Das 1:2 der deutschen Nationalmannschaft gegen Kanada war noch keine zwei Stunden alt, da postete der internationale Eishockey-Verband IIHF auf Twitter ein aktuelles WM-Power-Ranking. Der Platz an der Sonne gehörte Russland, Deutschland landete - übrigens passend zur neuen Weltranglistenposition - auf Rang acht. Der Kommentar dahinter lautete: "Marco, im dritten Drittel, warum hast du dich nicht selbst eingewechselt?"
Der Bundestrainer ist mittlerweile seit vier Jahren nicht mehr aktiv - fraglich, ob er das Ruder gegen die abgezockten Kanadier noch hätte herumreißen können. Wie die sprichwörtliche Axt im Walde ließen deren Abwehrspieler deutsche Angriffe schon im Ansatz zersplittern und selbst in Unterzahl kein geordnetes Powerplay des Gegners zu. Ganze acht Abschlüsse in den ersten 40 Minuten auf Goalie Calvin Pickard? Das ist schon absolute Weltklasse.
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Ein aktiver Marco Sturm hätte dem DEB-Team aber freilich gut zu Gesicht gestanden in dieser Phase. Nicht umsonst hat der Left Winger in seiner NHL-Karriere in 938 Spielen 487 Scorerpunkte markiert. Vielleicht hätte er einen Weg durch Defensive des Titelverteidigers gefunden, die sein Team selten gefährden und nur einmal per Breakaway in Unterzahl in Person von Yannic Seidenberg überwinden konnte.
"Hervorragend gekämpft"
So blieb dem Bundestrainer nur der Glückwunsch an einen übermächtigen Gegner, der am Samstag im vorgezogenen Finale gegen Rekord-Weltmeister Russland antreten muss. Glückwünsche gab es aber auch ans eigene Team: "Die Jungs haben Moral gezeigt und haben sich toll zurückgekämpft." Das sah DEB-Präsident Franz Reindl ähnlich: "Wir können unheimlich stolz auf diese Mannschaft sein. Sie hat alles in die Waagschale geworfen und hervorragend gekämpft gegen einen absoluten Hochkaräter im Eishockey."
In der Tat hatte man es dem Mutterland des Eishockeys, das auf ein über 20 Mal so großes Kontingent an aktiven Spielern zurückgreifen kann, nicht leicht gemacht. Natürlich dominierten die Ahornblätter so ziemlich jede Statistik, darunter 50:20 Torschüsse, aber taktische Fehler oder hergeschenkte Konter hielten sich in Grenzen: Sturm hatte sein Team defensiv gut eingestellt, der hervorragend haltende Philipp Grubauer tat sein Übriges. 15 Tore hatte Kanada in den letzten beiden Duellen verzeichnet, diesmal musste der Favorit richtig ackern.
Ein Schritt ist gemacht
Trotzdem ist die WM für den Gastgeber damit vorbei, die Halbfinal-Sensation wie 2010 blieb aus. Und so wurde nach dem Spiel bereits vorsichtig Bilanz gezogen. Das Urteil fiel einstimmig aus: Die Heim-WM 2017 war ein Erfolg. "Ich bin sehr zufrieden mit der Mannschaft. Wir sind im Laufe des Turniers den nächsten Schritt gegangen", erklärte Sturm, auch Yannic Seidenberg zeigte sich stolz: "Wir haben unser, Ziel, das Viertelfinale, erreicht." Und Kapitän Christian Ehrhoff hätte "gern einen weiteren Schritt nach vorn gemacht", hatte aber "Werbung für das Eishockey" gesehen.
Das hatten auch die 16.653 Zuschauer - überraschenderweise war die Arena gegen den größten Namen im Eishockey nicht ganz ausverkauft. An der Stimmung war jedoch wie über die gesamte WM nicht zu rütteln: Die Welle, "Grubauer"-Sprechchöre, fanatische Anfeuerung in der Schlussphase. "Die Stimmung war bombastisch", lobte Grubauer, der solche Athmosphären ja aus der NHL kennt.
Wie nun den "Schwung mitnehmen"?
Die Frage ist nun, wie man diese Zuschauer, wie auch die Millionen vor dem Fernsehbildschirm und Online-Streams bei der Stange hält. Es ist das altbekannte Phänomen eines erfolgreichen (Heim-)Turniers: darauf aufbauen, Euphorie entfachen, den "Schwung mitnehmen", im Gespräch bleiben.
Man muss ehrlich sein: Das wird schwer. Oder erinnert sich noch jemand an den Schwung der Basketball-EM in Berlin? Im Schatten des allmächtigen "König Fußball" müssen sich die übrigen Sportarten um die Brotkrumen streiten, die vom Tisch fallen. Da hilft eigentlich nur Erfolg - und selbst der nur temporär. Ist von der Euphorie der "Bad Boys"-Handball-Europameister wirklich noch viel übrig?
Die gute Nachricht ist: Der Verband hat seine Hausaufgaben gemacht. Die Voraussetzungen dafür, den Erfolg dieser Heim-WM zu wiederholen, sind da, Platz acht in der Welt kein Zufall.
Reindl und Sturm als Architekten des Erfolgs
Das fängt mit DEB-Präsident Franz Reindl an, der nach dem Chaos um Uwe Krupp 2011 und dem anschließenden sportlichen Niedergang (gekrönt mit der verpassten Olympia-Qualifikation für 2014) Ordnung in den Verband gebracht hat. Und der kann angesichts der finanziell erfolgreichen WM nun sogar ein bisschen Geld ausgeben. "Wenn wir Gewinn machen, wird das Geld für die Zukunft verwendet", hatte der vor WM-Beginn versprochen.
Nun wartet auf den schuldenfreien DEB eine siebenstellige Summe, denn die kalkulierten 600.000 Zuschauer hat man locker überboten: Fast 700.000 könnten es am Ende werden. Mit diesem Geld soll vor allem langfristig gefördert werden, um den nächsten Tiffels oder gar Draisaitl zu finden.
Mit Marco Sturm hat Reindl zudem dem perfekten Bundestrainer eine Chance gegeben: Ins kalte Wasser geworfen hatte er Sturm nicht lange nach dessen Karriereende, und das Experiment glückte: Auch Sturm ist der Grund dafür, dass sich die wenigen deutschen NHL-Profis nach Saisonende in den nächsten Flieger setzen, um ihre Farben zu vertreten. Die Leon Draisaitls und Philipp Grubauers dieser Welt fühlen sich bei ihm verstanden, sie spielen auch für ihn. "Dass die Spieler eine professionelle Umgebung haben, ist auch Marcos Handschrift", lobte Reindl. "Wie die Spieler vorbereitet werden, ist schon höchst professionell. Er hat alles auf ein Topniveau gehoben."
Nächster Schritt bei Olympia?
Sturm hat trotz seiner Unerfahrenheit sportlichen Erfolg geliefert und auch die Erwartungshaltungen in der Öffentlichkeit geschickt gesteuert. Kein Wunder, dass Reindl mit ihm weitermachen will, und das langfristig. "Wir werden uns im Sommer oder im Herbst zusammensetzen, wenn sich alles beruhigt hat. Es gibt keinen Zweifel, dass man verlängert."
Dessen Vertrag läuft noch bis zur nächsten WM im Mai 2018 in Dänemark, zuvor stehen im Februar die Olympischen Spiele in Pyeongchang an. Stand jetzt ohne NHL-Stars, Vorrundengegner sind Schweden, Finnland und Norwegen, also auf jeden Fall ein WM-Finalist. Ziel muss für den DEB erneut das Viertelfinale sein. Kein Wunder, dass Sturm an einen neuen Vertrag noch keinen Gedanken verschwendet hat.
Das langfristige Ziel ist durchaus ambitioniert: 2026 will sich der DEB nicht mehr nur wacker gegen Kanadier, Amerikaner und Russen schlagen, sondern selbst um Medaillen mitspielen.
Aber wie heißt es so schön: Auch der längste Weg beginnt mit dem ersten Schritt.