Man kann auch alles übertreiben

Von Alexander Mey
Die beiden Red-Bull-Piloten absolvierten in Istanbul gemeinsam acht Boxenstopps
© Getty

Der Türkei-GP war ein Rennen für die Geschichtsbücher. Eine Vierstopp-Strategie hat es nämlich noch nie gegeben. Bietet Pirelli zu viel des Chaos? Sebastian Vettel ficht das nicht an, er gewinnt weiter. Mark Webber ist genervt.

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Ob sich Sebastian Vettel den Türkei-GP mittlerweile im Fernsehen angeschaut hat? Er hatte es nach seinem dominanten Sieg jedenfalls vor. Denn an der Spitze hatte er nichts von den Turbulenzen mitbekommen, die sich hinter ihm abgespielt haben.

80 Reifenwechsel könnte Vettel zählen, wenn er sich die Mühe machen würde, inklusive der eigenen vier. Wie die meisten anderen Piloten setzte auch der Weltmeister auf eine Vierstopp-Strategie, ein Novum in der Formel-1-Geschichte.

Michael Schumacher und Ross Brawn haben dieses Kunststück 2004 einmal in Magny-Cours vollbracht, damals allerdings aus einer spontanen Überlegung heraus. Diesmal war alles Berechnung - zumindest der Strategen, denn die Fahrer kamen irgendwann nicht mehr mit.

Rosberg: "Ich habe gar nichts verstanden"

"Ich muss gestehen, ich weiß gar nicht, wie viele Boxenstopps ich gemacht habe", sagte Schumacher nach dem Rennen. Kleiner Tipp: Es waren auch bei ihm vier, wenngleich der erste kein Reifen- sondern ein Flügelwechsel war, nachdem er mit Witali Petrow kollidiert war und damit sein Rennen schon nach zwei Runden zerstört hatte.

Mit seiner Verwirrung über den Rennverlauf war er aber nicht der einzige. Mercedes-Kollege Nico Rosberg sagte: "Ich habe gar nichts verstanden. Ich wusste nicht, wo ich bin, gegen wen ich kämpfe, wie viele Stopps ich mache. Wir müssen aufpassen, dass das Durcheinander nicht zu groß wird."

Pirelli bringt extraharte Reifen mit nach Barcelona

Das Durcheinander hatte einen Grund. In der Türkei werden die Reifen so stark beansprucht wie nirgendwo sonst. Entsprechend stark war der Verschleiß der Pirelli-Pneus.

"Der Türkei-GP war definitiv am oberen Limit des Bereichs, in dem wir arbeiten", gestand Pirelli-Motorsportchef Paul Hembery. Im Wissen darum erwägt Pirelli beim kommenden Rennen in Barcelona, ebenfalls eine Reifen mordende Strecke, die bereits in einigen Trainings getestete extraharte Mischung einzusetzen.

"Wir haben die Teams bereits informiert, dass wir diese Mischung nach Barcelona mitnehmen möchten", sagte Hembery. "Der Reifen kommt langsamer auf Temperatur und hat etwas weniger Peak-Performance, dafür verschleißt er aber weniger schnell. Auf einen Stint gesehen wird er erheblich schneller sein."

Es darf nicht zu unübersichtlich werden

Wahrscheinlich eine gute Lösung für den Spanien-GP, denn in Istanbul hat man gesehen, dass Vierstopp-Rennen so unübersichtlich sind, dass dem Zuschauer der Spaß an der Action fast schon wieder verloren geht, weil er keinen Überblick über das große Ganze hat.

Nach Barcelona sollten die Zeiten der Extrem-Rennen für die Reifen und damit auch der extrem häufigen Boxenstopps vorbei sein. Es folgen nämlich Monaco, Kanada, Valencia und Silverstone. Erst in England wird Pirelli wieder auf die Mischungen hard und soft zurückgreifen, vorher kommen die Mischungen medium (Valencia), soft und supersoft zum Einsatz. Das gab Pirelli am Sonntag bekannt.

Red Bull hat Vorsprung gehalten

Abseits der Diskussion um die Reifen ergab der Türkei-GP auch ein interessantes Bild über das Kräfteverhältnis der Top-Teams nach der dreiwöchigen Pause.

Über allen anderen thront Red Bull, die ihren Vorsprung aus den Übersee-Rennen mindestens gehalten haben. Der Doppelsieg von Istanbul war die logische Folge, für die Bosse aber dennoch etwas Besonderes. "Damit ist 2010 vergessen", sagte Motorsportchef Helmut Marko zum Beispiel.

Er meinte den Crash zwischen Vettel und Teamkollege Mark Webber, der Red Bull damals den Doppelsieg kostete. Aber ist die Fehde zwischen den beiden wirklich ausgestanden?

Webber verliert die Nerven

Wohl kaum, wenn man Beobachtungen einiger Journalisten in Istanbul glaubt. Denn nach dem Qualifying soll Webber ausgerastet sein, als Rosberg mit Vettel über den Start scherzte und meinte, er könnte ja Webber direkt überholen - was im Übrigen genau so passiert ist.

"Jetzt bleibt mal ernst", soll Webber Rosberg angefaucht haben. Danach sagte er in Richtung der anwesenden Journalisten: "Und ihr haltet auch den Mund!" Hört sich nicht danach an, als sei sein Verhältnis zum überlegenen Vettel intakt. Im offiziellen Statement gab Webber zu: "Sebastian ist im Moment in Bestform."

Tatsache ist, dass Webber als Dritter in der Fahrerwertung auf den Mann, der das gleiche Auto zur Verfügung hat wie er, nach nur vier Rennen schon 38 Punkte Rückstand hat. Da kann man schon mal die Nerven verlieren.

Ferrari und Mercedes haben McLaren eingeholt

Vier Punkte vor Webber, also 34 hinter Vettel, bleibt Lewis Hamilton auf Rang zwei der Fahrer-WM, auch wenn sein vierten Platz in Istanbul ganz sicher kein Wunschergebnis war. "Dieses Wochenende war frustrierend und wirft uns ein Stück zurück. Wir haben alle Hände voll zu tun, das wieder aufzuholen", sagte Teamchef Martin Whitmarsh und verwies auf die für Barcelona geplanten Updates, die McLaren in Istanbul definitiv gefehlt haben.

Denn Ferrari und Mercedes haben aufgeschlossen. Mercedes vor allem im Qualifying, Ferrari dafür im Rennen. Fernando Alonso war der einzige Fahrer, der über 58 Runden den Red-Bull-, oder sagen wir lieber den Webber-Speed, mitgehen konnte.

Entsprechend zufrieden waren die Roten mit ihrer Vorstellung nach dem enttäuschenden Saisonstart. "Platz drei ist für uns nicht unbedingt ein Grund zu feiern, aber ich bin trotzdem glücklich, dass wir gezeigt haben, dass wir einen Schritt nach vorne gemacht haben", sagte Teamchef Stefano Domencali.

Haug: Die Kirche im Dorf lassen

Mercedes baute im Rennen zwar deutlich ab, aber Motorsportchef Norbert Haug warb bei allen eventuell enttäuschten Fans dafür, die Kirche im Dorf zu lassen. "Wer annimmt, dass man innerhalb von sechs Wochen aus dem Mittelfeld an die Spitze fährt, hat nichts verstanden", sagte er. "Wir müssen uns schrittweise verbessern, das haben wir definitiv getan. Vettel, Webber, Alonso und Hamilton waren für uns nicht zu schlagen."

Vielleicht ändert sich das ja schon in zwei Wochen in Barcelona. Immerhin ist Schumacher dort bei den Wintertests die schnellste Zeit von allen gefahren.

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