Platz 27. Das passende Medium für den Schachsport ist das Internet. Dort kann man inzwischen nicht nur selber spielen, sondern es werden auch Live-Übertragungen angeboten und sogar Webcams, auf denen man die Spieler beobachten kann.
SPOX: Ist Schach nicht massentauglich?
Zaragatski: Das kommt immer drauf an. Schach ist keine Sportart wie Fußball oder Basketball, die man auf Anhieb versteht und von der man sich berieseln lassen kann. Man muss bereit sein, mit dem Kopf zu arbeiten, sich in das Spiel hereinzudenken. Dennoch kann man Schach auch einer breiteren Masse zugänglich machen, indem man es salonfähig macht und ein entsprechendes Rahmenprogramm anbietet. Genau das versuchen wir bei Chess24 - mit Erfolg.
SPOX: Das Image des Schachspielers wandelt sich ebenfalls immer mehr. Halten mittlerweile auch verrückte Vögel Einzug in der Sportart?
Zaragatski: Es gibt inzwischen tatsächlich schillerndere Gestalten als noch vor einigen Jahren, Spieler, die das Volk spalten. Hikaru Nakamura zum Beispiel. Ein sehr starker Online-Spieler, der sich als erster Herausforderer Carlsens sieht - ein richtiger Showman. Eine kuriose Gestalt ist zum Beispiel auch Dimitri Reinderman, der sich seine Haare ständig bunt färbt.
SPOX: Im Poker treffen sich die besten Spieler der Welt oft zu privaten Duellen, in denen es um viel Geld geht. Kommt so etwas im Schach auch vor?
Gustafsson: Viele Schachspieler sind echte Zocker, viele spielen auch Poker, gehen oft ins Casino und wetten. Die Affinität zum Glücksspiel ist bekannt, Spielsucht kann für manche zum Problem werdent. Es gibt Spieler, die sich zum Beispiel für Contra-Re-Spiele treffen. Dabei geht um einen Einsatz, der durch die Ansage von Contra und Re jeweils verdoppelt werden kann.
SPOX: Haben Schachspieler einen Vorteil im Casino?
Zaragatski: Nur, wenn Sie sich intensiv damit beschäftigten und die vorhandenen Denkstrukturen auf die neue Aufgabe adaptieren und anwenden. Vor allem beim Pokern sind das Einkalkulieren von Optionen und die mathematischen Fähigkeiten sicher von Vorteil.
SPOX: Einige Pokerstars lassen sich von reichen Geschäftsmännern zu privaten Runden einladen und Ihre Anwesenheit gut entlohnen. Kommt so etwas auch in der Schach-Szene vor?
Gustafsson: Ja, aber das sind Ausnahmen. Oleg Skvortsov, ein guter Amateurspieler, spielt öfter gegen die Starspieler der Branche. Welche Summen da den Besitzer wechseln, ist aber nicht bekannt. Eine andere Geschichte sind Simultan-Veranstaltungen. Dort werden sehr gute Spieler gebucht, um gleichzeitig gegen mehrere Spieler eines regionalen Vereins zu spielen.
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SPOX: Inwieweit können Sie die Züge der WM-Finalisten voraussagen, wenn Sie deren Spiele live verfolgen, und wie oft sind Sie komplett überrascht vom folgenden Zug?
Gustafsson: Die Trefferquote bei solchen Voraussagen liegt bei etwa 60 Prozent. Es gibt viele Stellungen, aus denen heraus es eine Vielzahl gleichwertiger Züge möglich ist, das macht es gerade zu Beginn einer Partie schwer. Carlsen und Anand stünden aber nicht in diesem Finale, wenn sie nicht in der Lage wären, mit Ihren Zügen immer wieder für eine Überraschung zu sorgen - bei uns und beim Gegner. Genau das macht ja auch die Faszination aus.
SPOX: Im Verlauf einer Schach-Partie muss man viele Schritte vorausdenken. Denksportler nutzen bei solchen Denk-Ketten Eselsbrücken, oft in Form einer Reise, die sie sich einprägen. Gibt es im Schach Parallelen zu diesem System?
Zaragatski: Nein, im Schach gibt es keine Eselsbrücken oder dergleichen. Es ist wie eine Sprache, die man nur erlernt, wenn man sich sehr viel damit beschäftigt, unterschiedliche Stellungstypen kennt und seine Intuition schärft. Wenn man sie aber einmal wirklich verinnerlicht hat, verlernt man sie auch nicht mehr.
SPOX: Trotzdem muss man für jeden Gegner und jede Partie einen Matchplan ausarbeiten. Wie lange kann man an diesem festhalten und wann kommt der Moment, an dem man ihn verwerfen muss?
Gustafsson: Viele Schach-Neulinge oder -Interessierte wissen nicht, dass diese Heimvorbereitung ein ganz großer Teil des Sports ist. Man muss sich überlegen, zu welchen Stellungsbildern man die Partie lenken will und wie man den Gegner auf das gewünschte Terrain locken kann. Dazu gehört, die Schwächen des Kontrahenten zu analysieren und die eigenen Stärken einschätzen zu können. In Partie sechs haben wir zum Beispiel bis zum 25. Zug ausschließlich Spiel aus dem Buch gesehen.
SPOX: Spiel aus dem Buch?
Gustafsson: Das sind die Züge, die die beiden Spieler schon zu Hause vorbereitet haben und die wir schon in exakt dieser Reihenfolge gesehen haben. Gestern begann die eigentliche Partie erst nach 15 Zügen. Wenn diese Phase der Partie erreicht ist, ist Kreativität und Improvisation gefragt.
SPOX: Macht man es dem Gegner damit nicht einfach?
Zaragatski: Es kommt immer darauf an, was die Intention des Spielers ist. Anand verlässt sich auf seine gute Heimvorbereitung, versucht die Partie schon weit vorauszudenken und sich so lange wie möglich an diesen Plan zu halten. Carlsen ist da anders, er kommt etwa gerne schneller zum Endspiel, weil er dort sehr stark ist. In diesem Jahr sieht man aber, dass auch er viel Zeit in die Vorbereitung investiert hat, um gegen den analytischen Anand nicht in Nachteil zu geraten.
SPOX: Anand ist 44 Jahre alt. Wie lange kann er noch auf diesem Level spielen? In anderen Sportarten wird die Leistungsgrenze ja bereits deutlich früher überschritten.
Gustafsson: Der Trend zeigt, dass junge Spieler immer stärker und immer schneller stärker werden. Betrachtet man dazu die Liste der 100 besten Schachspieler weltweit, muss man feststellen, dass dort kein Spieler zu finden ist, der älter als 50 Jahre ist. Anand ist da schon hart an der Grenze. Wenn diese Grenze bei Fußballspielern bei etwa 35 Jahren liegt, sind es beim Schach zehn Jahre mehr. Ab 45 Jahren bauen die körperliche Fitness, das Gedächtnis und auch die Motivation ab.
SPOX: Ist dies bei Ihnen auch schon spürbar?
Gustafsson: Ich bin jetzt 35 und stagniere seit zehn oder elf Jahren auf einem fast unveränderten Niveau. Im Normalfall erreicht man seine höchste Spielstärke mit 23 oder 24 Jahren. Danach geht es eher darum, dieses Level konstant zu halten. Große Sprünge sind da nicht mehr drin.
SPOX: Dennoch steigt die Zahl der internationalen Großmeister stetig. Früher war dies ein sehr elitärer Kreis, heute gibt es fast 2.000. Wie kommt das?
Zaragatski: Das liegt daran, dass die Spielstärke konstant höher wird. Wir sprechen dabei von einer Elo-Inflation. Es gibt immer mehr Leute, die Schach spielen und über das Internet sehr schnell sehr viel Erfahrung sammeln und stetig besser werden. Es gibt Lehrvideos, Nachbetrachtungen und viele weitere Angebote, mit denen man sein Spiel enorm schnell steigern kann.
SPOX: Wie groß ist denn die tatsächliche Lücke zwischen diesen Spielern und den besten der Welt? Wie würden Sie beide zum Beispiel in einem Match gegen Carlsen abschneiden?
Zaragatski: Das kann man relativ einfach sagen: Der Unterschied ist sehr groß! Es gibt im Schach eine Erwartung, die Anhand der Wertungszahlen kalkuliert wird. Meine Erwartung gegen Carlsen läge etwa bei 1,5 Punkten aus zehn Partien, Jans bei etwa 2,5. Dieses System spiegelt die Chancen ganz gut wieder. Große Überraschungen gibt es da nicht. Betrachtet man zum Beispiel die beiden letzten WM-Finals, in denen Anand von bisher 20 Partien genau eine gegen Carlsen gewinnen konnte - und Anand ist der fünftbeste Spieler der Welt.
SPOX: Entsprechend denken Sie nicht, dass Anand das WM-Finale noch drehen kann?
Gustafsson: Alles andere, als auf Carlsen zu tippen, wäre ein ziemlich idiotischer Tipp (lacht). Er ist der stärkere Spieler und liegt vorne.
SPOX: Das klingt stark nach einer Entscheidung.
Zaragatski: Nein, soweit darf man nicht gehen. Beide Spieler stehen vor sehr wichtigen Fragen, die den Ausgang des Matches beeinflussen werden. Carlsen muss sich überlegen, ob er seinen Vorsprung ausbauen und in seinen Weiß-Partien auf Risiko gehen will, oder ob er versucht, Anand keine Angriffsfläche zu geben und auf Remis spielt.
SPOX: Ist das nicht sehr riskant? Anand hat gezeigt, dass er durchaus in der Lage ist, eine Partie mit Aufschlag für sich zu entscheiden.
Zaragatski: Das stimmt. Deshalb glaube ich auch nicht, dass Carlsen die Sicherheitsvariante wählen wird. Er wird versuchen, seine nächste Weiß-Partie (Do., 13 Uhr im LIVE-TICKER) zu gewinnen, um so den Druck auf Anand zu erhöhen.
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