"Man hört, da gibt's so viele Boxenluder..."

Von Red Bulletin
Weltmeister Sebastian Vettel trifft Formel-1-Legende Niki Lauda
© Red Bulletin

Niki Lauda mit Sebastian Vettel über die Magie der Nummer eins, die Tests zur Steinzeit und im Simulator, den Irrwitz der frühen Jahre und die dünne Luft vor der frischen Saison. Und sag mal, übrigens: Boxenluder, hat's die wirklich gegeben? Das große Doppel-Interview auf SPOX in Kooperation mit dem Red Bulletin.

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Red Bulletin: Niki, wie viele Einträge findet man, wenn man Dich im Internet sucht?

Niki Lauda: Keine Ahnung, ich habe noch nie gegoogelt.

Red Bulletin: Schätze einmal.

Lauda: Ich kann's nicht sagen. Vielleicht fünftausend?

Red Bulletin: Ziemlich falsch. Drei Millionen. Und, Sebastian, was schätzt Du für dich?

Vettel: Na ja, wenn er drei Millionen hat, dann sollte ich vier Millionen haben (lacht).

Red Bulletin: Ebenfalls ziemlich daneben. Bis zu 18 Millionen, aber man muss sagen, dass die Suchmaschinen ganz schönen Formschwankungen unterliegen und beim nächsten Mal wieder ein paar Millionen weniger ausspucken...

Vettel: ...viel entscheidender ist doch ohnehin, was bei der Frage nach den Weltmeister-Titeln rauskommt. Da steht's 3:1 für den Niki, aber ich hab da ja auch noch ein bisschen Zeit, nachzulegen...

Lauda: ...genau: wo war ich denn im jetzigen Alter von Sebastian?

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Red Bulletin: Mit 23 warst Du bei March, eine Gurke, null Punkte. Dann BRM, eine noch ärgere Gurke, Platz 17 in der WM. Aber Du bist immerhin dem Herrn Enzo Ferrari so erfreulich aufgefallen, dass er Dich fürs nächste Jahr engagiert hat. Und dann ging's ja...

Vettel: Und wie. Niki, Du warst drei Jahre mit der Startnummer eins unterwegs, für mich ist es eine Premiere. Hast Du den Einser eher als Guthaben oder als Bürde empfunden?

Lauda: Einen besseren Anfang einer Saison gibt es doch gar nicht. Sebastian, Du kommst als Nummer eins, und jeder sieht: Hier kommt der Beste. Alle anderen müssen Dich jetzt jagen, um Dir das wieder wegzunehmen. Ich kann die Startnummer eins nur positiv sehen. Warum hast Du überhaupt Zweifel?

Vettel: Ich hab keine Zweifel, ich will bloß nicht das Gefühl aufkommen lassen: "Wenn es letztes Jahr geklappt hat, wird es diesmal ja wieder klappen". Dafür will ich die Nummer eins nicht als Symbol sehen. Wenn ich es bloß so mache wie in der abgelaufenen Saison, dann geht es schief. Alles, was letztes Jahr war, war letztes Jahr. Das ist abgehakt. Beim ersten Rennen geht es bei null los, egal ob ich die Nummer eins am Auto habe oder die 24 oder 25 - alle haben am Anfang gleich viel Punkte. Es sind mittlerweile 19 Rennen - eigentlich sogar 20. Es ist ein sehr, sehr langes Jahr. Es wird also wieder extrem hart. Ich muss besser werden, um sicherzugehen, dass mir die Nummer eins auf dem Auto bleibt.

Lauda: Das mag schon richtig sein. Aber diese "#1" gibt Dir zumindest im Unterbewusstsein einen Vorteil gegenüber Deinem Stallkollegen. Ich glaube, dass es für Mark Webber schwer werden wird, jetzt wieder frisch anzufangen und sich von der Nummer zwei nach vorne zu kämpfen, irgendwie nimmt man die Ziffern ja doch als Symbole wahr.

Red Bulletin: Übrigens, Sebastian, hast Du dem Niki übelgenommen, dass er voriges Jahr vor Saisonende nicht mehr an Dich geglaubt hat? "Er hat keine Chance mehr. Wie soll das funktionieren? Selbst wenn Vettel gewinnen sollte, lösen sich die anderen ja nicht in Luft auf", hat Niki damals gesagt.

Lauda: Moment. Davor muss ich aber schon sagen, dass ich die ganze Saison sehr wohl an Sebastian geglaubt habe. Nur wie sich das am Ende ausgehen sollte, das hab ich nicht kapiert. Ich hatte die tapferen Renaults nicht auf meiner Liste und natürlich auch nicht, dass Ferrari es vergeigen könnte. Insofern falsche Einschätzung von mir, klar.

Vettel: Ich hab das ja damals gar nicht mitgekriegt, dass Du anscheinend die Hoffnung aufgegeben hattest. Ich hab immer noch dran geglaubt, aber es war Nikis gutes Recht, anderer Meinung zu sein. Er ist ja dafür bekannt, dass er seine Meinung hat und sie vertritt.

Red Bulletin: Lasst uns über Technik reden. Niki, Du giltst ja als erster Formel-1-Fahrer, der sich wirklich ernsthaft mit den technischen Möglichkeiten des Autos auseinandergesetzt hat. Eigentlich war's Steinzeit, wenn man die Tiefe der Ressourcen mit heute vergleicht.

Lauda: Unser Problem war, dass es vom Auto selbst keine Daten gegeben hat, keine Art von Datenaufzeichnung. Daher kamen alle unsere "Testergebnisse" nur von meinem Hintern oder vom Gefühl, was meist dasselbe bedeutet hat. Es gab genügend Verstellmöglichkeiten am Auto, an den Aufhängungen und an den Flügeln, aber man musste erst einmal System in die Sache bringen und unzählige Testrunden fahren, bis es an der Stoppuhr eine halbwegs verlässliche Auswertung der "Gefühle" gab.

Vettel: Einen Simulator hättest Du Dir damals nicht einmal vorstellen können, oder?

Lauda: Das wäre pure Science-Fiction gewesen. Sebastian, wie sehr bist Du eigentlich auf den Simulator angewiesen? Ich höre, dass manchen Fahrern schlecht wird, aber das geht manchen Piloten im Flugsimulator genauso.

Vettel: Im Simulator sitzt man ja wie in einem Auto drin und hat einen riesigen Bildschirm vor sich, dazu ruckelt das Auto, um die Bewegungen zu simulieren, und wenn die nicht hundertprozentig so passen, wie sie in echt sind, oder wenn das einfach hier und da verzögert ist oder sich ein bisschen zu viel oder falsch bewegt oder neigt, dann wird einem mulmig. Was mich betrifft, ich hab mich dran gewöhnt.

Lauda: Wie hoch ist der Stellenwert des Simulators für die Fahrtechnik?

Vettel: Gerade vor Saisonbeginn nutzt man die Zeit, weil die echten Tests ja so beschränkt sind. Es ist für uns die einzige Möglichkeit, schon in den Rhythmus zu kommen, was die Bewegungsabläufe angeht, wir haben jetzt wieder ein paar Knöpfe mehr auf dem Lenkrad. Anderseits kann man damit auch tatsächlich trainieren. Der Ablauf kommt dem auf der Strecke schon sehr nah. Gerade um neue Strecken kennenzulernen, ist der Simulator heute unersetzbar. Man kommt dann auf die echte Strecke und weiß genau, was zu tun ist. Man braucht dann bloß noch zwei oder drei Runden, um die Feinheiten auszumachen.

Lauda: Was bringt's für die Abstimmung?

Vettel: Das ist eben die Frage, wie gut dann der Simulator wirklich ist. Es hängt von so vielen Faktoren ab, allein wie man die Strecke in den Simulator packt, ob jede Bodenwelle stimmt, das Gefälle und so weiter, ob das Auto dann ebenso reagiert wie in echt. Wenn man dann wirklich sagt: Stabi rauf und Stabi runter, ein bisschen härter, ein bisschen weicher, oder die Flügeleinstellung ein bisschen verändert ...das trifft dann meistens schon den Punkt. Man kann vom Set-up her manche Dinge von vornherein aussortieren.

Lauda: Aber der beste Simulator kann nicht die Kräfte darstellen, die dann tatsächlich auf dich einwirken werden. Und Fitnesstrainer ist er natürlich auch keiner ...

Vettel: Das Fehlen der Kräfte ist ein wesentlicher Unterschied zum richtigen Leben ... Na ja, vielleicht ist es gut so, sonst könnten wir gleich auf Simulatoren gegeneinander fahren.

Red Bulletin: Trotz technischen Fortschritts, Medienhypes und Geldexplosion - der größte Unterschied in der Formel 1 zwischen heute und der Lauda-Zeit, vor gut einem Vierteljahrhundert, liegt aber doch in der Sicherheit, oder?

Lauda: Ich bin zu einer Zeit aufgewachsen, als die Autos auch schon 300 Stundenkilometer fuhren, manchmal aber eben drei Meter neben den Bäumen. Da musste man damit rechnen, dass am Ende einer Saison zwei aus dem engeren Kreis der Formel 1 nicht mehr am Leben sein würden. Aber jeder, der diesen Sport betrieb, kannte die Voraussetzungen. Will ich das Risiko eingehen - ja oder nein? Und die Antwort war: Klar! Wir hatten Freude an der Beherrschung des Autos und wollten daraus einen Job machen, trotz allem. So haben wir versucht, an die Grenzen zu gehen, dabei aber noch jene paar Zentimeter Platz zu lassen, damit wir am Leben bleiben. Vettel ist ganz anders aufgewachsen. Gott sei Dank hat sich die Formel 1 dorthin entwickelt, wo sie heute ist.

Vettel: Es ist normal, dass sich jeder Sport entwickelt. So gefährlich zum Beispiel der Skisport heute noch immer ist - aber vor vierzig Jahren hatten sie nicht einmal einen Fangzaun. Wir brauchen nicht darüber zu reden, dass Motorsport noch immer gefährlich ist und dass immer etwas passieren kann - aber wir müssen die latente Lebensgefahr nicht dauernd einplanen. Mir wäre der Gedanke unerträglich, bei einer Fahrerbesprechung das Gefühl zu haben, am Ende der Saison könnten es zwei weniger sein. Das gemeinsame Wissen um die Gefahr hat die damalige Zeit geprägt und die Fahrer viel stärker zusammengeschweißt, als es heute der Fall ist. Aber niemand vermisst das Gefühl, dass ein simpler technischer Defekt ein Menschenleben auslöschen könnte. Ich denke da zum Beispiel an den Unfall von Jochen Rindt 1970. Bei heutigen Sicherheitsstandards wäre er nach einem solchen unverschuldeten Crash bloß verärgert an die Box zurückmarschiert.

Red Bulletin: Viele Zuschauer nennen die heutige Formel 1 langweilig.

Vettel: Auch wenn die Formel 1 heute manchmal steril wirken mag und wenn es undenkbar ist, dass ein paar Fahrer am Abend vor dem Start bei einem Bier zusammensitzen - an der Essenz des Sports hat sich nichts geändert: Ein Auto an der Grenze zu bewegen. Wenn uns heute die paar Zentimeter Luft ausgehen, von denen Niki gesprochen hat, und es trotzdem keine fatalen Folgen gibt, Gott sei Dank. Aber zu oft darf man diese Gnade ohnedies nicht in Anspruch nehmen: Wer öfter mal irgendwo gegen fährt, ist in der Endabrechnung ohnehin nicht vorne dabei.

Teil II: Urlaub mit Bernie und Boxenluder auf dem Zimmer

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