2008, 2014, 2015, 2016, 2017 - das sind die vielen Jahre, in denen Lewis Hamilton bei seinem Heim-GP ganz oben auf dem Siegerpodest stand. Mit dem dicken Pokal in der Hand, einem breiten Grinsen im Gesicht und dem obligatorischen Dank an die "besten Fans der Welt".
2018 sollte der fünfte Triumph in Serie und der sechste insgesamt auf dem Silverstone Circuit folgen. Mit einer Qualifikation, die den einzigen Engländer im Feld ganz vorne sah, waren die Voraussetzungen dafür auch gegeben. Allerdings: Hamilton verpatzte den Start, wurde wenige Sekunden später von Kimi Räikkönen abgeschossen, fiel zurück, kämpfte sich zurück und wurde am Ende nur Zweiter. "Nur" Zweiter, muss man sagen, weil ausgerechnet WM-Rivale Sebastian Vettel vor ihm landete, seine Führung in der Fahrerwertung ausbaute und den amtierenden Weltmeister somit zum ersten Verlierer machte.
Sichtbar gefrustet wich Hamilton zunächst allen Nachfragen über seinen Zustand aus. Nachdem er seinen Mercedes geparkt hatte, marschierte er wortlos in den Vorbereitungsraum zur Siegerehrung. F1-Interviewer Martin Brundle ließ er zum Unmut vieler mit Vettel und Räikkönen allein zurück.
Erst nach der Pokalübergabe gab Hamilton den Zuschauern dann doch noch ein paar Antworten - und überraschte mit einem Vorwurf in Richtung Ferrari: "Eine interessante Taktik von ihrer Seite, würde ich sagen."
Was Hamilton damit meinte, ließ er zwar offen. Man muss aber keine überdurchschnittliche Interpretationsgabe besitzen, um zu wissen: Der 65-fache GP-Sieger unterstellte Räikkönen und Ferrari, ihn kurz nach dem Start absichtlich umgedreht zu haben.
Mercedes kritisiert Ferrari: "Absicht oder Unvermögen?"
Ein heftige Anschuldigung, die Mercedes im Anschluss aber nicht herunterspielte, sondern nur noch verstärkte. "In Le Castellet wurden wir erstmals abgeschossen, jetzt zum zweiten Mal", klagte Motorsportchef Toto Wolff in Hinblick auf Vettels folgenschwere Attacke gegen Valtteri Bottas zu Beginn des Frankreich-GP vor zwei Wochen: "Wir haben viele WM-Punkte für die Konstrukteurswertung verloren. Da hört für mich der Spaß auf. James Allison (Technischer Direktor bei Mercedes; Anm. d. Red.) fragt sich: Ist das Absicht oder Unvermögen? Jetzt müssen wir uns ein Urteil bilden."
Tatsächlich hat Mercedes - unter der Prämisse, dass keine sonstigen Zwischenfälle passiert wären - durch die Kollisionen mit den beiden Ferrari-Fahrern wohl mindestens 20 Zähler eingebüßt. Zähler, die jetzt im WM-Kampf fehlen und die Scuderia an die Spitze der Teamwertung bringen.
Formel 1: Konstrukteurswertung nach zehn Rennen
Platz | Team | WM-Punkte |
1 | Ferrari | 287 |
2 | Mercedes | 267 |
3 | Red Bull | 199 |
4 | Renault | 70 |
Sebastian Vettel will von Vorsatz nichts wissen
Die offene Inkaufnahme einer derartigen Kontroverse ist also nicht nur ein Zeichen der Wut auf den Kontrahenten, sondern auch ein Indiz dafür, wie ernst die Lage im Titelkampf mittlerweile ist. Die Stuttgarter wissen, dass sie solche Zwischenfälle nicht mehr einfach hinnehmen können, sondern auf Gegenangriff umpolen müssen. So drohte auch Hamilton vor den britischen Fans: "Wir werden tun, was wir können, um sie zu bekämpfen!"
Dass Ferrari seine Piloten aber wirklich absichtlich in Hamilton und Bottas rasen lässt, darf zumindest bezweifelt werden. "Kimi war innen und hat es komplett verhauen. Er hat viel zu spät gebremst und ist voll rein, kerzengerade, wie ein Torpedo. Das ist zu 100 Prozent seine Schuld", kritisiert Nico Rosberg den Iceman bei RTL, ohne aber ein vorsätzliches Manöver erkannt zu haben. Auch ORF-Experte Alexander Wurz glaubt vielmehr an fehlendes Geschick denn an Absicht: "Dem geht einfach nur der Grip, die Straße und ein bisschen das Talent aus."
Währenddessen reagierte Vettel genervt auf die nun aufkeimende Diskussion. Es sei "doch Blödsinn, das Geschehene als Absicht abzustempeln. Ich hätte auf jeden Fall Probleme damit, so präzise vorzugehen und jemanden aus dem Rennen zu nehmen. Ich finde es also ziemlich unnötig, so darauf einzugehen."
Warum ging Mercedes nicht nochmal an die Box?
Was in dem ganzen Wirbel um den Start-Crash nämlich fast unterging: In Hamiltons Abwesenheit hätte Bottas das Rennen beinahe gewonnen. Bis zum Safety Car in der 33. Runde lag Bottas nur 1,8 Sekunden hinter Vettel, nach dem Safety Car und mit einem Boxenstopp weniger führte der Finne das Geschehen plötzlich an. Im Renntempo verteidigte er sich zunächst mit Haut und Haar, ehe seine Reifen am Ende zu Grunde gingen und er mit stumpfen Waffen nicht nur Vettel, sondern auch Hamilton und Räikkönen ziehen lassen musste.
Nach dem Taktik-Debakel von Österreich stellt sich in diesem Zusammenhang darüber hinaus die Frage, warum sich Mercedes im Gegensatz zu Ferrari und Red Bull gegen einen zweiten Reifenwechsel entschied. "Uns war die Position auf der Strecke wichtiger als ein neuer Reifen", begründete Wolff die Weiterfahrt auf den Mediums. Hinzu kam, dass die Silberpfeile keine neuen Pneus übrig hatten. Ein Wechsel hätte also ohnehin nur wenig Sinn gemacht.