"Wenn wir uns das angucken, haben wir uns selbst ein bisschen überrascht", gab Räikkönen zu. Nur 0,234 Sekunden fehlten dem Finnen auf Hamilton, während Sebastian Vettel als besserer Ferrari-Fahrer bei den Freien Trainings am Freitag noch 0,759 Sekunden fehlten.
Die Erklärung für die Annäherung ist einfach. Ferraris neuer Motor scheint ein großer Fortschritt. Pünktlich zum Heimspiel im Königlichen Park von Monza brachten die Italiener die neueste Ausbaustufe ihrer Powerunit mit. "Am Freitag geht es nicht um Rundenzeiten. Da macht jeder, was er will. Deshalb fehlt die Aussagekraft", erklärte der Iceman die Taschenspielertricks.
"Der neue Motor ist ein nützlicher Schritt und ein großartiger Verdienst von all unseren Leuten in unserer Motorenabteilung", lobte Technikchef James Allison bei Sky Sports sein Team: "Das war fundamental für unser Ergebnis heute."
Ferrari auf altem Mercedes-Niveau
Ferrari hat die von vielen als unmöglich bezeichnete Aufholjagd auf Mercedes offenbar geschafft. Nico Rosberg kam mit seiner alten Powerunit, die nach dem 3. Freien Training eingebaut werden musste, nicht an Vettel und Räikkönen vorbei.
"Mit jedem Kilometer verliert man ein bisschen Leistung", schob Rosberg die neuerliche Niederlage auf das Defizit der fünf Rennen alte Antriebseinheit im Vergleich zu Hamiltons überarbeiteter Version.
Er bekam sofort Gegenwind aus dem eigenen Lager. Sein Aufsichtsratschef ordnete die Pleite anders ein.
"Nico hatte keinen Power-Nachteil, er hatte Handling-Probleme - zu viel Untersteuern", sagte Niki Lauda: "Er hat es nicht hinbekommen, dass das Auto sich für seine Fahrweise passend verhält. Das hat einen gewaltigen Unterschied gemacht."
Chancen nur bei Hamilton-Problem?
Doch selbst der Österreicher zeigte sich überrascht vom Aufschwung bei der Scuderia. Ob es nur die Leistung des neuen Motors war? "Das Auto hat im Vergleich zu gestern einen richtigen Schritt nach vorne gemacht", sagte Vettel auf der Pressekonferenz nach dem Qualifying gutgelaunt und wandte sich an den Weltmeister: "Sorry Lewis, aber wir hätten nichts dagegen, wenn du morgen nicht auf dem Podest stehen würdest."
Vollkommen ausgeschlossen scheint das nicht. Noch immer tappt Mercedes im Dunkeln, was den Grund für Rosbergs Motorenprobleme angeht. "Wir wissen nicht genau, was passiert ist. In den Daten haben wir nichts gesehen", gab Motorsportdirektor Toto Wolff bei Sky zu.
Selbst ohne technischen Defekt bei Mercedes scheint eine weitere Überraschung durch den dritten Saisonsieg für Ferrari nicht ausgeschlossen. Mag es dem SF15-T weiterhin an Abtrieb mangeln, die Höchstgeschwindigkeit passt nun.
Ferraris Topspeed deutlich verbessert
Bei der Geschwindigkeitsmessung am Ende von Sektor 1 bei der Ziellinie, wo beide Messpunkte hinter schnellen Kurven liegen, kamen Räikkönen und Vettel über Mittelfeldplätze nicht hinaus. Doch Am Ende des Mittelsektors rauschte der Finne so schnell durch die Lichtschranke wie kein anderer, war 4,2 km/h schneller als Hamilton und 5,4 km/h schneller als Rosberg.
Mercedes ist sich dessen bewusst - wie auch der Tatsache, dass Ferrari gewöhnlich im Rennen immer eine große Schippe draufpacken kann.
0,849 Sekunden fehlten Räikkönen bei seiner durchschnittlichen Longrun-Rundenzeit mit den weichen Reifen am Freitag auf Hamilton. Vettel war auf den Mediums im Mittel nur 0,132 Sekunden langsamer als sein Teamkollege. Holt Ferrari im Rennen genauso viel auf, wie im Qualifying, wären sie gleichauf mit Hamilton.
Strategischer Vorteil für Ferrari
Im Rennen hat die Scuderia die Trümpfe auf ihrer Seite, wenn die ersten vier ihre Positionen beim Start halten. Eine aggressive Ein-Stopp-Strategie mit frühem Reifenwechsel bei einem Fahrer könnte Mercedes zur Reaktion zwingen, während der zweite später in die Boxengasse fährt und gegen Rennende angreift.
"Dass die Jungs vorne schwierig zu schlagen sein werden ist klar, aber wir werden trotzdem alles geben", sagte Vettel kampfeslustig: "Man darf ja träumen. Es gibt immer eine Chance für eine Überraschung. Wir hatten ja schon ein paar in diesem Jahr."
Pirelli unterbindet Reifentricks
Zumal im Hintergrund weiteres Ungemach droht. Pirelli warnte die Teams schriftlich, bei den vorgegebenen Reifendrücken zu tricksen. Die vorgeschriebenen Mindestwerte wurden schon im Qualifying bei der Boxenausfahrt überwacht. Auch der Trick, die Reifen mittels der Heizdecken zu stark zu erhitzen, sodass der Druck auf der Strecke sinkt, soll verhindert worden sein.
"Ich verstehe voll und ganz, dass die Teams Leistung finden müssen, aber wir müssen auch garantieren, dass die Reifen richtig funktionieren", sagte Reifenchef Mario Isola: "Sie versuchen, eine Lücke im Reglement zu finden und etwas zu machen, das erlaubt ist, weil es nicht verboten ist."
Über das Setup versuchten die Ingenieure offenbar, den Reifendruck nach der Ausfahrt konstant zu halten. Durch den Reifenabbau sinkt offenbar die Temperatur der Lauffläche und damit auch der PSI-Wert. Pirellis Vorgaben waren allerdings aufgrund der Annahme gewählt, dass sie nach Verlassen der Box steigen.
Isola und sein Team behielten sich deshalb vor, bei einzelnen Teams den Druck beim Start zu erhöhen. Nach dem Eklat in Spa mit dem platzenden Reifen bei Vettel sollen weitere Probleme unter allen Umständen verhindert werden. Da noch unklar ist, wie sich die Slicks mit den erhöhten Mindestdrücken im Verlauf des Rennens wirklich verhalten, könnte aus einem Stopp schnell zwei werden.
Die Formel-1-Saison 2015 im Überblick