Der Blick geht starr geradeaus. Tim Wiese ist im Wettkampf-Tunnel, als er den Platz betritt. Keine Spur mehr von dem lockeren 120-Kilo-Koloss mit Sonnenbrille, der eine Stunde zuvor noch Fotos mit seinen Fans macht.
"Er ist wie Oliver Kahn, eine halbe Stunde vor dem Spiel gehen die Jalousien runter und dann ist er fokussiert", berichtet Christoph Nowak, Wieses Kumpel, der als Vorstand des SSV Dillingen das manchmal schräg anmutende Bohei in der Provinz ermöglichte.
Der Ex-Nationalkeeper war angespannt und bereit, er kam tatsächlich nicht nur für einen Aprilscherz in die schwäbische Kleinstadt an der Donau. Wiese wollte auch gewinnen. Mehr als 2000 Zuschauer, Kamerateams aus Deutschland und England sowie jede Menge Fotografen und Reporter hatten sich versammelt, um das Fußball-Comeback des einstigen Bundesliga-Torwarts in der 8. Liga mitzuerleben.
Vier Jahre, zwei Monate und sechs Tage hatte Wiese nicht mehr zwischen den Pfosten gestanden, doch als er in seinem pinken Trikot mit der Nummer 99 den ersten Ball aus der Luft fing, war es zumindest ein bisschen so, als wäre er nie weggewesen. "Schon im ersten Training habe ich gedacht: 'Warum habe ich so früh aufgehört?'", sagte der 35-Jährige mit einem verschmitzten Grinsen. Wiese versteht es, seine Rolle zu spielen und auch Erwartungen zu bedienen.
Wiese wie früher
Seit dem Ende seiner Fußballer-Karriere will er als Wrestler Fuß fassen - eine gute Show gehört da zur Identität. Wie ernst Wiese, der sich inzwischen "The Machine" nennt, sein Kurz-Comeback dennoch nahm, zeigte er in jeder Aktion.
Er tauchte ab, hechtete oder klärte in letzter Sekunde mit einer Grätsche. Wie früher durften auch in der Kreisliga Nord Schwaben Diskussionen mit dem Schiedsrichter und Dirty-Talk mit dem Gegner nicht fehlen.
Ein kurzer Griff an den Hals und die Fronten zwischen Wiese und dem gegnerischen Stürmer waren geklärt. "Man muss sich Respekt verschaffen und deswegen auch mal mit gestrecktem Bein reingehen oder einen wegrempeln", sagte Wiese nach dem Spiel, er grinste wieder.
"Wiese muss schießen"
Die Zuschauer waren begeistert von "The Machine", laut feuerten sie ihn an, manchmal mischten sich ulkige Zwischenrufe darunter. Als Dillingen kurz vor Schluss einen Elfmeter bekam, war sich die Menge einig: Wiese muss schießen. Doch Dillingens Trainer entschied anders.
Das 1:2 (0:1) des Tabellenvorletzten gegen den TSV Haunsheim konnte auch Wiese nicht verhindern, dem SSV droht der Abstieg. Bei den Gegentreffern von Robin Hördegen war die langjährige Nummer eins von Werder Bremen machtlos. Sichtlich angefressen stapfte Wiese vom Platz. "Das Feuer bei mir brennt, aber heute haben wir es leider verpennt", lautete sein Fazit nach der Partie.
Wiese "ganz schön angepisst"
"Er wollte das Ding unbedingt gewinnen, ist grade ganz schön angepisst. Schade, dass es nicht geklappt hat", sagte Nowak. Viel wichtiger war dem SSV-Vorstand an dem Tag aber, dass der besondere Gastauftritt seinen Zweck erfüllte: Werbung für den Amateurfußball.
"Es war eine überragende Veranstaltung. Was wir hier auf die Beine gestellt haben, muss uns erst einmal einer nachmachen", betonte Nowak stolz, der mit fünfstelligen Einnahmen rechnete.
Und Wiese? Der spuckte in gewohnter Manier große Töne: "Bundesliga könnt' ich locker noch spielen."
Tim Wiese im Steckbrief