Außerdem erklärt Rettig, der zudem als Manager bei Freiburg, Köln, Augsburg und St. Pauli arbeitete, warum er nichts von Peter Peters als kommendem DFB-Präsidenten hält, wieso der Stellenwert der Bundesliga wieder größer werden muss und wie die zunehmende emotionale Entfremdung der Fans aufgehalten werden kann.
Herr Rettig, Sie haben zuletzt mit einem Anruf im Sport1-Doppelpass für Aufsehen gesorgt, bei dem Sie die derzeitige DFB-Führung um Interimspräsident Peter Peters kritisierten. Was war ihr Ansinnen?
Rettig: Ich habe den Finger in die Wunde gelegt, was die Frage des Systems angeht: dass der DFB im eigenen Saft schmort und es unglaublich schwer ist, frische Kräfte von außen dazuzubekommen, egal ob männlich oder weiblich. Das System als solches fördert die Struktur des closed shops.
Besonders auf Herrn Peters hatten Sie es abgesehen ...
Rettig: Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich ihn nicht für den geeigneten Kandidaten für das Amt des Präsidenten halte. Ich kenne ihn ja aus meiner Zeit bei der DFL noch gut. Sein Auftritt im Doppelpass hat bei mir zu keinem Sinneswandel geführt.
Einer Ihrer Hauptkritikpunkte war die Tatsache, dass eine "Ochsentour" und das Schmieden von Allianzen im Verband dafür notwendig sei, um an die DFB-Spitze zu kommen und dies ein Grund dafür gewesen sei, dass die Amtszeiten der Ex-Präsidenten Niersbach und Keller verhältnismäßig kurz waren.
Rettig: Das kann Zufall sein, ich glaube aber nicht daran. Das Auswahlverfahren, die Kriterien und der Weg zur Besetzung des Postens müssen auf den Prüfstand gestellt werden. Damit wir uns nicht missverstehen: Es gibt auch im bisherigen System kluge und erfahrene Leute. Es ist aber sicherlich von Vorteil, wenn man auch einmal Gedanken von Außenstehenden zulässt.
Sie brachten als Lösungsansatz eine Nachwuchsgruppierung nach dem Vorbild der Jungen Union ins Spiel. Wie stellen Sie sich das vor?
Rettig: Damit wollte ich aufzeigen, dass wir auch von der Politik etwas lernen können. Das können auch die Jusos oder die grüne Jugend sein. Das wäre ein Schritt nach vorne. Es geht um eine Interessenvertretung unterschiedlicher Bereiche, die Gehör, Sitz und Stimme hat. Die Schwarmintelligenz bei sieben Millionen Mitgliedern muss genutzt werden - Potenzial liegt brach. Ganz wichtig ist zudem die Richtlinienkompetenz, die beim DFB und nicht bei der DFL liegen muss.
Wie blicken Sie, der häufig die Wichtigkeit der sportlichen Integrität betont, auf die jüngsten Transfertätigkeiten einiger Top-Klubs in Zeiten von Corona?
Rettig: Es zeigt sich ganz klar: Es gibt keinen Wettbewerb mit gleichen Waffen und Voraussetzungen. Ich habe schon oft genug die Bayern kritisiert, aber ich finde es fast schon wohltuend, wie sie sich verhalten und dieses Rattenrennen nicht mitgemacht haben. Die Zahlen sprechen für sich: Es ist unerlässlich, die Einnahmen und Ausgaben in Einklang zu bringen. Die Bundesliga ist unter den Top-Nationen das einzige Land, das einen Transferüberschuss erwirtschaftet hat - von über 50 Millionen Euro.
Was schlussfolgern Sie daraus?
Rettig: Ich habe es nie verstanden, warum die Premier League so glorifiziert wird. Der Umsatz ist weitaus höher, was nicht nur an den selbst verdienten Erlösen, sondern auch an Finanzspritzen der Investoren liegt. Deshalb verteidige ich bis heute aus tiefster Überzeugung unser 50+1-Modell. Investoren sind immer willkommen, solange sie die sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Wurzeln respektieren. Sie sollten die Herzen der Fans erreichen und nicht nur deren Portemonnaie.
Was sagen Sie Fans der deutschen Top-Vereine, wenn diese in der Folge international immer mehr an Boden verlieren sollten?
Rettig: Ganz einfach: Der nationale Wettbewerb muss wieder viel mehr in den Vordergrund gerückt werden. Die Frage ist: Wohin wollen wir im europäischen Fußball? Ein Wettstreit mit Oligarchen und Staatsfonds kann nicht in unserem Interesse sein. Dieses ruinöse Wettrennen ist sowieso nicht zu gewinnen. Es ist eine irrsinnige Annahme zu glauben, dass Mbappe für 230 Millionen zum FC Bayern wechseln würde. Dann würde PSG eben 250 Millionen bezahlen. Der größte Fehler wäre es, dafür den nationalen Wettbewerb zu beschädigen.
Ist es dafür nicht schon zu spät?
Rettig: Dieses Gefühl kann man haben. Das Rad werden wir nicht zurückdrehen können, aber wir sollten zumindest das Tempo verlangsamen. Wir müssen eine Allianz der Vernünftigen schaffen, um wieder für eine höhere Integrität in den Wettbewerben zu sorgen. Auch Vorgaben der Politik gehören dazu, denn: Investorenvereine, denen es einzig ums Geld verdienen geht, werden sich nicht von selbst besinnen.
Was stellen Sie sich vor?
Rettig: Es muss eine Balance zwischen selbst erwirtschafteten Einnahmen und Ausgaben geschaffen werden. Ein Umgehen muss viel klarer und härter sanktioniert werden. Wenn Sportgerichte wie der CAS letztlich von den Investorenklubs in die Knie gezwungen werden, ist das frustrierend und hilft auf lange Sicht dem System und Wettbewerb nicht.
Und ansonsten?
Rettig: Investitionen in gesellschaftliche Verantwortung müssten viel stärker eingefordert werden. Dies könnte dazu führen, dass der eine oder andere Investor sein Engagement überdenkt, weil er spürt: Damit kann ich ja doch nicht so viel Geld verdienen!