Ex-DFL-Geschäftsführer Andreas Rettig im Interview: "Die Bayern haben das Rattenrennen nicht mitgemacht"

Philipp Schmidt
22. September 202111:06
Andreas Rettig hält das Verhalten des FC Bayern auf dem Transfermarkt für "wohltuend".imago images
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Andreas Rettig führte die DFL von 2013 bis 2015 als Geschäftsführer an und gilt seit jeher als Kritiker der Entwicklungen im Fußball sowie Mann der klaren Worte. Im Interview mit SPOX und Goal spricht er über den Transfer-Irrsinn trotz der Corona-Pandemie und verteilt ein Lob an den FC Bayern.

Außerdem erklärt Rettig, der zudem als Manager bei Freiburg, Köln, Augsburg und St. Pauli arbeitete, warum er nichts von Peter Peters als kommendem DFB-Präsidenten hält, wieso der Stellenwert der Bundesliga wieder größer werden muss und wie die zunehmende emotionale Entfremdung der Fans aufgehalten werden kann.

Herr Rettig, Sie haben zuletzt mit einem Anruf im Sport1-Doppelpass für Aufsehen gesorgt, bei dem Sie die derzeitige DFB-Führung um Interimspräsident Peter Peters kritisierten. Was war ihr Ansinnen?

Rettig: Ich habe den Finger in die Wunde gelegt, was die Frage des Systems angeht: dass der DFB im eigenen Saft schmort und es unglaublich schwer ist, frische Kräfte von außen dazuzubekommen, egal ob männlich oder weiblich. Das System als solches fördert die Struktur des closed shops.

Besonders auf Herrn Peters hatten Sie es abgesehen ...

Rettig: Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich ihn nicht für den geeigneten Kandidaten für das Amt des Präsidenten halte. Ich kenne ihn ja aus meiner Zeit bei der DFL noch gut. Sein Auftritt im Doppelpass hat bei mir zu keinem Sinneswandel geführt.

Einer Ihrer Hauptkritikpunkte war die Tatsache, dass eine "Ochsentour" und das Schmieden von Allianzen im Verband dafür notwendig sei, um an die DFB-Spitze zu kommen und dies ein Grund dafür gewesen sei, dass die Amtszeiten der Ex-Präsidenten Niersbach und Keller verhältnismäßig kurz waren.

Rettig: Das kann Zufall sein, ich glaube aber nicht daran. Das Auswahlverfahren, die Kriterien und der Weg zur Besetzung des Postens müssen auf den Prüfstand gestellt werden. Damit wir uns nicht missverstehen: Es gibt auch im bisherigen System kluge und erfahrene Leute. Es ist aber sicherlich von Vorteil, wenn man auch einmal Gedanken von Außenstehenden zulässt.

Sie brachten als Lösungsansatz eine Nachwuchsgruppierung nach dem Vorbild der Jungen Union ins Spiel. Wie stellen Sie sich das vor?

Rettig: Damit wollte ich aufzeigen, dass wir auch von der Politik etwas lernen können. Das können auch die Jusos oder die grüne Jugend sein. Das wäre ein Schritt nach vorne. Es geht um eine Interessenvertretung unterschiedlicher Bereiche, die Gehör, Sitz und Stimme hat. Die Schwarmintelligenz bei sieben Millionen Mitgliedern muss genutzt werden - Potenzial liegt brach. Ganz wichtig ist zudem die Richtlinienkompetenz, die beim DFB und nicht bei der DFL liegen muss.

Wie blicken Sie, der häufig die Wichtigkeit der sportlichen Integrität betont, auf die jüngsten Transfertätigkeiten einiger Top-Klubs in Zeiten von Corona?

Rettig: Es zeigt sich ganz klar: Es gibt keinen Wettbewerb mit gleichen Waffen und Voraussetzungen. Ich habe schon oft genug die Bayern kritisiert, aber ich finde es fast schon wohltuend, wie sie sich verhalten und dieses Rattenrennen nicht mitgemacht haben. Die Zahlen sprechen für sich: Es ist unerlässlich, die Einnahmen und Ausgaben in Einklang zu bringen. Die Bundesliga ist unter den Top-Nationen das einzige Land, das einen Transferüberschuss erwirtschaftet hat - von über 50 Millionen Euro.

Was schlussfolgern Sie daraus?

Rettig: Ich habe es nie verstanden, warum die Premier League so glorifiziert wird. Der Umsatz ist weitaus höher, was nicht nur an den selbst verdienten Erlösen, sondern auch an Finanzspritzen der Investoren liegt. Deshalb verteidige ich bis heute aus tiefster Überzeugung unser 50+1-Modell. Investoren sind immer willkommen, solange sie die sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Wurzeln respektieren. Sie sollten die Herzen der Fans erreichen und nicht nur deren Portemonnaie.

Was sagen Sie Fans der deutschen Top-Vereine, wenn diese in der Folge international immer mehr an Boden verlieren sollten?

Rettig: Ganz einfach: Der nationale Wettbewerb muss wieder viel mehr in den Vordergrund gerückt werden. Die Frage ist: Wohin wollen wir im europäischen Fußball? Ein Wettstreit mit Oligarchen und Staatsfonds kann nicht in unserem Interesse sein. Dieses ruinöse Wettrennen ist sowieso nicht zu gewinnen. Es ist eine irrsinnige Annahme zu glauben, dass Mbappe für 230 Millionen zum FC Bayern wechseln würde. Dann würde PSG eben 250 Millionen bezahlen. Der größte Fehler wäre es, dafür den nationalen Wettbewerb zu beschädigen.

Ist es dafür nicht schon zu spät?

Rettig: Dieses Gefühl kann man haben. Das Rad werden wir nicht zurückdrehen können, aber wir sollten zumindest das Tempo verlangsamen. Wir müssen eine Allianz der Vernünftigen schaffen, um wieder für eine höhere Integrität in den Wettbewerben zu sorgen. Auch Vorgaben der Politik gehören dazu, denn: Investorenvereine, denen es einzig ums Geld verdienen geht, werden sich nicht von selbst besinnen.

Was stellen Sie sich vor?

Rettig: Es muss eine Balance zwischen selbst erwirtschafteten Einnahmen und Ausgaben geschaffen werden. Ein Umgehen muss viel klarer und härter sanktioniert werden. Wenn Sportgerichte wie der CAS letztlich von den Investorenklubs in die Knie gezwungen werden, ist das frustrierend und hilft auf lange Sicht dem System und Wettbewerb nicht.

Und ansonsten?

Rettig: Investitionen in gesellschaftliche Verantwortung müssten viel stärker eingefordert werden. Dies könnte dazu führen, dass der eine oder andere Investor sein Engagement überdenkt, weil er spürt: Damit kann ich ja doch nicht so viel Geld verdienen!

Haben Sie das Gefühl, dass sich durch Modifizierungen beim Financial Fairplay die Dinge in die richtige Richtung bewegen?

Rettig: Mir fehlt jeglicher Glaube dafür, dass diejenigen, die uns in diese Misere gebracht haben, plötzlich aus Überzeugung den Kurs wechseln und zu einer gerechteren Wettbewerbssituation beitragen.

Weshalb wir also den Fokus auf die Bundesliga legen sollten?

Rettig: Das Brot- und Buttergeschäft ist nun einmal der nationale Wettbewerb. Wir müssen andere Anreize schaffen. Das meine ich mit der Allianz der Vernünftigen und das gilt auch auf internationaler Ebene. Nicht alles ist dem Diktat des sportlichen Erfolgs zu unterwerfen, der dann auch noch überproportional belohnt wird. Je höher der Jackpot, desto höher die Einsätze. Dies fördert eine Hasardeur-Mentalität, die ungesund ist, wie bei Barcelona erkennbar. Diese Kette muss unterbrochen werden. 50+1 hat dazu geführt, dass eine stärkere emotionale Bindung der Fans zum Verein entstanden ist. Dieses Wir-Gefühl zeigt sich in Corona-Zeiten auch deutlich bei den Spielern beim Thema Gehaltsverzicht: Während in Deutschland mein Verein unterstützt wurde, war die Bereitschaft in der Premier League bei 16 Milliardärsklubs geringer. Die Spieler fragen sich: Soll ich den Reichtum des Milliardärs noch mehren? Eine Branche, die mit und durch die Öffentlichkeit ihr Geld verdient, braucht gesellschaftliche Akzeptanz. Und diese schwindet.

Was folgern Sie daraus?

Rettig: Wollen wir einen Mehrwert gesellschaftlicher Art schaffen oder wollen wir Henkelpötte? Ich hätte überhaupt kein Problem damit, wenn man nicht Champions-League-Sieger wird. Lasst doch die Investorenklubs ihren Wettbewerb fortsetzen und weiter Geld verbrennen.

Zurück zum Thema 50+1: Als DFB-Geschäftsführer waren Sie nach dem Aufstieg von RB Leipzig in die 2. Liga auch damit beauftragt, deren Lizenzantrag zu bearbeiten ...

Rettig: Für die Lizenzierung habe ich das so bewertet, dass ich einen Umgehungstatbestand gesehen habe, der dem Geist von 50+1 widerspricht. Den Lesern sollte man nochmal sagen: RB steht für RasenBallsport.

Der Fall landete letztlich beim Lizenzierungsausschuss, der Ihre Entscheidung einkassierte, da es sich um rechtlich nicht eindeutiges Terrain handelte. Gibt es auch andere Vereine mit positiven Entwicklungen in diesem Kontext?

Rettig: Ja, Hannover 96 ist eine Blaupause. Dort ist es gelungen, Mitbestimmung und Teilhabe an einem demokratischen Prozess zu sichern. Dies wurde über die Mitgliederversammlung durch die Auswahl der Personen geregelt, die für das entsprechende System ein klares Votum abgegeben haben.

Was ist Ihnen in diesem Kontext noch wichtig?

Rettig: Ein klares Bekenntnis zu den ESG-Regeln, also Environment, Social und Governance. Alles wird in der Lizenzierung reglementiert, ob es die Lux-Zahlen vom Flutlicht, die Anzahl der Medienarbeitsplätze oder der Einfallswinkel der Kamerapositionen sind. Zu diesen Themen gesellschaftlicher und sozialer Verantwortung

finden sie gar nichts. Jahre später, nachdem ich es bereits beim FC St. Pauli gefordert hatte, wurde nun zart reagiert.

Reicht Ihnen das aus?

Rettig: Ich bin gespannt, was daraus konkret wird. Es würde auf das System einzahlen, denn wir sind dabei, die Generation Z zu verlieren, die für soziale und ökologische Themen auf die Straße geht.

Woran machen Sie diesen Prozess der emotionalen Entfremdung vom Fußball fest?

Rettig: Früher war der Stadionname ein Zeichen der regionalen Herkunft, ob Waldstadion, Neckarstadion oder Dreisamstadion. Wenn wir uns mit Kumpels getroffen und gesagt haben, wir gehen ins Wedaustadion, wusste jeder, was gemeint ist. Wenn ich ihnen heute sage, wir treffen uns im easycredit-Stadion, wissen Sie gar nichts mehr. Das geht weiter mit den Ausgliederungen. Bei der Bundesliga-Gründung gab es nur eingetragene Vereine, zu 100 Prozent gehörten die Klubs den Mitgliedern. Durch neue Gesellschafter wurden die Mitgliederrechte verdrängt, es gab neue Strategien. Durch die fortschreitende Kommerzialisierung war es gefühlt nicht mehr mein Verein.

Ein entscheidender Punkt für viele Anhänger.

Rettig: So ist es. Wenn die Fanbeziehung zur Kundenbeziehung wird, hat der Fußball sein großes Alleinstellungsmerkmal gegenüber der Realwirtschaft verloren. Jeder in der Wirtschaft wünscht es sich, einmal eine Fanbeziehung zu haben, denn die hält in der Regel ein Leben lang.

Sie legen einen großen Wert auf das Gemeinwohl und setzen das auch bei Ihrem Klub aktuellen Viktoria Köln um. Wie geschieht das?

Rettig: In allen Arbeitsverträgen von Entgeltbeziehern bei der Viktoria ist eine solche Gemeinwohlklausel integriert. Das heißt: Mindestens eine Stunde im Monat muss sich jeder für das Gemeinwohl oder sinnstiftend engagieren. Dafür haben wir drei Bereiche identifiziert: Nachhaltigkeit, Soziales und Bildung. Überall haben wir Partnerschaften und Projekte, die wir mit den Spielern besprechen werden. Dann erwarten wir ein Commitment, das Engagement soll mit Leben gefüllt werden.

Abschließend, wo wir gerade schon in der 3. Liga sind: Auch dort leiden viele Traditionsklubs unter finanziellen Problemen und können an frühere Erfolge nicht mehr anknüpfen. Woran machen Sie das fest?

Rettig: Das Problem ist die Aussicht, durch einen Aufstieg an die Millionen-Fleischtöpfe der 2. Liga zu kommen. Dies führt zu wirtschaftlich unvernünftigen Entscheidungen. Nach dem Abstieg bestehen 80 bis 90 Prozent der Kosten weiter, die Erlöse brechen aber signifikant ein. Dieses Szenario kann nicht lange aufrechterhalten werden. Die Verschuldungsspirale beginnt und geht oft mit Personalrochaden auf den Schlüsselpositionen einher. Schnell stecken die Klubs mit einem Bein in der Insolvenz und müssen auf den weißen Ritter hoffen.