Per Mertesacker wurde 2014 mit der deutschen Nationalmannschaft in Brasilien Weltmeister und ist aktuell Leiter der Jugend-Akademie des FC Arsenal. Dabei sah es lange Zeit überhaupt nicht so aus, als könnte der 34-Jährige eine große Karriere im Fußball hinlegen.
Im Interview mit SPOX und Goal spricht der DAZN-Experte über seine Anfänge, sein missratenes Bundesliga-Debüt und seinen Durchbruch. Der frühere Innenverteidiger erinnert sich an einen Anruf von Jürgen Klinsmann und erzählt von seinem komplizierten Umgang mit dem Spott der Presse. Außerdem dabei: Eine Liebeserklärung an Ewald Lienen.
Herr Mertesacker, welche Sportart hätten Sie wohl gewählt, wenn Ihr Vater Stefan Sie als vierjährigen Knirps nicht auf den Fußballplatz des TSV Pattensen geschleppt hätte?
Per Mertesacker: Meine Familie war ziemlich offen, was Sport angeht. Wir waren häufig laufen und schwimmen, als Kind war ich im Tennis- und Tischtennisverein. Da war durchaus Potenzial da. Aber irgendwie haben mich Einzelsportarten nicht so in den Bann gezogen. Auch, weil ich gesehen habe, was für ein krasser Weg es beispielsweise im Tennis ist, den man alleine gehen muss. Letztlich war dennoch mein Vater die treibende Kraft, die mich zum Fußball gebracht hat. Er war schon immer fußballbegeistert, war Trainer und hat es selbst als Spieler bis in die 4. Liga geschafft. Gleichzeitig war bei mir von Beginn an der Spaß und Wille da. Deshalb habe ich mich glücklicherweise mit zwölf Jahren in Richtung Fußball spezialisiert.
Wie kam danach der Wechsel in die Jugend von Hannover 96 zustande?
Mertesacker: Damals gab es noch keine Scouts, die irgendwo gelauert haben. Es war so, dass wir mit dem TSV Pattensen sehr erfolgreich und ein ernsthafter Herausforderer der Hannoveraner Jugend waren. Deshalb wurde Hannover auf uns aufmerksam. Wir sind dann als Gruppe gewechselt: mein Vater, sein Co-Trainer und drei Jugendspieler, zu denen auch ich gehörte. Aber ganz ehrlich, die anderen beiden Jungs waren talentierter. Ich bin nur so reingerutscht.
War Ihr Vater ausschließlich eine Hilfe für Sie als Fußballer oder war es teilweise schwierig, unter seinen Fittichen zu trainieren?
Mertesacker: Das war Fluch und Segen zugleich. Ohne meinen Vater wäre ich wahrscheinlich nie bei 96 gelandet. Auf der anderen Seite merkte ich im Laufe der Zeit, dass ich diesem Konflikt, den diese Konstellation mit sich bringt, gerne aus dem Weg gehen würde. Ich wollte irgendwann auf eigenen Füßen stehen und nicht ständig mit der Diskussion konfrontiert sein, dass ich ja nur dabei sei, weil mein Vater Trainer ist.
War Ihr Vater als Trainer Ihnen gegenüber im Vergleich zu anderen Jugendspielern kritischer oder nachsichtiger?
Mertesacker: Das war für ihn und für mich eine schwierige Situation. Als Trainer will man sein Kind eigentlich weder bevorteilen noch überkritisch behandeln. Dabei kann sich die Wahrnehmung von außen von meiner Wahrnehmung als Sohn komplett unterscheiden. Man kann nicht richtig Vater sein, man kann nicht richtig Trainer sein, man kann nicht richtig Sohn sein und man kann nicht richtig Fußballer sein. Es hat mir sehr geholfen, als es sich irgendwann ergeben hat, dass ich auch mal einen anderen Trainer bekommen habe.
In der Zweitliga-Saison 1994/1995 wurde Ihr Vater als Nachfolger von Rolf Schafstall sogar mal eine Woche Interimstrainer der 96-Profis. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Tage?
Mertesacker: Ich weiß noch, dass ich für das eine Spiel, in dem er Trainer war, in der VIP-Loge sitzen durfte. Er ist übrigens als Hannover-Trainer ungeschlagen, die Partie gegen den FSV Zwickau endete 1:1. (lacht) Es war toll, das mitzuerleben. Gleichzeitig erinnere ich mich, wie unfassbar weit weg mir dieses Profigeschäft damals vorgekommen ist. Ich wäre zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht auf die Idee gekommen, dass es für mich erreichbar sein könnte.
Es heißt sogar, Sie hätten sich als Jugendlicher überlegt, die Fußball-Schuhe komplett an den Nagel zu hängen. Stimmt das?
Mertesacker: Zur Einordnung: Ich war als Fußballer schon begabt. Wenn man aber von einem Talent gesprochen hat, ging es um die Jungs, die offensichtlich das Zeug zum Profi hatten. Zu dieser Kategorie gehörte ich nicht. Ich bin zu schnell gewachsen und hatte deshalb Schmerzen, war immer wieder verletzt und habe sogar einmal eine ganze Saison verpasst. Ich konnte damals mit anderen Spielern in meinem Alter auf diesem Niveau schlichtweg nicht mithalten, habe teilweise kein Land gesehen. Mein Vater meinte irgendwann, dass der nächste Schritt nun wohl nicht mehr drin sei. Dann machten wir uns natürlich Gedanken, wie es weitergehen soll. Wir beschlossen, dass ich mich auf die Schule konzentriere und Fußball eher ein ambitioniertes Hobby ist.
Wann gab es diesen Moment, in dem Ihnen klar wurde, dass die Entwicklung doch noch nicht zu Ende ist?
Mertesacker: Erstmal ging es darum, drin zu bleiben in der 96-Jugend. Ich habe in dieser Phase vom Posten meines Vaters als Hannovers Jugendleiter profitiert. Da wurde schon mal noch der letzte Platz im Kader für mich freigehalten, was heute nicht mehr denkbar wäre. Dann gab es immer wieder Momente, die wie die Faust aufs Auge für mich gepasst haben. Die Einführung der Viererkette beispielsweise, die in der B- und A-Jugend vorgenommen wurde. Und ich entwickelte mich gut, war ausgewachsen, meine Schnelligkeit und Gedankenschnelligkeit verbesserte sich. Plötzlich habe ich gemerkt, dass ich mit denen, die vor ein, zwei Jahren noch so weit vor mir erschienen, mithalten konnte. In diesen Momenten war ich mental brutal stark und habe sozusagen zum Angriff geblasen. Glücklicherweise konnte ich das alles in Ruhe machen. Geld spielte damals noch keine Rolle und es haben dich keine Berater zugetextet. Das war normaler als heute und deswegen besser zu verdauen.
gettyWenn man Leistungssportler werden möchte, ist Verzicht in der Pubertät unumgänglich. Ist Ihnen das schwer gefallen?
Mertesacker: Eigentlich nicht. Ich habe Sport geliebt und es als Vorteil gesehen, mich des Gruppenzwangs zu entziehen und zu sagen: "Ich kann jetzt hier nicht mit euch rumstehen und noch eine durchziehen. Ich muss zum Training." Ich sage es mal so: Von zehn Gartenpartys war ich auf einer. Es ist natürlich wichtig, verschiedene Momente zu genießen oder auch mal Erfolge zu begießen. Das gilt für einen Jugendlichen genauso wie für einen Fußballprofi.
Sie haben das Thema Geld bereits angesprochen. Stimmt die Geschichte, dass Ihr Vater die 2000 Euro, die Sie für Ihren ersten Vertrag erhalten sollten, nicht angemessen fand und auf weniger bestand?
Mertesacker: Ja. Damals gab es für die ersten Profiverträge bei Hannover 2000 Euro brutto im Monat. Es ging dabei übrigens darum, die Quote zu erfüllen. Man musste 14 deutsche Spieler im Bundesliga-Kader haben. Deshalb wurden immer zwei, drei Jungendspieler Quoten-Profis, spielten aber in aller Regel in der zweiten Mannschaft und trainierten mit den Profis. So war es auch bei mir. Jedenfalls war es während der Verhandlung so, dass mein Vater auf die Bremse trat und meinte: "1600 Euro brutto müssen reichen." Es ging nicht ums Geld, sondern darum, die Möglichkeit zu bekommen, sich zu verbessern. Ehrlicherweise muss man auch sagen, dass sich meine Familie das auch leisten konnte, weil mein Vater gut verdient hat. Nach ein paar Monaten hat 96 aber doch auf 2000 Euro aufgestockt, weil sie gemerkt haben, dass ich kein ganz Blinder bin.
Im Alter von 19 Jahren machten Sie unter Ralf Rangnick Ihr erstes Bundesligaspiel. Er setzte Sie als Rechtsverteidiger ein, wechselte Sie zur Halbzeit aus und vom Kicker gab es die Note 5. Ein gelungenes Debüt sieht anders aus.
Mertesacker: Immerhin haben wir das Spiel in Köln gewonnen. (lacht) Ich hatte zuvor noch nie als rechter Verteidiger gespielt und war nach 45 Minuten völlig platt. Das war körperlich und mental alles zu viel für mich, mir war regelrecht schwarz vor Augen. Steven Cherundolo, für den ich in die Startelf gerückt war, wurde für mich eingewechselt. Anschließend hat es ein halbes Jahr gedauert, bis ich wieder eine Chance erhielt.
War es letztlich trotzdem ein positives Gefühl, den ersten Bundesliga-Einsatz auf der Visitenkarte zu haben?
Mertesacker: Ja, das war es tatsächlich. Es hat mir enorm geholfen, mich selbst einmal auf der Bundesliga-Bühne zu sehen und zu begreifen, wie hart ich dafür arbeiten und dass ich mich in allen Bereichen deutlich verbessern muss.
Wie bewerten Sie die Zeit unter Rangnick rückblickend?
Mertesacker: Rangnick und sein damaliger Co-Trainer Mirko Slomka waren gute Typen, die mir sehr geholfen haben. Rangnick ging sogar mit mir in die Schule und half bei der Organisation, wie wir beides unter einen Hut bekommen können. Es war eine unglaublich tolle Erfahrung, dass so erfahrene Menschen sich auf und außerhalb des Platzes so viel Zeit für mich nehmen. Da kann ich nur dankbar sein.
Rangnick musste Hannover jedenfalls im Laufe der Saison verlassen, Ewald Lienen übernahm. Und er schenkte Ihnen sofort das Vertrauen.
Mertesacker: Mit Ewald hat es total gepasst. Er hat uns zu einer geschlossenen, leidenschaftlichen Einheit geformt. Ich durfte in der Innenverteidigung spielen, wir haben an den letzten zehn Spieltagen das Ruder herumgerissen und den Abstieg verhindert. Es war für mich eine verrückte Zeit, in der ich zwischen Abi-Stress und Matheprüfung am Samstag in der Bundesliga Leistung bringen musste.
gettyWie haben Sie Lienen als Typen wahrgenommen?
Mertesacker: Als Lienen kam, hatte ich das Bild vom "Zettel-Ewald" in meinem Kopf. Dieses Bild hat sich ganz schnell verändert. Bei aller Verbissenheit, bei allem Ehrgeiz und den deutlichen Ansprachen, war er unglaublich humorvoll. Ich erinnere mich, wie er einen Tag vor einem Spiel in Sitzungen immer noch einmal die Woche zusammengefasst und alle aufs Korn genommen hat. Medienvertreter, Jiri Stajner wegen seiner Vorliebe für schnelle Autos, seinen Co-Trainer Michael Frontzeck, der nur noch mit dem Kopf geschüttelt hat, oder auch sich selbst - jeder bekam einen Spruch ab. Ewald ist ein toller Mensch mit einer tollen Balance zwischen Ernst und Spaß, der niemals vergessen hat, dass es auch außerhalb des Fußballs ein Leben gibt. Verhaltensweisen wie Lachen und Freundlichkeit waren ihm sehr, sehr wichtig. Auch deshalb bin ich bis heute in Kontakt mit ihm. Es macht einfach Spaß, mit diesem Menschen Zeit zu verbringen und sich von ihm Geschichten von früher anzuhören.
2006 wechselten Sie von Hannover zu Werder Bremen. Gab es eigentlich auch andere Angebote?
Mertesacker: Ich wusste von einem losen Interesse des FC Bayern und des Hamburger SV, habe mich aber frühzeitig für Werder entschieden. Das hatte einerseits damit zu tun, dass mich Werder-Spieler wie Miroslav Klose, Torsten Frings oder Tim Borowski, die auch in der Nationalmannschaft spielten, in die Mangel genommen und gesagt haben: "Du kommst zu uns." Andererseits hatte es mit der Bremer Führungsriege zu tun. Als ich mich mit Thomas Schaaf und Klaus Allofs unterhalten hatte, war sofort klar, wohin die Reise geht.
Apropos Nationalmannschaft. Sie wurden bereits 2004 Nationalspieler und gaben bei der Partie im Iran Ihr Debüt. Erinnern Sie sich an den Anruf vom damaligen Bundestrainer Jürgen Klinsmann?
Mertesacker: Ganz genau sogar, so etwas vergisst man nicht. Das war am 29. September 2004, meinem 20. Geburtstag. Ich saß bei meiner damaligen Freundin auf dem Sofa. Es war ein surreales Gefühl, plötzlich Klinsmann am anderen Ende der Leitung zu haben und ihn sagen zu hören: "Wir wollen frischen Wind in der Nationalmannschaft haben. Du bist jetzt dabei." Das hat vieles verändert.
Logischerweise wurden Sie deshalb immer bekannter. Wie sind Sie damit umgegangen, immer häufiger auf der Straße erkannt zu werden?
Mertesacker: Für mich lief es in der Zeit fast ausschließlich gut, was dazu führte, dass ich meistens eine positive Rückmeldung von den Leuten auf der Straße bekommen habe. Deshalb war es für mich okay. Und ganz ehrlich: Wenn wir schlecht waren oder verloren haben - das war auch nach meiner Zeit in Hannover so - bin ich nie in die Öffentlichkeit gegangen. Ich brauchte für mich eine gewisse Rechtfertigung, um mich blicken lassen zu können.
Eigentlich ein furchtbarer Gedanke, dass man sich sozusagen dem Volk nur dann zugehörig fühlen kann, wenn man ein Fußballspiel gewonnen hat.
Mertesacker: Da haben Sie total Recht! Aber ich habe als Spieler tatsächlich so getickt.
gettyHaben Sie in Zeiten, in denen es nicht so lief, eigentlich die Berichterstattung in den Medien überhaupt verfolgt? Christoph Metzelder und Sie wurden als Innenverteidigung des Nationalteams beispielsweise einmal vom Boulevard als "Schnarch und Schleich" verspottet.
Mertesacker: Als junger Spieler ist es schwierig, mediale Kritik zu verdauen, weil man dazu neigt, sie persönlich zu nehmen. Das gilt vor allem dann, wenn nicht objektiv die Leistung auf dem Platz beurteilt wird, sondern es tatsächlich ins Persönliche geht. Man lernt deshalb schnell, die Zeitungen nach schlechten Leistungen beiseite zu lassen. Das bedeutet nicht, dass man nicht mit sich selbst kritisch umgehen soll - im Gegenteil. Ehrliches Feedback von Trainern oder von Freunden anzunehmen, ist wichtig.
Haben Sie solche Freunde auch im Fußball-Business gefunden?
Mertesacker: Ich habe das Glück, ab und zu nach Hannover zurückzukommen und dort noch Jungs der alten Riege treffen zu können. Beispielsweise stehe ich mit Hanno Balitsch, Steven Cherundolo, Altin Lala und Christoph Dabrowski regelmäßig in Kontakt. Das sind alles Leute, bei denen man merkt, dass sie einen auch gerne wiedersehen und mit denen man Spaß hat, sich an alte Zeiten zu erinnern.