Überflieger mit dem Mut zur Lücke

Von Dominik Geißler
Verstappen fuhr beim USA-GP auf den vierten Rang
© getty

Vor der Saison 2015 als großes Sicherheitsrisiko für die Formel 1 kritisiert, zeigt Max Verstappen immer häufiger, was die Königsklasse des Motorsports an ihm hat. Der 18-Jährige überzeugt mit spektakulären Überholmanövern und knallharter Durchsetzungskraft. Obwohl er noch Schwächen aufweist, scheint ihm eine glorreiche Zukunft sicher.

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Es war die 32. Runde, als Max Verstappen für den Höhepunkt des Großen Preises von Brasilien sorgte.

Auf der Start-Ziel-Geraden saugte er sich im Windschatten an Sergio Perez heran, setzte sich beim Anbremsen zur ersten Kurve außen neben den Mexikaner und quetschte sich im Senna-S gnadenlos vorbei.

Das Manöver hatte sich der 18-Jährige bei Kimi Räikkönen und Michael Schumacher abgeschaut. 2012 überholte der Finne den Rekord-Weltmeister auf die identische Art und Weise.

"Ich dachte, das sieht nett aus - und dann hatte ich die Möglichkeit, es zu tun", verriet Verstappen sein Erfolgsrezept nach dem Rennen.

Kritiker zum Schweigen gebracht

Auch wenn er auf die Fairness von Perez vertrauen musste, zeigt die Aktion, wie überlegt der Youngster die meisten Attacken setzt. Mit seinen Manövern verzückt Verstappen nicht nur regelmäßig die Zuschauer, er hat auch seine anfänglichen Kritiker eines Besseren belehrt.

"Er ist zu jung, denn in der Formel 1 ist das Risiko hoch", drückte etwa Doppel-Weltmeister Mika Häkkinen seine Bedenken vor der Saison aus. Jacques Villeneuve sprach gar von einer Gefahr für die Formel 1. Die Serie sei kein Kindergarten, polterte der Ex-Champion nach Toro Rossos Bekanntgabe über die Verpflichtung des Teenagers.

Dass Verstappen den Kinderschuhen aber längst entwachsen ist, zeigte die bisherige Saison zu Genüge. In der Fahrerwertung liegt der Niederländer ein Rennen vor Schluss mit 49 Punkten auf Platz zwölf - mit nur drei Zählern Rückstand auf den Zehntplatzierten Nico Hülkenberg.

Darüber hinaus beweist Verstappen schon jetzt eine erstaunliche Konstanz: In den letzten sechs Grand Prix fuhr er als einziger Fahrer im Feld immer in die Top Ten - Rekord für Toro Rosso.

Anspruch auf die Eins

Zudem hat Verstappen 31 Punkte mehr als sein Teamkollege Carlos Sainz jr. gesammelt. Dass der ehrgeizige Junge den Rang des Nummer-1-Fahrers bei Toro Rosso wie selbstverständlich für sich beansprucht, musste der Spanier leidvoll erfahren.

Das beste Beispiel: der Große Preis von Singapur. In den letzten Runden des Rennens wurde Verstappen mehrfach vom Team aufgefordert, den direkt hinter ihm und mit frischeren Reifen ausgestatteten Sainz vorbeizulassen, damit dieser den davorliegenden Perez hätte attackieren können.

Doch Verstappen, der zuvor eine Aufholjagd vom letzten auf den achten Platz abgeliefert hatte, sträubte sich gegen die Anweisungen der Ingenieure und antwortete mit einem deutlichen "No!". Das Ignorieren der Teamorder sorgte zwar für viel Aufregung, Konsequenzen hatte es aber keine.

Mut zur Lücke

Dieselbe Durchsetzungskraft, die Verstappen gegen Sainz zeigte, offenbarte er auch bei diversen Überholmanövern. Ob es die Attacke gegen Perez in Sao Paulo, das Rad-an-Rad-Duell gegen Felipe Nasr durch die Highspeed-Kurve Blanchimont in Spa oder der Kampf gegen Jenson Button durch die enge Schikane in Monza war, stets bewies der Junge, der erst seit rund eineinhalb Jahren Autorennen fährt, ein beinahe unglaubliches Gespür für noch so kleine Lücken, in die er dann voller Mut und Selbstvertrauen hineinstach.

"Ich glaube, hier ist ein kommender Weltmeister am Werk. Genau solche Überholmanöver, dieser Instinkt, das hebt ihn von anderen Talenten ab", lobte der Sky-Sports-Experte und frühere Formel-1-Fahrer Martin Brundle nach dem Brasilien-GP.

Videospiele als Training

Doch Mut und Aggressivität sind nicht alles. Zusätzlich beweist Verstappen schon jetzt eine große Raffinesse. In Monaco etwa überholte der Rookie im Schatten des überrundenden Sebastian Vettel den platzmachenden Valtteri Bottas mit einer abgebrühten Cleverness, die selbst den Finnen überraschte.

Das Besondere an Verstappen: Er fährt an seinen Gegnern nicht ausschließlich dank DRS auf den Geraden vorbei, er überholt sie fast immer in den Kurven. Dabei strahlt er eine Erfahrung aus, die eines alten Hasen gleicht. Mit dem Unterschied, dass sich der Jungspund die Vorteile seiner Generation zu Nutze macht.

So probte Verstappen seine Angriffe des Öfteren in einem Computerspiel. "Solche Manöver zu simulieren ist gut, denn dann weißt du, wie viel Platz du dort hast. Außerdem gehst du im Sim-Rennen manchmal über deine Grenzen. Dann weißt du, dass du das im echten Rennen nicht machen kannst", verriet der Sohn von Michael Schumacher ehemaligem Teamkollegen Jos Verstappen.

Auf einer Stufe mit Senna und Schumi

Wenn auch einige Experten Zweifel am Nutzen solcher Trainingsmethoden äußern, die Formel-1-Welt ist voll des Lobes für den Kartweltmeister von 2013.

"Er ist vergleichbar mit den jungen Ayrton Senna und Michael Schumacher. Er steht noch am Anfang seiner Karriere und ist bereits so gut", stellt ihn Ex-Teamchef Eddie Jordan auf eine Stufe mit zwei Legenden.

Auch Sebastian Vettel zollt dem Youngster schon jetzt großen Respekt. "Ich bin mir sicher, dass er uns - der älteren Generation - sehr viel Kopfzerbrechen bereiten wird", prophezeit der Heppenheimer: "Er ist einer von denen, die in der Zukunft oben stehen werden. Durch sein Alter hat er noch eine Menge Zeit."

Supertalent mit Schwächen

Doch ungeachtet der vielen Lobpreisungen zeigte die bisherige Saison auch: Verstappen ist nicht perfekt und offenbarte an mehreren Rennwochenende Schwächen.

Viel Kritik verschaffte ihm der Crash mit Romain Grosjean beim Monaco-GP. Beim Anbremsen der Sainte Devote verzögerte Verstappen deutlich zu spät, fuhr dem Franzosen hinten auf und knallte mit hohem Tempo in die Sicherheitsabsperrung. Verstappens Aktion sei viel zu risikoreich gewesen, hieß es anschließend.

Auch die harte Fahrweise gegen Räikkönen während des Rennens in Austin, in dem der Teenie mit Platz 4 sein bis hierhin bestes Formel-1-Ergebnis einstellte, sorgte nach der Beschwerde des Iceman für Diskussionen.

Neben der manchmal etwas übermütigen Fahrweise ist Verstappens größte Schwäche wohl im Qualifying zu finden. Zu oft bekam er gegenüber Sainz jr. seinen eigentlichen vorhandenen Speed nicht auf eine Runde zusammen.

Stier, Pferd oder Silberpfeil?

Und doch steht Verstappen eine große Zukunft bevor. "Max macht einen hervorragenden Job und wird uns in ein bis zwei Jahren Kopfzerbrechen bereiten", sagte Red-Bull-Teamchef Christian Horner im September in Anspielung auf eine mögliche Beförderung ins A-Team, in dem mit Daniel Ricciardo und Daniil Kvyat bereits zwei Talente unter Vertrag stehen.

Wird der österreichische Rennstall seinem größten Talent seit Sebastian Vettel den Aufstieg in den kommenden Jahren verwehren, dürften Mercedes und Ferrari erneut bei Verstappen anklopfen. Die Stuttgarter wollten ihn bereits 2014 verpflichten, Ferrari wurde im Sommer ernsthaftes Interesse nachgesagt. Verstappen gilt als einer der Top-Kandidaten auf die Nachfolge von Räikkönen.

Unabhängig davon, wo der Überflieger in ein paar Jahren fahren wird: Die Formel-1-Fans dürfen sich wohl noch lange an Überholmanövern wie gegen Perez und Co. erfreuen.

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