EM 2022: Reif für den Titel? DFB-Team ist unberechenbar

07. Juli 202211:50
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Am Freitagabend startet Deutschland gegen Dänemark in die Europameisterschaft. Der große Traum: Nach Gold bei Olympia 2016 endlich wieder einen Titel gewinnen. Aber ist das DFB-Team dafür schon bereit? Eine Analyse der wichtigsten Bausteine auf dem Weg zum Erfolg.

Martina Voss-Tecklenburg sucht derzeit nach einer Balance zwischen hohem Eigenanspruch und der Sensibilisierung dafür, dass eine EM-Teilnahme nicht nur mit dem Titel erfolgreich ist.

Der Bundestrainerin war es während der Vorbereitung auf die Europameisterschaft in den Pressekonferenzen wichtig, darüber aufzuklären, "wie sehr sich der Frauenfußball entwickelt hat. Dass Deutschland immer gewinnt, ist kein Selbstläufer."

Trotzdem blieben die achtmaligen Europameisterinnen seit dem Olympia-Triumph 2016 weit unter ihren Möglichkeiten. "Heute gegen Deutschland zu spielen ist nicht mehr das gleiche Gefühl wie vor vielen Jahren", erinnert sich Bianca Rech im Gespräch mit SPOX und GOAL an die damalige Dominanz. Die sportliche Leiterin des FC Bayern findet, dass der Respekt verloren gegangen sei, mit dem früher gegen das DFB-Team gespielt wurde. Diesen müsse man sich nun wieder erarbeiten.

DFB: Alles auf Angriff?

"Wir haben so viele talentierte Spielerinnen und eine große Qualität im Kader - ein Erfolg wäre elementar wichtig, um im Frauenfußball in Deutschland wieder ein Ausrufezeichen setzen zu können", sagt Rech. Ein Blick auf den Kader untermauert die Meinung der ehemaligen Nationalspielerin.

Vor allem in der Offensive ist das Team so gut besetzt wie kaum ein anderes. Voss-Tecklenburg kann auf dieser Position nahezu ohne Qualitätsverlust hin und her rotieren. Mit den unterschiedlichen Spielerinnentypen kann sie auf nahezu jede Situation reagieren.

Eins-gegen-eins-Spielerinnen mit Tempo wie Shootingstar Klara Bühl, aber auch kluge Spielmacherinnen im Halbraum oder im Zentrum wie Linda Dallmann oder Sydney Lohmann sind Teil des Kaders. Sie kann auf erfahrene Spielerinnen wie Kapitänin Alexandra Popp oder Svenja Huth zurückgreifen und auf junge Talente wie Jule Brand. Dementsprechend sinnvoll wäre es wohl, die Spielweise auf die starke Offensive auszulegen.

Lea Schüller: Die Schlüsselspielerin beim DFB?

Die absolute Schlüsselspielerin im Offensivbereich könnte Lea Schüller werden. Die 24-Jährige ist im Sturmzentrum aktuell gesetzt - und ein Blick auf die Zahlen verrät, warum das so ist. In 38 Länderspielen hat sie 25 Tore erzielt, in 42 Pflichtspielen der abgelaufenen Saison erzielte sie 33 Treffer und bereitete acht weitere vor.

Dabei gab es Saisonphasen, in denen sie sich schwer getan hat mit dem Toreschießen. Im Dezember und Februar gelang der Mittelstürmerin des FC Bayern München in vier Spielen beispielsweise kein einziges Bundesliga-Tor. Rechtzeitig zur EM scheint die Nationalspielerin aber in Form zu sein. "Lea ist eine enorm wichtige Spielerin", lobte die Bundestrainerin während einer Pressekonferenz auf Nachfrage von SPOX und GOAL .

Vor allem die Laufarbeit hob Voss-Tecklenburg hervor. Schüller lenke das Pressing und habe insgesamt sehr gute Laufwege. Tatsächlich bewegt sich die Angreiferin sehr klug auf dem Platz. Immer wieder verschafft sie sich Raum durch Antizipation. Für ihre Tiefenläufe nutzt sie gern den Rücken der Gegenspielerin, um sich im entscheidenden Augenblick ein paar Meter Vorsprung im Antritt zu sichern.

Selbst in Spielen, in denen sie nicht selbst trifft, sorgt sie mit ihrer Bewegungsfreude dafür, dass wenigstens ihre Mitspielerinnen in gute Abschlusssituationen kommen. Darüber hinaus ist Schüller sehr kopfballstark. In der abgelaufenen Saison erzielte sie 13 Tore per Kopf - 0,38 pro 90 Minuten. Nur Marie-Antoinette Katoto (Frankreich) gelangen unter den EM-Teilnehmerinnen mehr: 17 mit einer Quote von 0,46 pro 90 Minuten. Ihre Abschlussstärke und ihre vielen Läufe in die Tiefe werden für die DFB-Elf von enormer Bedeutung sein.

DFB: Erzwungener Umbau im Mittelfeld

Denn Fakt ist auch, dass es schwer für Deutschland war, sich im Vorlauf dieses Turniers zu finden. Es gibt kaum einen Mannschaftsteil, der das so verdeutlicht wie das Mittelfeld. Mit Dzsenifer Marozsan (Kreuzbandriss) und Melanie Leupolz (Schwangerschaft) fallen zwei absolute Führungsspielerinnen und Eckpfeiler des Teams aus.

Zurück bleibt ein Mittelfeld, das individuell immer noch hochkarätig besetzt ist, sich aber nie so richtig einspielen konnte. Das beste Beispiel dafür ist Lena Oberdorf. Mit 20 Jahren kommt die Wolfsburgerin bereits auf 27 Länderspiele. Einige davon absolvierte sie in der Innenverteidigung.

Die Konstellation im Zentrum war lange unklar. Durch die Ausfälle von Marozsan und Leupolz wird es nun wohl auf Lina Magull und Sara Däbritz hinauslaufen, die vor Sechserin Oberdorf starten. Qualitativ gibt es nur wenige Mittelfeldreihen bei der Europameisterschaft, die diesem Dreiergespann das Wasser reichen können.

Melanie Leupolz fehlt vor allem emotional

Emotional aber könnte etwas fehlen. Vor allem Leupolz bringt durch ihre Art auf dem Platz viel Energie und Dynamik in ein Team. Sie kann in schwachen Phasen die Spielerin sein, an der sich andere hochziehen.

Bei Däbritz und Magull gab es von einigen Expertinnen und Experten immer mal wieder leise Kritik daran, ob sie das auch sein können. Mit ihrer Erfahrung als Kapitänin beim FC Bayern wird Magull nun bei dieser Europameisterschaft den nächsten Entwicklungsschritt gehen müssen. Kann sie ein Team anführen, das sich erst in der Vorbereitung so richtig gefunden zu haben scheint?

Deutschland wird schon in der Gruppenphase gegen Dänemark und Spanien, aber womöglich auch gegen ein nicht zu unterschätzendes Finnland Phasen durchleben müssen, in denen die Dinge nicht nach Plan laufen. Dann wird es auf Magull, aber auch auf Däbritz und sogar auf die noch junge Oberdorf ankommen. Sie bilden die Schaltzentrale des Teams. Und sie müssen Verantwortung übernehmen.

EM 2022: Spiele von Deutschland in der Gruppenphase

GruppeDatumUhrzeitBegegnungSpielort
B8. Juli21.00 UhrDeutschland - DänemarkBrentford
B12. Juli21.00 UhrDeutschland - SpanienBrentford
B16. Juli21.00 UhrFinnland - DeutschlandMilton Keynes

DFB: Defensive als größte Baustelle?

Gleiches gilt für Marina Hegering. "Nicht eingespielt", so hieß auch in der Defensive das Motto der letzten zwei Jahre. Die Bundestrainerin probierte vieles aus - insbesondere auf den Außenbahnen testete sie viele Spielerinnen. In der Innenverteidigung spielte Hegering zuletzt keine Rolle.

Das lag daran, dass sie mit gesundheitlichen Problemen zu tun hatte. Verletzungen und Corona verhinderten, dass sie ihrer Rolle als Abwehrchefin gerecht werden konnte. Im Testspiel gegen die Schweiz (7:0) deutete sie ihre Klasse an. Fit ist sie die einzige deutsche Innenverteidigerin, die es mit der Weltspitze aufnehmen kann.

Auch Kathrin Hendrich, Sara Doorsoun oder Sophia Kleinherne sind gute Spielerinnen, aber auf höchstem Niveau neigen sie zu Unsicherheiten. Hegering wird die verantwortungsvolle Rolle übernehmen müssen, der Viererkette Halt zu geben. Gemeinsam mit Torhüterin Merle Frohms ist sie die wichtigste Spielerin im Defensivbereich.

Bundestrainerin Voss-Tecklenburg muss die Achse verbinden

Voss-Tecklenburg muss diese Achse miteinander verbinden und bestmöglich in das deutsche Spiel integrieren. Damit haben sie und ihr Team die größte Aufgabe von allen. Die Bundestrainerin zeichnet aus, dass sie selbstkritisch und reflektiert ist. In der Vorbereitung habe sie sich selbst verordnet, "mich zurückzunehmen und gelassen zu bleiben". Die 54-Jährige wolle nicht mehr "die Martina mit dem erhobenen Zeigefinger" sein.

Wann immer sie über ihre Vergangenheit spricht, ist ein kritischer Unterton mit dabei. Voss-Tecklenburg spricht sehr offen über Dinge, die sie aus ihrer Sicht in der Vergangenheit falsch gemacht habe. Zu viel Emotionalität, zu verbissen, hier und da zu sehr darauf bedacht, alles kontrollieren zu wollen.

Die gute Stimmung, die in der Vorbereitung innerhalb des Teams zu spüren war, ist auch ihr Verdienst. Gleichzeitig ist dieses Turnier für die Bundestrainerin richtungsweisend. Seit 2018 ist sie im Amt. Fußballerisch befand sich die DFB-Auswahl seitdem konstant im Umbruch oder in der Übergangsphase.

DFB: Unberechenbarkeit als Tugend

Auch deshalb ist die Frage, wie weit es für das deutsche Team geht, nicht abschließend zu beantworten. In der Vorbereitung wurde viel Wert auf Teambuilding gelegt. "Der Teamgeist hat sich in den letzten Wochen extrem entwickelt", sagte beispielsweise Kapitänin Alexandra Popp: "Wir haben den richtigen Weg zueinander gefunden."

Die Mischung aus guter Stimmung und Seriosität, aber auch jene aus erfahrenen Spielerinnen und hoffnungsvollen Talenten vor dem Durchbruch scheint zu stimmen. Man wolle aus der Unberechenbarkeit eine Tugend machen und möglichst viele Gegnerinnen bei der EM überraschen, betonte Voss-Tecklenburg immer wieder.

"Die deutsche Nationalmannschaft muss das Selbstbewusstsein haben, dass sie in der Lage ist, nicht nur die Gruppenphase zu überstehen, sondern auch weit im Turnier zu kommen", analysiert Bayerns sportliche Leiterin Bianca Rech die Chancen des DFB. Gleichwohl wäre das Halbfinale angesichts der Konkurrenz wohl das angemessene Mindestziel. Und ein wichtiges Zeichen dafür, dass Deutschland wieder Teil der Spitzenteams sein kann.