Mit den Ohren sehen: Wie blinde und sehbehinderte Fans Fußball erleben

Louis Loeser
12. September 201918:26
Florian Schneider (l.) arbeitet als Blindenreporter bei Darmstadt 98 und für das Projekt T_OHR.Simone Heil
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Tanja Schätzle ist von Geburt an sehbehindert und geht fast jede Woche ins Stadion. Möglich ist das nur dank Blindenreportern wie Florian Schneider.

Am Hauptbahnhof gibt es die ersten Probleme. Es ist viel los an diesem Samstagmorgen in Heidelberg. Tanja Schätzle ist mittendrin. Tanja, 31 Jahre alt, ist auf dem Weg nach Stuttgart. Dort will sie sich das Zweitligaspiel ihres VfB Stuttgart gegen den FC St. Pauli anschauen. Beim Umsteigen wird es kompliziert, die Koordination im hektischen Treiben bereitet ihr Probleme. Tanja ist sehbehindert.

Bereits von Geburt an muss sie mit ihrer Beeinträchtigung leben. Früher sah sie besser, rund 60 Prozent, sagt sie im Gespräch mit SPOX undGoal. Heute sind es nur noch zwischen zehn und 15 Prozent. "Das schwankt hin und wieder. Ich kann die meisten Dinge schon wahrnehmen, aber Details sehe ich nicht wirklich", erklärt sie.

Sehbehinderte VfB-Anhängerin: "Es ist die besondere Stimmung, die mich so sehr fesselt"

In der Mercedes-Benz-Arena angekommen, kann Tanja durchatmen. Hier in Stuttgart ist die Situation besser als in anderen Stadien, denn hier kennt sich Tanja aus und hat seit Jahren ihren eigenen Stammplatz.

Schon vor Spielbeginn singt sich Tanja mit den Fans des VfB ein. Für sie ist es genau diese Atmosphäre, die den wöchentlichen Gang in den Fußballtempel im Vergleich zum Fernsehen unersetzlich macht. "Es ist die besondere Stimmung, die mich so sehr fesselt", sagt sie.

Anpfiff: Mit einem Fernrohr ausgestattet, beobachtet Tanja gespannt die Partie. Bei der Orientierung hilft ihr vor allem die Stadionkulisse: "Wenn ich zum Beispiel bei einer Abseitsentscheidung nicht genau weiß, was los ist, sind die Fans ein guter Indikator."

Um immer zu wissen, welcher ihrer Stars gerade am Ball ist, baut sie sich Brücken, die aus ihrer Erfahrung resultieren. "Manchmal bin ich selbst darüber verwundert, aber manche Spieler erkenne ich an ihrer Gangart. Auch die teilweise grellen Schuhfarben können Anhaltspunkte sein", erzählt Tanja.

Tanja Schätzle: Dank der Blindenreportage verpasst sie nichts

Als Mats Möller Daehli die Gäste aus Hamburg in der 18. Minute in Führung bringt, weiß Tanja genau Bescheid. Über ihre Kopfhörer hört sie den Blindenreporter auf der Pressetribüne: "Jetzt hat Conteh den Ball am linken Strafraumeck, lässt zwei Stuttgarter stehen, zieht in den Strafraum und legt ab auf Möller Daehli. Der Däne zieht ab und trifft flach mit der Innenseite ins rechte Toreck! Was für ein schönes Tor von Sankt Pauli!"

Die zumeist ehrenamtlichen Reporter beschreiben ihren Hörern haargenau, was gerade passiert, damit auch gänzlich Blinde im Stadion das gesamte Spielgeschehen bestmöglich nachverfolgen können. "Für mich ist es wichtig, dass es eine gute Verortung gibt, sodass ich immer weiß, wo der Ball ist", sagt Tanja. Der Unterschied zum klassischen Fernsehkommentar ist dabei gravierend.

Florian Schneider, Blindenreporter beim SV Darmstadt 98 und hauptamtlich für das Projekt T_OHR tätig, erklärt dazu im Gespräch mit SPOX und Goal: "Beim Kommentar werden viele Dinge wie zum Beispiel Statistiken genannt. Auch werden häufig Aktionen bewertet. Unter 'oh schön' kann sich der Blinde aber nichts vorstellen."

Bereits 1999 feierte die Blindenreportage bei der Partie Bayer Leverkusen gegen den SSV Ulm ihre deutsche Premiere. Durch die WM 2006 kam der Durchbruch. Mittlerweile ist sie, mit der Ausnahme des SV Wehen Wiesbaden, in allen Erst- und Zweitligastadien vertreten - und auch einige Dritt- und Regionalligisten haben schon nachgezogen.

"Eine detailliertere und qualitativ hochwertigere Radioberichterstattung"

Eine klassische Ausbildung gibt es für die geschätzten 200 bis 300 deutschen Blindenreporter derweil noch nicht, die DFL bietet jedoch schon seit Jahren Schulungen an. Das AWO-Passgenau-Projekt T_OHR, bei dem Florian von Beginn an dabei war, arbeitet derzeit zudem gemeinsam mit der DFL an einer offiziellen Zertifizierung für Blindenreporter, um die bereits hohe Qualität nachhaltig zu festigen.

Die Blinden und Sehbehinderten empfangen die Reportage meistens über einen kleinen Funkempfänger, den sie vorher im Stadion ausgehändigt bekommen. Mittlerweile finden jedoch auch Radiosysteme Verwendung, durch die man die Reportage von jedem Platz aus nutzen kann. Auch die Zweitverwertung als Webradio ist üblich. Dadurch wird der Service auch für Sehende zum Mehrwert.

"Ich sage immer, dass eine Blindenreportage eine detailliertere und qualitativ hochwertigere Radioberichterstattung ist. Der Mensch zuhause, der das Spiel nicht sieht, ist in diesem Moment ja auch blind und möchte das Spiel genau beschrieben bekommen", erzählt Florian. So erreicht der Mainzer pro Spieltag im Schnitt 1.200 Lilien-Fans, die das Spiel dank ihm am Rechner verfolgen.

Tickets werden immer begehrter: Tanja wünscht sich einheitliche Regelungen

Auch bei der eigentlichen Zielgruppe, den Blinden und Sehbehinderten, wird der Run auf die Reportage stetig größer. Für Tanja wird diese positive Entwicklung immer mehr zum Problem. "Ich habe das Gefühl, dass entweder das Interesse immer weiter wächst oder die Anzahl der Plätze immer weiter abnimmt", beklagt sie.

So sind die Tickets in den vielen Stadien sehr begrenzt. "Viele Vereine haben gerade einmal 25 Plätze oder sogar noch weniger", sagt Tanja. Außerdem geben die Vereine häufig erst kurzfristig Bescheid, ob man Tickets erhält. "Da ist es schwierig, eine Begleitung zu finden und die Zugfahrt zu organisieren", verrät sie und wünscht sich deshalb einheitliche Fristen und Regelungen zur Ticketvergabe.

Um gemeinsam diese Probleme anzugehen, stehen die Blindenreporter und ihre Hörer oft in regem Austausch. Zudem lädt die DFL zu ihrem jährlichen Expertenforum in der Sportschule Kamen-Kaiserau auch Blinde und Sehbehinderte ein. Sie sind die Experten auf diesem Gebiet und ihr Feedback ist für Reporter wie Florian unersetzlich um die Qualität stetig zu steigern.

Tanja indes wünscht sich, dass ihre Vorschläge nicht nur angehört, sondern letztlich auch umgesetzt werden. Sie fordert: "Es müsste meiner Meinung nach mehr daran gearbeitet werden, Menschen zu ermöglichen, dieses Angebot wahrzunehmen."