"Ein fantastischer Moment für Mercedes", jubelte Konzernchef Dieter Zetsche aus dem entfernten Stuttgart per Medieninformation. Echte Partystimmung wollte nach dem Triumph in der Hersteller-WM im Silberpfeil-Lager allerdings gar nicht aufkommen.
Dass Rennen war schon lange vorbei, Podiumszeremonie und Teamfoto absolviert, als die Stewards Kimi Räikkönen für seine wilde Attacke auf Valtteri Bottas eine zehnsekündige Stop-and-Go-Strafe aufbrummten, die aufgrund der bereits absolvierten Zieldurchfahrt in eine dreißigsekündige Zeitstrafe umgewandelt werden musste.
"Auf diese Art und Weise zu gewinnen ist nicht mein Ding", sagte Brackley-Aufsichtsratschef Niki Lauda über die Entscheidung am Grünen Tisch.
Wolff: "Ein bittersüßer Tag"
Motorsportchef Toto Wolff ergänzte etwas versöhnlicher: "Erst ein bittersüßer Tag auf der Strecke, dann angespanntes Warten - und schließlich die Bestätigung, dass wir unsere zweite Weltmeisterschaft gewonnen haben. Wow, in diesem Sport gibt es niemals einfach Tage."
Als Mercedes in der Saison 2014 die Konkurrenz nach Belieben dominierte, erwarteten viele Zuschauer, dass die Dominanz der Silberpfeile über Jahre in Stein gemeißelt ist. Die Möglichkeiten zur Weiterentwicklung der Powerunits? Zu stark von einem Reglement eingeschränkt, das die Werksteams durch die Bedeutung der Antriebseinheit ohnehin bevorzugt.
Doch die Realität im Motorsport sieht anders aus. Normalerweise fährt ein Hersteller nach der Einführung eines komplett neuen Reglements der Konkurrenz vorweg, die in den Folgejahren die Lücke sukzessive verkleinert.
Titel früher gesichert als 2014
Genau das hat Mercedes verhindert - in überzeugender Manier. Rechnerisch steht die Titelverteidigung nicht nur einen Tag früher fest als in der Saison 2014, es steht mit dem Mexiko-GP am 1. November 2015 auch noch ein Rennen mehr aus.
Wo also hat Mercedes sich nochmals gesteigert? Schon 2014 konnte die Konkurrenz doch nicht mithalten.
Erstens: Die unsinnige Regel der doppelten Punkte beim Saisonfinale in Abu Dhabi entfällt in der Saison 2015. Nach Sotschi sind also noch genauso viele Punkte zu vergeben wie im Vorjahr.
Ferrari statt Red Bull als Verfolger
Der Hauptkonkurrent ist zudem ein anderer. Red Bull hat abgebaut. Statt locker Platz 2 in der WM klar zu machen, dümpeln die Renault-Dosenrenner hinter Williams auf Rang 4 herum. Dafür hat die Scuderia ihre Motorenprobleme überwunden und einen riesigen Entwicklungssprung gemacht. "Ferrari hat früher als vermutet bestätigt, dass sie aufgeholt haben", sagt Mercedes-Motorsportchef Toto Wolff: "Ich gehe davon aus, dass das nächste Jahr ein Höllenkampf wird."
Dafür muss allerdings Kimi Räikkönen aufdrehen. Während Teamkollege Sebastian Vettel in Sotschi zum elften Mal in der Saison 2015 aufs Podium fuhr - öfter, als in seinen Weltmeister-Jahren 2010 und 2012 - schaffte Räikkönen den Sprung nur in Bahrain und Singapur. Red Bull kam als zweite Kraft bis zum Russland-GP 2014 zwar nur auf elf Podestplätze, verteilte die aber fast ausgeglichen zwischen Vettel und Teamneuling Daniel Ricciardo.
Team-Entwicklung als Erfolgsfaktor
Der entscheidende Grund für Mercedes' Titelverteidigung ist allerdings die eigene Weiterentwicklung des Teams. Die Truppe um Technikdirektor Paddy Lowe hat die Zuverlässigkeit des W06 gegenüber seinem Vorgänger gesteigert.
Fünf Ausfälle standen bis zum Russland-GP 2014 zu Buche. Lediglich drei sind es in diesem Jahr.
Doch der Teufel steckt im Detail. Rosberg strandete ausgerechnet auf dem Weg zur Titelverteidigung mit defektem Gaspedal in der Box. "Zu diesem Zeitpunkt konnte ich gar nicht mehr lenken, weil ich meinen Fuß so weit hochnehmen musste, dass ich dabei mit dem Knie das Lenkrad berührt habe", sagte er später: "In den vergangenen Monaten hatte ich einige Male Pech, was meinen Kampf gegen Lewis erschwert hat." 73 Punkte Rückstand, Platz 3 in der Fahrer-WM, die letzte Chance auf den Individualtitel ist eigentlich passé.
Mercedes hat noch Schwächen
Rosbergs Pech zeigt: Mercedes ist noch lange nicht perfekt. Schon in Suzuka gab Hamilton zu, dass sein Rennen keineswegs problemlos verlief. Und in Sotschi?
"Ich bin froh, dass mein Auto es geschafft hat, da mein Heckflügel gegen Rennende etwas locker war. Deswegen musste ich mich von den Kerbs fernhalten und versuchen, das Auto nicht zu beschädigen", erzählte der Weltmeister nach der Zieldurchfahrt und dankte dem ehemaligen Teamchef Ross Brawn für dessen Arbeit. Dessen Nachfolger Lowe ergänzte: "Wir konnten beim Bremsen auch einen gewissen Abtriebsverlust erkennen. Davor mussten wir ihn warnen."
Die Silberpfeile müssen sich steigern. Konzernchef Zetsche dankte den Mitarbeitern in Brixworth und Brackley für ihre harte Arbeit. Doch er sendete eine Warnung mit: "Das war auch nötig. Denn auch unsere Gegner haben ihre Leistung gesteigert und uns damit einige Kopfschmerzen bereitet."
Ferrari konzentriert sich seit Monaten auf die Entwicklung für die Saison 2016. Die aerodynamischen Schwächen hat das Team analysiert. Änderungen sind aber erst beim neuen Auto möglich, das ein anderes Konzept verfolgt.
Mercedes könnte bald ernsthaft unter Druck geraten. Verkleinert Ferrari die Lücke weiter und ist zur Saison 2016 auf Augenhöhe, müssen Hamilton und Rosberg die Ideallinie fahren, statt den Kerbs auszuweichen.
Die Formel-1-Saison 2015 im Überblick