"Ribery muss man anders behandeln"

Adrian Fink
26. September 201611:29
Urs Meier hat Michael Ballack bei der WM 2002 im Halbfinale die Gelbe Karte gezeigtgetty
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Über zehn Jahre lang leitete der ehemalige FIFA-Schiedsrichter Urs Meier Fußballspiele auf allerhöchstem Niveau. Dabei erlebte der 57-jährige Schweizer die Höhen eines Referees und war sowohl bei der WM als auch bei der EM dabei, lernte aber auch die Kehrseite des Fußballs kennen. Ein Gespräch über Professionalisierung des Schiedsrichterwesens, unnötige Torlinienrichter, Spielertypen wie Franck Ribery und Morddrohungen.

SPOX: Herr Meier, Sie haben insgesamt 42 Champions-League-Spiele gepfiffen. Ist Ihnen eines davon besonders in Erinnerung geblieben?

Urs Meier: Grundsätzlich ist die Königsklasse auch für uns Schiedsrichter etwas Besonderes und bei der Hymne herrscht Hühnerhaut-Atmosphäre. Mein wichtigstes Spiel war mein erstes Halbfinale zwischen Manchester United und Borussia Dortmund 1997. Die Ansetzung hat mich total überrascht und hätte ich das Match vergeigt, wäre meine Karriere anders gelaufen. Aber es war mein Durchbruch und danach habe ich acht Jahre lang mindestens ein Halbfinale gepfiffen. Das macht mich richtig stolz - selbst Collina hat das nicht geschafft.

SPOX: Ihre Leistungen wurden konstant sehr gut bewertet. Das kommt im Schiedsrichterwesen nicht sehr häufig vor.

Meier: Ein guter Schiedsrichter fällt nicht auf. Aber wenn er gebraucht wird, dann muss er im "Großformat" erscheinen. Ich bin mit den Füßen auf dem Boden geblieben und habe mich selbst nicht zu wichtig genommen. Ich habe aber auch Schiedsrichter kennengelernt, die total abgehoben sind und die Spiele im Selbstdarstellermodus geführt haben. Die Fans kommen aber nicht wegen des Schiedsrichters ins Stadion, sondern für den Fußball.

SPOX: Wie haben Sie sich auf Ihre Spiele vorbereitet?

Meier: Ich habe mich intensiv mit den Teams und deren Mentalitäten auseinandergesetzt. Jede Mannschaft hat einen Charakter und den sollte man kennen. Außerdem ist es wichtig, über die kulturellen Hintergründe informiert zu sein, damit die Gepflogenheiten vor und nach dem Spiel stimmen.

SPOX: Sie sprechen die Mentalität an. Welche Rolle spielt sie bei den Schiedsrichtern selbst?

Meier: Auch die Spieler müssen wissen, wo der Schiedsrichter herkommt. Spanische Schiedsrichter lassen in der Regel überhaupt nicht mit sich reden. Engländer lassen mehr laufen, deutsche Schiedsrichter pfeifen hingegen sehr korrekt und regelsicher. Generell gibt es ein großes Gefälle.

SPOX: Inwiefern?

Meier: Die Schweizer Liga zum Beispiel ist einfach langsamer und die Umstellung zur Champions League ist schwierig. Einige Schiedsrichter können sich anpassen, andere scheitern daran. Wir müssten Unparteiische aus schwächeren Ligen auch in den großen Ligen einsetzen.

SPOX: Wäre das wirklich umsetzbar?

Meier: Ein polnischer Schiedsrichter, in dessen Heimat es nicht das entsprechende Niveau gibt, könnte mit Einsätzen in der deutschen 2. Liga an das höchste Level herangeführt werden. Wir müssen versuchen, auch diese Schiedsrichter auf den Mount Everest zu bringen. Warum soll Kassai nicht in der Bundesliga pfeifen?

SPOX: Spätestens dann müsste ein Schiedsrichter aber hauptberuflich als solcher arbeiten.

Meier: Auf jeden Fall! Es ist ein unmöglicher Zustand, dass wir keine professionellen Strukturen haben. Damit meine ich nicht nur den Verdienst, sondern dass jemand wirklich als Schiedsrichter angestellt ist. Sowohl der DFB als auch die Schiedsrichterverantwortlichen haben nicht begriffen, was eigentlich abläuft.

SPOX: Wie meinen Sie das?

Meier: Die haben in einem Interview gefragt, was die Schiedsrichter die ganze Woche machen sollten. Sind die verrückt oder was? Arbeiten natürlich! Professionelle Schiedsrichter würden immer zur Verfügung stehen. Bei einer besseren Ausbildung würden sich einige Diskussionen erledigen.

SPOX: Auch die über die Handspielregel?

Meier: Ja, die Regel muss man nicht ändern. Aber es braucht spezielle Schulungen, da vielen Schiedsrichtern das Fußballverständnis fehlt und es deshalb zu unterschiedlichen Auslegungen der Regel kommt.

SPOX: Das soll es bei der Entscheidung "Tor oder kein Tor" zukünftig nicht mehr geben. Stichwort Torlinientechnik.

Meier: Wenn wir das Problem lösen wollen, geht das nur über die Technik. Der Torlinienrichter ist die größte Schnapsidee im Fußball überhaupt. Ich habe Platini bereits 2004 davon abgeraten. Das Problem ist aber, dass die Präsidenten ihr eigenes Baby durchboxen wollen. Gleichzeitig war ich auch Blatters Berater. Gott sei Dank hat er auf mich gehört und sich für die Torlinientechnik entschieden.

SPOX: Was stört Sie bei der Idee des Torlinienrichters?

Meier: Die Entscheidung Tor oder kein Tor kann der Torlinienrichter nicht zu 100 Prozent treffen - damit ist er eigentlich schon überflüssig. Platinis zweite Hoffnung war, dass die Spieler allein wegen dessen Anwesenheit keine Vergehen mehr machen. Nach dem Motto: "Wenn ein Polizist in der Nähe steht, fahre ich mit dem Auto nicht über rot" - was für ein Quatsch! Es wird weiterhin gestoßen und gehalten und die Torlinienrichter, die normalerweise niedrigklassig pfeifen, beurteilen das falsch. Schafft diese Torrichter ab und macht Schiedsrichter zu Profis!

SPOX: Eine andere Möglichkeit, die Fehler zu minimieren, ist der Videobeweis. Ist das eine sinnvolle Idee?

Meier: Die Tests sind der richtige Weg, aber mit dem Videobeweis muss man sehr vorsichtig umgehen. Wir müssen evaluieren, wo es dem Schiedsrichter hilft und wann der Spielfluss zum Erliegen kommt.

SPOX: Würde der Videobeweis die Schiedsrichter nicht ein Stück weit in Schutz nehmen? Insgesamt hat man das Gefühl, dass das Ansehen in den letzten Jahren eher gesunken ist.

Meier: Die Generation um Collina, Merk, Webb und auch mir hatte ein sehr gutes Ansehen - heute haben nur wenige Schiedsrichter diesen Status. Aber am Ansehen sind die Schiedsrichter selbst schuld.

SPOX: Wo liegt das Problem?

Meier: Wir brauchen keine Regelschiedsrichter. Vielmehr müssen sie zeigen, dass sie großes Sachverständnis haben und Gelbe Karten verhindern, genau das hat Collina mit seinem Auftreten getan. Der Fußball entwickelt sich immer weiter und wenn sich das Verbrechen schneller entwickelt als die Polizei, haben wir ein Problem.

SPOX: Wer ist für Sie der beste aktive Schiedsrichter?

Meier: Das war für mich Cüneyt Cakir, aber den hat man leider verbrannt. Er hatte so viele wichtige Spiele vor der EM, in Frankreich ging dann nicht mehr viel. Trotzdem gehört Cakir mit seiner klaren Linie zu den besten Schiedsrichtern.

SPOX: Bei der EM wurde mehr laufen gelassen als im Ligabetrieb. Sollte das zum Standard werden?

Meier: Das war ein gutes Miteinander: Die Schiedsrichter haben mehr laufen lassen, die Spieler haben nicht durch die Gegend getreten. Ich bin ein Fan davon, die Leitplanken weit außen zu setzen. Aber ich bin skeptisch, ob das auf Dauer positiv aufgenommen wird.

SPOX: Gegenüber dem Focus haben Sie sich ähnlich geäußert und gesagt, dass Fußball "zur unsportlichsten Sportart verkommen" ist. Können Sie uns das erläutern?

Meier: Im Fußball wird ständig zur Unfairness aufgerufen. Das geht im Jugendbereich mit den Eltern los und zieht sich durch bis zu den Trainern im Profibereich. Das passiert in anderen Sportarten nicht - im Gegenteil: Wenn sich beim Rugby jemand fallen lässt, stellt ihn der Trainer nicht mehr auf. Beim Fußball erhält der Spieler Kritik, wenn er fair spielt, anstatt sich fallen zu lassen.

SPOX: Ein Spieler, der mit grenzwertigen Aktionen polarisiert, ist Franck Ribery. Wie geht man mit so einem Spieler um?

Meier: Die Hauptaufgabe des Schiedsrichters ist nicht nur der Schutz des Spielers vor dem Gegner, sondern auch vor sich selbst. Deshalb muss man einen Ribery anders behandeln. Es ist bekannt, dass er sich provozieren lässt. Da darf man nicht lange mit einem Foulpfiff warten, sonst bekommt Ribery selbst Probleme. Im Zweifel pfeift man mal einen Vorteil für Bayern ab, damit müssen Spieler und Verein leben. Sonst wartet man bis zur Tätlichkeit und muss Ribery für seine Befreiungsschläge vom Platz stellen. Fußball ist für den Schiedsrichter wie Poker: Man muss zwischen Risiko und Ertrag abwägen.

SPOX: Abwägen muss man auch bei K.o.-Spielen, wenn Spieler vorbelastet sind. Haben Sie sich im Vorfeld immer informiert, welcher Akteur bei der nächsten Gelben Karte gesperrt ist?

Meier: Ja, und bei solchen Spielen liegt die Messlatte für eine Gelbe Karte höher. Wenn sie aber überschritten wird, sind dem Schiedsrichter die Hände gebunden.

SPOX: Sie haben das bei der WM 2002 erlebt, als Sie Michael Ballack im Halbfinale verwarnen mussten ...

Meier: Wegen mir haben auch andere Stars ein Finale verpasst, der Name darf kein Kriterium sein. Viele Schiedsrichter begreifen nicht, dass man dadurch an Profil gewinnt. 2000 habe ich Zidane runter gestellt und ein paar Spiele danach ist er zu mir in die Kabine gekommen, hat mir sein Trikot geschenkt und mir gesagt, dass ich der beste Schiedsrichter der Welt sei. Die Spieler wollen keine Schiedsrichter, die sich immer winden.

SPOX: Gibt es aber auch Spieler, die Machtspiele mit dem Schiedsrichter eingehen?

Meier: Bei einem Europapokal-Spiel kam der Zagreb-Kapitän in der Halbzeit auf mich zu und meinte: "Wenn wir das Spiel verlieren, kommen Sie hier nicht mehr lebend raus." Ich habe ihm geantwortet, dass er mir dabei helfen muss, dass alles in geregelten Bahnen abläuft: "Ist mir scheißegal! Ich schmeiß' dich vom Platz", habe ich gesagt. Damit habe ich den Spieß umgedreht und es ging alles problemlos über die Bühne.

SPOX: Nicht nur die Spieler, auch die Verantwortlichen haben immer eine Meinung zum Schiedsrichter. Wie ist da der Umgang?

Meier: Nach den Spielen gehen die Schiedsrichter häufig mit den Beobachtern und Betreuern noch essen. Entscheidend ist, wie man sich in dieser Situation nach einem guten Spiel verhält. In der Euphorie darf man nicht überschwänglich werden oder sogar noch in eine Bar gehen. Sonst holt einen das beim nächsten schlechten Spiel ein.

SPOX: Sie waren bekannt dafür, dass Sie für Ihre Fehler im Nachhinein gerade standen. Wie kam das an?

Meier: Wenn man im Fernsehen sieht, dass man eine Fehlentscheidung getroffen hat, muss man das öffentlich zugeben. Merken die Leute, dass man sich ehrlich entschuldigt, kommt das bei allen Parteien gut an. Grundsätzlich müssen Schiedsrichter Mut haben, Unsicherheiten auf dem Platz zuzugeben.

SPOX: Macht man sich damit nicht angreifbar?

Meier: Es ist eine Utopie, dass man beispielsweise jeden Pressschlag richtig beurteilen kann. Dann lieber die Unsicherheit zugeben, das verstehen die Spieler auch und die Schiedsrichter, die das machen, genießen ein viel besseres Standing. Leider ziehen sich viele Schiedsrichter in einen Käfig zurück, weil sie falsche Angst vor dieser Konfrontation haben. Wenn ich wie die Maus vor der Schlange stehe, brauche ich mich nicht wundern, wenn ich keine Anerkennung bekomme.

SPOX: Kann diese Unsicherheit zu Entscheidungen führen, die von vorangegangenen Fehlern geleitet sind?

Meier: Kompensationsentscheidungen sind fatal und deshalb würde ich in der Halbzeit nie die Highlights anschauen. Eins plus eins ergibt nicht null, sondern zwei. Der zweite Fehler ist oft schlimmer als der erste, weil man das Spiel bewusst beeinflusst. Du musst dich von großen Namen verabschieden und darfst dich nicht von der Stimmung lenken lassen. Ich habe viele Entscheidungen gehabt, bei denen ich gegen 80.000 gepfiffen habe und das zu Recht.

SPOX: Das zieht manchmal aber Konsequenzen nach sich: Sie standen 2004, nachdem Sie ein Tor von England annullierten, für einige Wochen unter Polizeischutz.

Meier: Das Spiel ging 2:2 aus und die Engländer sind im Elfmeterschießen ausgeschieden. Die englische Presse hat mich als Sündenbock dargestellt und ich war vier Tage auf der Titelseite der Sun. Da es sogar Morddrohungen gab, bin ich untergetaucht und stand unter Polizeischutz. Das Schlimmste war aber, dass die Entscheidung richtig war und die UEFA total versagt hat. Sie haben die Situation nicht kommentiert und mich so im Stich gelassen. Auch in diesen Positionen braucht es eben Persönlichkeiten.

SPOX: Überlegt man sich da nicht, die Pfeife zur Seite zu legen?

Meier: Ganz im Gegenteil. Das war eher eine Motivation, weiterzumachen. Wenn man bei jedem Druck und Gegenwind zusammenfällt, ist man als Schiedsrichter fehl am Platz.

SPOX: War dieser Druck ein Grund dafür, dass Sie Schiedsrichter wurden?

Meier: Mein großes Ziel war immer, vor 80.000 Zuschauern aufzulaufen. Als ich gemerkt habe, dass das als Spieler auf keinen Fall passieren wird, wurde ich Schiedsrichter. Trotzdem war ich immer Fußballer und 100 Prozent im Spiel drin. Ein Schiedsrichter muss wissen, was weh tut - und das nicht nur körperlich. Wenn man das spürt, schätzt man die Situationen besser ein.