Nahtoderfahrung und mehrere Monate Zwangspause: Beim Großen Preis von Großbritannien 1999 erlitt Michael Schumacher den schlimmsten Unfall seiner Formel-1-Karriere. 20 Jahre später blickt SPOX zurück.
0,947 Sekunden sind in der Formel 1 Welten. Welten, die Michael Schumacher an jenem Oktobersamstag 1999 in Malaysia von Eddie Irvine trennten und ihn mit einer Dominanz der Vollkommenheit auf die Pole Position brachten. Und das 97 Tage, nachdem der Kerpener letztmals in seinem Ferrari gesessen hatte.
Die Welt sah hier das Comeback eines Ausnahmekönners, der sein einzigartiges Talent nicht nur bei diesem Qualifying, sondern auch einen Tag später im Rennen zeigte. Souverän führte Schumacher das Geschehen an, ehe er Irvine dem Team zuliebe drei Runden vor Schluss vorbeiwinkte und ihm den Sieg schenkte.
Der Nordire brauchte die so wichtigen Punkte im WM-Duell mit Mika Häkkinen dringender. Schumacher hatte sich schließlich schon rund drei Monate zuvor aus dem Kampf um die Weltmeisterschaft verabschiedet - so unfreiwillig wie dramatisch.
Michael Schumacher fliegt mit über 200 km/h ab
Es ist der 11. Juli, 14.03 Uhr. Die Ampellichter erlöschen, das Rennen im zwar windigen, aber ungewohnt sonnigen Silverstone ist freigegeben. Schumacher fährt von Platz zwei los, erwischt jedoch einen schlechten Start. Noch vor der ersten Kurve geht es auf den vierten Rang hinter Irvine zurück.
Dass im Hintergrund Alessandro Zanardi und Jacques Villeneuve stehen bleiben, bekommt er im Starttrubel genauso wenig mit wie den daraus resultierenden Rennabbruch. Sein Funk hakt, Schumi gibt weiter Vollgas. Die Roten Flaggen der Marshalls? Übersieht er.
Der damalige Doppelweltmeister saugt sich noch in der ersten Runde neben Irvine, ehe er vor Stowe Corner aufs Bremspedal steigt. Ohne Erfolg.
Die Bremse geht "plötzlich ins Leere", gibt er später zu Protokoll: "Du willst bremsen. Der Pedalweg wird immer länger. Du weißt sofort, was los ist. Du versuchst verzweifelt zu lenken, aber es geht nicht mehr, weil die Vorderräder blockieren."
Erst das rechte, dann auch das linke. Statt in die Rechtskurve abzubiegen, brettert Schumacher mit über 200 km/h geradeaus ins Kiesbett - und einige Meter später mit 107 km/h in die Reifenstapel. "Ich sehe die Reifenwand und weiß: Das wird schlimm, das wird wehtun", erinnert er sich nachher.
Szenen, die das TV-Publikum erst einmal gar nicht mitbekommt. Die Kameras zeigen nach dem Start den Abtransport von Zanardi und Villeneuve, dann vier Sekunden langes Bildrauschen und plötzlich Schumachers zur Hälfte im Reifenstapel begrabenen Ferrari. Ein erschreckender Moment, der auch die Mechaniker fast regungslos in der Garage zurücklässt. DSF-Experte Marc Surer kommentiert: "Blöder kann man nicht abfliegen."
gettyMichael Schumacher bricht sich Schien- und Wadenbein
"Ich liege da und merke, wie ich mich wieder so ein bisschen fange und beruhige und fühle meinen Herzschlag. Plötzlich fühle ich, wie mein Herzschlag immer weniger wird und plötzlich komplett aufhört", beschreibt Schumacher später die Sekunden nach dem Aufprall: "Und dann denke ich: 'Aha, so fühlt es sich wahrscheinlich an, wenn du dann auf dem Weg nach oben bist. Ich weiß nur, dass mein Herz aufgehört hat zu schlagen, von meinem Gefühl her. Es war eine interessante Erfahrung.'"
Nach dem ersten Schock folgt die Gewissheit, dem Tod doch noch entkommen zu sein. "Okay, du lebst", stellt er fest, richtet seinen Blick dann aber sofort auf das für ihn entscheidendste aller Dinge: "Die WM ist gelaufen." Es sei komisch, wundert sich Schumi später selbst, "du bist verletzt und denkst an diese WM, obwohl du doch in diesem Moment viel größere Sorgen hast".
Nach einigen Momenten des wilden Gedankenspiels will Schumacher aus dem Cockpit aussteigen, das sich mittlerweile von einer Überlebenszelle zu einem Gefängnis entwickelt hat. Doch er kann nicht. Das rechte Schien- und Wadenbein sind gebrochen, wird sich später herausstellen. Zudem ist sein Knöchel schwer geprellt und ein vier Zentimeter langer Schnitt zieht sich durch seine Ferse.
Dass sich Schumacher nur an Bein und Fuß verletzt, grenzt dabei an ein Wunder. "Michael schlug mit dem Kopf aufs Cockpit. Sein Helm war gebrochen. Er hätte sterben können", enthüllt später Rennarzt Sid Watkins ein mögliches Horrorszenario in der Bild.
Wie ernst die Lage ist, sehen auch die zur Unfallstelle herangeeilten Streckenposten, die Schumacher aus dem Wrack ziehen. "Ein grausames Gefühl", findet dieser und wird sofort - von mehreren großen Laken abgeschirmt - in einen Krankenwagen getragen.
gettyDavid Coulthard gewinnt - Michael Schumacher wird operiert
Das Rennen bleibt eine halbe Stunde unterbrochen, bevor ein zweiter Start erfolgt und David Coulthard schließlich seinen fünften GP-Sieg einfährt.
Ein Triumph, den Schumacher wohl nur am Rande mitbekommt. Er wird mittlerweile ins naheliegende Northampton General Hospital geflogen und muss noch am Abend operiert werden. Eineinhalb Stunden dauert der Eingriff, bei dem ihm eine rund 30 Zentimeter lange Metallplatte eingesetzt wird.
Währenddessen beginnt im Ferrari-Lager schon die Ursachenforschung. Dass Schumacher zu spät gebremst hatte, wird sofort ausgeschlossen. Weder die TV-Wiederholungen noch die Daten passen dafür ins Bild.
Vielmehr vermuten die Ingenieure einen Defekt am Ferrari F399 - und werden in ihrer Annahme bestätigt: Ein Mechaniker hatte beim Zusammenbau vergessen, eine Schraube ordnungsgemäß festzuziehen. Bremsflüssigkeit war ausgetreten, die Bremsanlage an der Hinterachse hatte versagt. Kostenpunkt der losen Schraube? 20 Mark.
gettyMichael Schumacher denkt über Karriereende nach
20 Mark, die Schumacher an seiner Bestimmung zweifeln lassen. In den Tagen nach seinem Unfall ist er "einfach nur glücklich, am Leben zu sein" und denkt, wie er später zugibt, über ein vorzeitiges Karriereende nach.
Überlegungen, die der damals 30-Jährige dann aber doch bald verwirft. Zu groß sind der Ruf des Adrenalins, der Hunger nach Erfolg und die Lust aufs Gewinnen. Vor allem, weil er die Konkurrenz um Häkkinen und den wenig geliebten Teamkollegen Richtung Titel fahren sieht.
"Ich spürte diese Unruhe, die mir sagte: Du musst jetzt trainieren, damit du so schnell wie möglich fit wirst. Ich wollte aufstehen, mich bewegen. Für ein Leben auf dem Sofa bin ich einfach nicht geschaffen", begründet Schumacher Anfang der 2000er sein baldiges Comeback.
Dass er sechs Rennen und den WM-Titel als Fünfter der Gesamtwertung am Ende deutlich verpasst? Im Nachhinein wohl geschenkt. Schumacher geht gestärkt aus der Zwangspause hervor und brilliert nicht nur in Malaysia, sondern setzt sich in den Jahren danach fünf Mal in Folge die WM-Krone auf.
Michael Schumachers Statistiken in der Formel 1
GP-Starts | 307 |
GP-Siege | 91 |
Podestplätze | 155 |
Pole Positions | 68 |
Schnellste Rennrunden | 77 |
WM-Punkte | 1566 |
WM-Titel | 7 |