Mehr als 150 Hobbyteams hatten bundesweit an dem einzigartigen Freizeitturnier teilgenommen und sich in einem Pyramidensystem acht Monate lang nach oben gebolzt. Die 32 besten Mannschaften treten diese Woche am Himmelfahrtstag, den 17. Mai 2012, im Millerntor gegeneinander an und spielen den ersten Republikmeister aus: Dem Sieger winkt nicht etwa ein Pokal, sondern eine Sitz(meister)schale, die original von der Gegengeraden stammt.
Die Tribüne war im Juli 1961 als Teil des neuen Millerntorstadions eröffnet worden. Wenig später waren die Stehtraversen aber schon wieder verwaist: Die Stadt Hamburg hatte beim Neubau die Drainage unter dem Rasen vergessen. Monate lang waren die St. Pauli-Spieler und ihre Gegner deswegen durch eine teils knietiefe Matschlandschaft gepflügt und zwar so lange, bis sich Verteidiger Heinz Deininger den Knöchel brach. Danach war endgültig klar, dass der Baupfusch dringend behoben werden musste: Der FC St. Pauli zog für anderthalb Jahre in das Hoheluftstadion des SC Victoria um. Im November 1963 kam es gegen den VfL Wolfsburg schließlich zur Zweiteinweihung.
Eine neuartige Fankultur
Danach tat sich an und auf der Gegengerade herzlich wenig - zumindest architektonisch: Lediglich nach dem Bundesligaaufstieg 1988 kam noch eine als Provisorium gedachte Stahlrohrtribüne mit 2.000 Sitzplätzen und Dach hinzu. Sportlich begaben sich die Kiezkicker hingegen auf eine turbulente Achterbahnfahrt: Schon bald nach dem ersten Bundesligaaufstieg 1977 war der Stadtteilverein pleite und fand sich in der Amateuroberliga wieder.
Der Weg zurück in das Profigeschäft war steinig. Ab Mitte der 80er Jahre kam es wenigstens auf den Stehplätzen zu einer erfrischenden Dynamik: Auf der Gegengerade tummelten sich plötzlich vermehrt Punks, Hausbesetzer und andere Gruppen, die man dem links-alternativen Spektrum zuordnen konnte. Im Frühsommer 1987 hatte ein Punk namens "Doc Mabuse" die spontane Idee, eine Totenkopf-Flagge mit ins Stadion zu nehmen: Mit anderen zusammen wurden selbst schlechte Leistungen der St. Pauli-Elf frenetisch beklatscht und bejubelt: der Millerntor-Rooooar war geboren.
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Fußball, der Proleten- und Hooligansport, wurde mit neuen, bisher unbekannten Werten besetzt: Die Zuschauer sorgten für ein Klima, in dem Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung jeglicher Art nichts mehr zu suchen hatten und in dem man sich selbstironisch und kreativ auch mit kritischen Themen auseinandersetzen konnte: Als beispielsweise ein Heimspiel gegen Hertha BSC 1991 in den Volkspark verlegt wurde, feierten rund 2.000 Fans eine "Radio-Paaadie" auf der Gegengeraden - Flutlicht, leerer Rasen und Übertragung per Telefon inklusive.
Zu diesem Zeitpunkt hatte die Vereinnahmung durch Medien und das "liebe Kommerzmonster" schon längst begonnen: Das Millerntor war zum "Freudenhaus der Liga" geworden. Der Totenkopf zu einer alternativen "corporate identity". Dennoch sind die Graswurzelursprünge bis heute überall spürbar: so haben sich der Verein und seine Fanszene bis heute eine offene und kontroverse Diskussionskultur bewahrt.
Ein futuristischer Wellenentwurf für die neue Gegengerade konnte sich zuletzt zum Beispiel nicht durchsetzen: Denn der Ort, an dem alles begann, ist seit dem letzten Heimspiel der abgelaufenen Spielzeit (5:0 gegen den SC Paderborn) Geschichte. Die Spiele beim Finale der Republik Meisterschaft werden die ersten sein ohne die legendäre Tribüne: Die Hobbyteams hoffen dennoch auf Unterstützung: Von der Südtribüne aus könnt Ihr ab 10.30 Uhr den Finalisten zujubeln. Der Eintritt ist frei, für das leibliche Wohl bestens gesorgt.
Alles zum Finale der Republik Meisterschaft
Michael Pahl schrieb zusammen mit Christoph Nagel die Bücher "FC St. Pauli. Das Buch" und "FC St. Pauli. Alles drin", aus denen die Infos für den Text stammen.