Man könnte natürlich auch einfach warten. Warten, bis der Verein auf seiner eigenen Homepage den Neuzugang vermeldet. Warten, bis es Fakten gibt: Gehalt mit dem Spieler und Ablösesumme mit dem abgebenden Verein ausgehandelt, Medizincheck absolviert, Verträge unterschrieben. Alles fix. Man könnte also einfach auf die Fakten warten, sich einem Transfer somit wenige Sekunden statt vieler Stunden der immer neuen Updates widmen, aber dann würde irgendetwas fehlen.
Es würde vielen Fans ein wichtiger Zeitvertreib der dritten Saisonhälfte fehlen: Der Transfermarkt mit all seinen Begleiterscheinungen, mit seinen Gerüchten und Spekulationen. Früher ruhte das Geschehen zu dieser Zeit eben etwas, aber seit sich der Fußball von einer Samstagnachmittags- zu einer 24-Stunden-und-7-Tage-die-Woche-Beschäftigung emanzipiert hat, braucht es stets und immerzu Nachrichten und Neuigkeiten.
Und wenn zwischen Ende Mai und Mitte August eben nichts zwischen den Seitenauslinien passiert, passiert umso mehr zwischen den Büro-Türen und -Fenstern. Vereine "baggern" an Spielern "beobachten" oder "jagen" sie, "schielen" oder sind "heiß" auf sie. Sie "denken" an sie oder sind einfach nur "interessiert". Mittlerweile gibt es für das tatsächliche oder angebliche Interesse eines Vereins an einem Spieler fast mehr Synonyme als für das Schießen eines Tores. Es bedarf sprachlicher Abwechslungen, weil so oft darüber geschrieben und geredet wird.
Zum Ende einer Saison, wenn einige wenige Vereine ihre Saisonziele erreicht und viele mehr verpasst haben, gilt es die Mannschaft zu verstärken. Um seine Position zu bestätigen oder zu verbessern. Genau wie Tore während der Saison sorgen fixe Transfers zwischen den Saisons im Fan-Lager für Glücksgefühle und Optimismus. Fans sehnen sich nach Transfer-Updates: Wer kommt? Kommt er? Kommt er nicht? Wo es Nachfrage gibt, gibt es Angebot.
Das unerhörte Gerücht taucht auf
Lange bevor ein Transfer fix ist und der neue Spieler auf der Homepage des Vereins von der "großen Ehre" und der "neuen Herausforderung" sprechen darf, wird über die Realisierung des Transfers spekuliert. Jede Neuigkeit wird aufgesaugt. Jede noch so kleine oder vermeintliche Neuigkeit. Dieser Prozess nervt und fasziniert gleichermaßen und er beginnt meist so:
Irgendjemand will irgendetwas von irgendjemandem, der demjenigen, um den es geht, nahe steht, erfahren haben und irgendwie erfährt davon irgendein Journalist oder Medium. Dann taucht das unerhörte Gerücht erstmals auf: Paris Saint-Germain will Neymar vom FC Barcelona, heißt es etwa. Im ersten Moment wirkt es absurd, aber es ist letztlich der erste Schritt zum Transfer und löst in der Welt des Fußballs zu allererst Augenrollen, Kopfschütteln oder ein entrüstetes "Wird niemals passieren!" aus. Bei den Fans der involvierten Vereine löst es dagegen entweder Angst oder Vorfreude aus. Vermeintlicher Hoffnungsträger oder Verräter, je nachdem. Man schwärmt oder bangt.
Meist verschwindet das Gerücht so schnell, wie es aufgetaucht ist, aber manchmal bleibt das Gerücht hartnäckig und entwächst langsam dem Status des Gerüchts. Es wird konkreter, es wird über die Begleiterscheinungen spekuliert. Welche Ablösesumme? Welcher Transferzeitpunkt? Welche Vertragslaufzeit? Welches Gehalt? Und was bedeutet all das eigentlich für den abgebenden Verein? Wen könnte er mit dem eigenommenen Geld als Ersatz verpflichten? Und für welche Ablösesumme? Ein Kreislauf, der sich wiederholt und wiederholt.
Wie bei der Wetter-Prognose
Es wird dann über angebliche Angebote und Forderungen der Vereine und des Spielers spekuliert. Meist weiß keiner, ob es sie tatsächlich gibt. Eine Quelle zitiert die andere, alle Informationen werden aufgesogen und auf Wahrheitsgehalt geprüft. Eine Prüfung, die nie ganz sicher ist, denn die vermeintliche Wahrscheinlichkeit eines Transfers wogt auf und ab. Mal ist er fast fix, mal vermeintlich gescheitert. Es gibt Prozentangaben, die vertrauenswürdig sind wie Wetter-Prognosen. Wahrscheinlich regnet es, es könnte aber auch die Sonne scheinen. Wahrscheinlich wechselt er, er könnte aber auch bleiben.
Gegiert wird nach Updates und dafür gibt es Journalisten wie Gianluca di Marzio. "Transfer-Experte" wird geraunt, wenn über ihn gesprochen wird. Der Italiener berichtet über Fußball, aber sein Kerngebiet ist nicht die Taktik sondern der Transfermarkt. In der öffentlichen Wahrnehmung steigt die Werthaltigkeit eines Gerüchts, wenn er oder Vertreter seiner Spezies davon berichten. Wer einen Transfer frühzeitig korrekt ankündigt, dem ist Anerkennung und auch Vertrauen gewiss. Anerkennung und auch Vertrauen werden größer, je öfter sich die Ankündigungen bewahrheiten.
Irgendwann heißt es dann jedenfalls: "Es passiert tatsächlich." Wenig später vermeldet der Verein den Transfer auf seiner Homepage. Die, die es wussten oder ahnten, lassen sich feiern, während für die Fans der beteiligten Vereine aus dem vermeintlichen Hoffnungsträger und Verräter ein tatsächlicher wird.
Der immer gleiche Erzählstrang
Viel Geld hat der Spieler meist gekostet und wenn er mehr gekostet hat als jeder andere zuvor, wird besonders gerne über die Berechtigung der Summe spekuliert. Experten oder sogenannte Experten kommen zu Wort. Solche, die die Ablösesumme für akzeptabel halten, und solche, die nicht. Die Argumente der Lager sind Sommer für Sommer und Transfer für Transfer die gleichen. "Unmoralisch! Kein Mensch ist so viel Geld wert!", rufen die einen entrüstet. "Rentabel! Der Markt regelt den Preis!", die anderen beschwichtigend.
Beide Argumente sind wahr, umso angeregter lässt sich darüber diskutieren. Und wenn schließlich alles besprochen ist, wird gewartet auf den nächsten Transfer. Oft einen, den der ursprüngliche ausgelöst hat. Neymar ist weg, also sucht der FC Barcelona einen Nachfolger: Ousmane Dembele von Borussia Dortmund vielleicht? Und der Prozess startet von vorne.
"Das Publikum schwankt zwischen Faszination und Abscheu, aber es ist eine heuchlerische Empörung, die meisten schauen weiter gebannt zu, wenn Profifußball gespielt wird", schrieb die NZZ neulich treffend über das Getöse um den Neymar-Transfer. Das Publikum schaut aber nicht nur dann weiter gebannt zu, wenn Profifußball gespielt wird, sondern auch, wenn auf dem Transfermarkt gehandelt wird.
Ein Slogan für den Transfermarkt an sich
Obwohl er nur leicht abgeänderte Wiederholungen eines stets gleichen Erzählstrangs liefert, sorgt der Transfermarkt mit all seinen Begleiterscheinungen für eine allumfassende Faszination. Und kaum einer entzieht sich dieser. Es ist diese Vorstellung eines bestimmten Spielers in einer bestimmten Mannschaft, womöglich der eigenen, die fesselt. Es sind aber auch diese abstrusen, unvorstellbaren Summen, um die es geht. Sie begeistern und schockieren.
"Revons plus grand!" steht derzeit überall in Paris, wo der 222 Millionen Euro teure Neymar vorbeiläuft: "Lasst uns größer träumen!" Ein durchaus passender Slogan, nicht nur für Paris und Neymar sondern den Transfermarkt an sich. Er ist schließlich eine Fantasiewelt mitten in der Realität. Als solcher regt er zum Träumen an - und gibt Gesprächsstoff. Sommer für Sommer.