"Man braucht nicht alles hören und noch viel weniger braucht man alles sagen", sagt Ivan Osim und schiebt das Diktiergerät vor sich symbolisch ein paar Zentimeter weg. "Worüber wollen wir reden? Politik oder Fußball? Lieber wäre mir Fußball."
Wir sitzen im China-Restaurant Konfuzius in Graz-St. Peter - gleich am ersten Tisch links. Jeder im Bezirk hat schon bei Konfuzius die überdimensionalen Frühlingsrollen gegessen, Chef Joe kennt die Familie Osim seit Ewigkeiten. Sie kommen oft hierher.
Ein Vogel im Käfig
Osim verbringt viel Zeit in Graz. Nicht weil er die Stadt seiner größten sportlichen Erfolge so gerne hat. "Wir haben von Montag bis Freitag jeden Tag einen Arzttermin", sagt Ehefrau Asima, die gegenübersitzt und aufmerksam zuhört.
Der einstige Sturm-Trainer ist von seinem Schlaganfall im November 2007 gezeichnet. Osim war damals Teamchef der japanischen Nationalmannschaft und entglitt dem Tod nur knapp. "Die Ärzte haben mir gesagt, dass es mir in dreizehn Jahren besser gehen sollte. Darauf warte ich noch immer", sagt Osim im Gespräch mit SPOX.
"Ich fühle mich praktisch wie ein Vogel im Käfig. Ich kann Fußball nur im Fernsehen schauen, von Zeit zu Zeit gehe ich ins Stadion. Das ist meine größte Freude. Mir tut es weh, dass ich meinem Job nicht mehr nachgehen kann. Im Fußball zu arbeiten ist anders als Fußball zu beobachten. Man lebt anders, man studiert die Spieler und Spiele anders", sagt Osim und trinkt einen Schluck Sauvignon Blanc. "Ich schaue alle Spiele, die übertragen werden."
Sturm Graz: Aufstieg und Fall
Der 78-Jährige zählt in der Steiermark zu den großen Ikonen. Regelmäßig bleiben Blicke der Gäste am ersten Tisch links beim Eingang hängen, um ein Foto bittet aber niemand. Der Bosnier hat nichts von seiner Aura eingebüßt.
Osims Lebenswerk lässt sich mit den Pokalen und Meistertellern in seinen acht Jahren bei Sturm nicht zusammenfassen. Osim setzte die Stadt Graz auf die europäische Fußball-Landkarte, wird in seiner Heimat Bosnien verehrt und ist in Japan bis heute unvergessen. Osim brachte Spielkultur und Ästhetik nach Graz, die sich bis heute nicht kopieren ließ.
Dabei hätte die schwarz-weiße Fußballgeschichte beinahe trist ausgesehen. Während der Bosnienkrieg (1992-1995) wütete, beschäftigte sich der SK Rapid eingehend mit Osim. "Hätte es keine politischen Probleme gegeben, wäre ich vielleicht zu Rapid gegangen. Ein Manager hat damals erzählt, ich wäre gegen Serben und kein Trainer für Rapid. So wurde das präsentiert. Eine schwierige Geschichte", erinnert sich Osim, dessen Familien-Stammbaum in Wien verwurzelt ist. "Ich war immer neutral. Ich war zwar Vizebürgermeister von Sarajevo, für Politik habe ich mich aber nie interessiert."
Rapids bornierte Entscheidung wurde zum Jahrhundertglück für den SK Sturm. Osim übernahm die Steirer im Jahr 1994, holte zwei Meisterschaften, drei Cup-Titel, zog dreimal in die Gruppenphase der Champions League ein und feierte 2000 sogar den Gruppensieg. "Meine Frau ist mein größter Supporter. Sie sagt immer: Bei Sturm hoffen alle, dass die Mannschaft wie früher spielt. Ich sage das nicht. Mir ist das zu gefährlich", sagt Osim. "Er ist zu bescheiden", winkt Asima ab.
Den SK Sturm von heute beschreibt Osim als "organisiert". "Die Leute müssen sich bewusst werden, was die Spieler können und was sie nicht können. Es gibt keine Kicker, die so talentiert sind wie Ivo (Vastic, Anm.). Oder so schnell wie Mario (Haas, Anm.). Einen neuen Mario suchen sie eigentlich seit damals", sagt er. Einen Jugendspieler hebt er hervor: Luka Maric (17), Nachwuchskeeper bei Sturm. "Ein riesiges Talent. Beidbeinig. Er kann ausputzen und kurz spielen. Luka könnte sogar die Freistöße schießen, so gut ist sein Schuss."
Über "seine" Spieler von damals spricht Osim am liebsten. Er schwärmt davon, dass seine Mannschaft noch immer befreundet ist. Dass sich "Schoppi", Mählich, "Franco", Milanic, Kocijan, "Mario" und "Ivo" heute noch regelmäßig treffen. Osims größte Schwäche als Trainer war vermutlich Gutmütigkeit. Mit Bauchschmerzen legte er sich auf eine Startelf fest, auf die Bank wollte er keinen setzen. Auch ein Grund, warum Osim trotz zahlreicher Offerte bei Sturm blieb.
"Ich hatte Angebote von großen, besseren Vereinen. Ich habe mich immer gefragt: Was mache ich dort? Was kann ich mit solchen Spielern tun? Immer auf den Tisch hauen und schreien geht nicht, dafür sind die Spieler zu gut", sinniert Osim. "Ich habe immer versucht, nicht überheblich zu sein. Wenn Real Madrid auf mich zukommt, sage ich: Bin ich wirklich der, den sie suchen? Bescheidenheit ist wichtig. Man muss zu sich selbst korrekt sein. Natürlich wäre ich gerne Trainer von einer großen Mannschaft, ich könnte jeden Tag von den Spielern lernen. Aber die Frage ist: Was denken die Spieler von mir? ‚Wer ist denn der?' Ich muss mit der Mannschaft normal sprechen können. Hier konnte ich etwa mit Roman (Mählich, Anm.) reden. In Madrid spucken sie mir vielleicht vor die Füße."
In Graz spuckte niemand vor Osims Füße. Auch nicht, als Sturms Gefüge in der Saison 2002/2003 Risse aufwies und sich die Wege nach einer 1:3-Heimniederlage gegen den FC Kärnten trennten. "Heute bin ich der Meinung, dass man eine Mannschaft regelmäßig renovieren muss. Auch für die Zuschauer. Ein aufregender Neuzugang zeigt, dass man lebt. Zuschauer kommen auch für neue Spieler ins Stadion", blickt Osim zurück.
"Am Ende waren wir schon ausgepumpt, fertig. Unsere beiden besten Spieler zu diesem Zeitpunkt - Mählich und Schupp - haben uns gefehlt. Der Deutsche und der Kleine. Sie waren sehr wichtig. Zwei Läufer. Heute sind Wasserträger viel gefragter", beschreibt Osim die Probleme von damals.
"Es tut mir weh, dass wir Mamedov nicht länger hatten. Yuran ist zu spät gekommen. Er war ein Extra-Kicker. Franco (Foda, Anm.) war tot, ständig verletzt. Wir waren kaputt, ausgepumpt, die älteren Spieler zu müde. Wir haben über Jahre zu offensiv gespielt, das kostet Kraft. Roman (Mählich, Anm.) konnte normalerweise laufen wie ein Hund. Er hat mir einmal gesagt: ‚Chef, ich kann nicht mehr.' Ich habe geantwortet: ‚Wenn du nicht mehr kannst, können die anderen auch nicht mehr.'"
Gianninis Ferrari
In den Osim-Jahren liefen bemerkenswerte Spieler in Schwarz-Weiß auf. Osim erinnert sich gerne daran. "Wenn Ivo da war, war es für die Mannschaft viel leichter. Das haben die Spieler erst später verstanden", sagt Osim. "Schoppi hat nach den ersten Spielen in Europa die meisten Angebote gehabt. Er war groß, schnell, kopfballstark, polyvalent, gut im Abschluss. Ich habe gesagt: Du bleibst hier, das ist besser für dich. Da habe ich Druck gemacht."
Doch nicht alle Spieler schrieben unter Osim Erfolgsgeschichten. Auf Giuseppe Giannini angesprochen, muss Osim schmunzeln. Präsident Hannes Kartning holte den 47-fachen italienischen Nationalspieler unter viel Getöse vom AS Rom nach Graz, ein Jahr später verabschiedete sich der Spielmacher wieder.
"Giannini war selbst überrascht, dass es nicht geklappt hat. Er dachte, das wird ein Kinderspiel. Er war ein guter Spieler, das muss ich sagen. Aber schon zu langsam, zu individuell. Technisch war er überragend. Sein Auge auch. Mitspieler haben von ihm im Training gelernt. Beim Trainingsspiel auf das kleine Feld hat immer seine Mannschaft gewonnen. Ein Super-Kicker."
Die Verpflichtung von "Il Principe", wie Giannini in Rom gerufen wurde, verbrannte Zaster, hatte aber auch positive Effekte: "Als er kam, ist Ivo explodiert." Und der Glamour-Faktor in Messendorf stieg in exorbitante Höhen. "Er ist mit seinem Ferrari zum Training gekommen. Die jungen Spieler sind am Parkplatz angestanden. Nicht weil sie ein Autogramm wollten, sondern um zu fragen, ob sie eine Runde mit dem Ferrari drehen dürfen", erinnert sich Osim und grinst.
Goldene Generation
Besondere Spieler trainierte Sturms Jahrhundert-Trainer nicht nur in Graz. Als Teamchef der jugoslawischen Nationalmannschaft verhalf er Kickern wie Dragan Stojkovic, Dejan Savicevic, Zvonimir Boban, Robert Prosinecki oder Davor Suker - damals alle Anfang 20 - zum Stammplatz. Bis der Krieg eskalierte, Bomben auf Sarajevo fielen und Osim zurücktrat. Zehn Tage vor Turnierbeginn wurde Mitfavorit Jugoslawien von der EM 1992 ausgeschlossen. Dänemark rückte nach und holte den Titel.
"Ich hatte viele große Spieler und möchte nicht beurteilen, wer besser war. Einmal habe ich Roman (Mählich, Anm.) gefragt: Wer war dein bester Gegenspieler? Er hat gesagt: Savicevic. An den kam er nicht heran."
Der Strauß und die Giraffe
Ein ausgezeichneter Kicker war auch Osim selbst. "Strauß" wurde er wegen seines eleganten Spiels genannt. Er kickte unter anderem im offensiven Mittelfeld von Racing Straßburg. Die Frage, ob er ein besserer Trainer oder ein besserer Spieler war, will Osim nicht beantworten. "In Straßburg waren alle Spieler schnell. Nur ich war langsam. Ehrlich. Aber sie haben einen Spielmacher gesucht, der die schnellen Spieler einsetzen kann."
Um Osims aktive Karriere ranken sich viele Fabeln. Er habe nie Gelb gesehen, besagt eine. Das stimmt nicht ganz. "Das ist ein Mythos, das muss ich zugeben. Ich habe einmal eine Gelbe Karte bekommen. Wir haben gegen Dinamo Zagreb gespielt. Mit einem Sieg gegen uns hätten sie Meister werden können. Wir hatten eine super Mannschaft. Den Schiedsrichter werde ich nicht vergessen. Mein Kollege wurde vom Gegenspieler gestoßen und hat den Ball mit der Hand gespielt. Der Schiedsrichter, ein Slowene, hat den Stoß nicht gesehen und Elfmeter gepfiffen. Ich habe mit ihm geschimpft und wurde verwarnt", erinnert sich Osim.
Bei Racing Straßburg traf Osim auf Arsene Wenger. "Wir sind gute Freunde", sagt Osim über den Franzosen. "Er hat rechts im Mittelfeld gespielt, war ein technisch guter Wasserträger. Große Schritte wie eine Giraffe, ein korrekter Spieler. Arsene spricht nur von Fußball. Immer und überall, nur Fußball, Fußball." Damals fuhren Osim und Wenger regelmäßig über die deutsche Grenze nach Karlsruhe, um Bundesliga zu schauen. "So waren wir am neuesten Stand und haben erkannt, wie wichtig Standardsituationen und Laufstärke sind."
Osim und Wenger entwickelten ähnliche Spielphilosophien. Ästhetisch, direkt, offensiv. "Arsene hat von seinen Spielern immer verlangt, direkt zu spielen. Ich habe das ähnlich gesehen und direktes Spiel forciert. Nach den Trainings bei Sturm haben mich Zuschauer gefragt, was wir da versuchen. Wir haben Fortschritte gemacht. Später haben sie es verstanden."
Es geht ums Geld
Heute hat sich der Fußball verändert. "Spieler müssen jetzt komplett sein. Läuferisch, taktisch, schnell. Aber besonders läuferisch", sagt Osim. Physis steht im Vordergrund, mit dem FC Liverpool als Fleisch gewordene Maschine an der Spitze. "Die drei Mittelfeldspieler sind so wichtig. Alle polyvalent, alle mit Pferdelungen. Der Fußball fokussiert sich viel mehr auf eins Eins-Gegen-Eins-Duelle als früher."
Das Wort Polyvalenz fällt öfter. "Gute Spieler können überall spielen, Überzahl erzeugen. Hinten aushelfen. Das sind für mich die besten Spieler. Liverpool hat viele solche Spieler. Ich mag besonders Virgil van Dijk. Der beste Verteidiger der Welt! Er verteidigt und macht Tore, was will man mehr." Osim selbst suchte in Graz ähnliche Profile. Wie etwa den defensiven Mittelfeldspieler Andres Fleurquin, der im Jänner 2000 für rund 35 Millionen Schilling aus Uruguay kam. "Es war damals Mode, einen Mittelfeldspieler wie Vieira zu haben. Der groß war, kopfballstark und spielerisch gut."
Die meisten Entwicklungen im Fußball missfallen Osim. Besonders die Kommerzialisierung. "Heute können nur noch reiche Klubs große Erfolge feiern. Sie kaufen die besten Spieler und die besten Trainer und wechseln sie ständig. Ich spüre eine Unzufriedenheit bei den Zuschauern. Es wird so viel Geld investiert, das ist nicht Fußball. Fußball darf nicht sterben. Mittlerweile geht es mehr ums Geld, als um Fußball. Geld gewinnt die Meisterschaft. Darüber muss man langsam beginnen, nachzudenken. Vielleicht Regeln erstellen. Damit es wieder interessanter wird", warnt Osim.
Noch einmal anfangen
Nach etwas weniger als zwei Stunden versucht Asima Osim ihren Mann einzubremsen. "Švabo" (Schwabe), wirft sie mehrfach ein. Freunde und Familie nennen ihn so, aufgrund seiner blonden Haare.
"Ich würde gerne noch einmal von Anfang an beginnen. Ich habe immer am Anfang begonnen. Aber vermutlich wäre es schwerer. Die Trainer sind viel besser als früher. Sie leben anders, sie analysieren anders, sie sprechen anders. Und bevor eine Mannschaft formiert werden kann, werden entweder der Trainer oder die Spieler gewechselt. Das ist nicht gut", sagt er und schielt zu seiner Frau, der es langsam zu bunt wird.
"Švabo. Essen wir hier oder nehmen wir etwas mit?", fragt sie ihn. Er will das Essen mitnehmen. "Heute läuft Fußball."
Ivan Osims Trainer-Karriere im Überblick
Station | Amtsantritt | Amtsaustritt | Punkteschnitt |
Japan | 2006 | 2007 | 2,05 |
JEF United | 2003 | 2006 | 1,73 |
Sturm Graz | 1994 | 2002 | 1,83 |
Panathinaikos | 1992 | 1994 | 2,14 |
Patrizan Belgrad | 1991 | 1992 | unbekannt |
Jugoslawien | 1986 | 1992 | 1,98 |
Zeljeznicar | 1978 | 1986 | unbekannt |