Der Start der Europameisterschaft 2022 steht unmittelbar bevor - und sie wird spektakulär! Mindestens die Hälfte aller Teilnehmerinnen dürfen sich berechtigte Hoffnungen auf den Titel machen. Mehr Qualität gab es nie. Das sind die Favoritinnen und ihre Top-Stars.
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1984 gewann Schweden die erste Europameisterschaft der Frauen. Seitdem krönte sich im Wettbewerb nur dreimal eine andere Nation als Deutschland als Champion (zweimal Norwegen und einmal die Niederlande). Mit insgesamt acht Titeln ist der DFB unangefochtener Rekord-Titelträger.
Doch die Zeiten der Einseitigkeit und der deutschen Dominanz sind vorbei. Schon 2017 gab es viele Anwärterinnen auf den EM-Titel, 2022 hat sich die Konkurrenzsituation nochmal verschärft. In vielen Ländern Europas entwickelt sich der Fußball der Frauen rasant. Mindestens die Hälfte der 16 Teilnehmerinnen können sich berechtigte Hoffnungen auf den begehrten Pokal machen.
SPOX und GOAL zeigen Euch die Top-Favoritinnen und die Superstars, die Ihr bei jedem Public Viewing oder beim gemütlichen Abend daheim auf der Couch kennen solltet.
England: Lucy Bronze - die beste Außenverteidigerin der Welt
England ist in den letzten Jahren zur Vorzeigenation gereift. Auf der Insel wurden in der jüngeren Vergangenheit viele gute Entscheidungen getroffen, die dazu geführt haben, dass die Premier League im Moment das Nonplusultra in Europa ist. Auch das Nationalteam hat sich sukzessive weiterentwickelt. Bei der WM 2019 erreichten sie den vierten Platz, 2017 war im Halbfinale der EM Schluss.
Die Gastgeberinnen wollen in diesem Jahr groß angreifen und befinden sich in Bestform. Einen echten Superstar hat das Team eigentlich nicht, aber Lucy Bronze vom FC Barcelona sticht womöglich dennoch heraus. Die 30-Jährige wurde zwischen 2014 und 2019 viermal Fußballerin des Jahres in England und gewann mit Olympique Lyon dreimal die Champions League.
Zuletzt spielte die Rechtsverteidigerin bei Manchester City, ab der nächsten Saison dann für Barca. Sie ist nicht nur erfahren, sondern darüber hinaus eine sehr komplette Spielerin mit Stärken in der Offensive und in der Defensive. Sie kann Tore erzielen, vorbereiten, sich klug am Spielaufbau beteiligen und Zweikämpfe gewinnen. Mit Bronze hat England zweifellos eine der besten Spielerinnen der Welt im Kader.
Norwegen: Traumsturm mit Hegerberg und Graham Hansen
Norwegen gewann den Titel 1987 und 1993. Seitdem war man oft nah dran, scheiterte aber spätestens im Finale wie 2013 gegen Deutschland. 2017 war bereits in der Gruppenphase Schluss für die Norwegerinnen. Was auch daran gelegen haben könnte, dass die Spielerinnen zunehmend unzufrieden mit der Wertschätzung des Verbands waren. Ein Resultat: Superstar Ada Hegerberg beendete ihre internationale Karriere.
In diesem Jahr aber feiert sie ihr Comeback auf der großen Bühne. "Ich habe damals eine Entscheidung getroffen, die ich nicht bereue", sagte die 26-Jährige vor ihrer Rückkehr dieses Jahr: "Aber ich hatte in den letzten zwei Jahren viel Zeit, um über viele Aspekte meines Lebens nachzudenken."
Hegerberg ist die erste Fußballerin überhaupt, die mit dem Ballon d'Or ausgezeichnet wurde. Auch vier Jahre später zählt sie nach wie vor zu den besten der Welt - obwohl sie zwischendurch einen Kreuzbandriss und einen Ermüdungsbruch erlitt. Seit Oktober 2021 steht sie wieder auf dem Spielfeld, gewann mit Olympique Lyon die Champions League und erzielte im Finale das wichtige zweite Tor für OL gegen den FC Barcelona. Hegerberg ist ein Weltstar und in Topform vielleicht die beste Stürmerin der Welt.
Gleichzeitig gibt es in ihrem Schatten eine weitere Top-Spielerin. Caroline Graham Hansen verzaubert die Fans des FC Barcelona auf dem rechten Flügel nun schon seit 2019. Sie ist schnell, stark im Dribbling und unfassbar torgefährlich. In 43 Pflichtspielen war sie in dieser Saison an 37 Toren direkt beteiligt. Mit dieser Offensive kann Norwegen nur mit zu den Titelfavoritinnen zählen.
Spanien: Weltfußballerin Alexia Putellas
Spanien hat noch nie ein K.-o.-Spiel bei einem großen Turnier gewonnen, zählt aufgrund der Dominanz des FC Barcelona im europäischen Fußball aber zu den Top-Favoritinnen. Allerdings gibt es ein Problem: In der Offensive fehlen Spielerinnen, die regelmäßig Tore schießen. 1:1 gegen Deutschland im Februar, 0:0 gegen England, 1:0 gegen Kanada, 1:1 gegen Brasilien im April und jetzt auch 1:1 gegen Italien im letzten Testspiel.
Sehr vieles hängt davon ab, ob Alexia Putellas in gute Abschlusssituationen kommt. Sie ist das Gesicht Spaniens, aber auch der europäischen Renaissance des Fußballs der Frauen. Als amtierende Weltfußballerin schauen alle auf sie. In den letzten 54 Pflichtspielen hat die 28-Jährige 42 Tore erzielt und 23 weitere aufgelegt.
Das Besondere dabei ist, dass sie eigentlich gar keine Stürmerin ist. Beim FC Barcelona und auch für Spanien läuft sie im zentralen Mittelfeld auf. Auf der Achterposition ist sie hauptsächlich dafür zuständig, dass der Ball läuft und das Pressing gut organisiert ist. Putellas ist immer anspielbar, trifft unter Druck bemerkenswert gute Entscheidungen und kann auch mal mehrere Gegenspielerinnen ausdribbeln.
Dennoch bringt sie großen Offensivdrang mit, so kommen ihre sensationellen Zahlen zustande. Bei der EM liegen die spanischen Hoffnungen nahezu komplett bei ihr, wenn es darum geht, Tore zu erzielen und vorzubereiten. Das liegt auch daran, dass Stürmerin Jennifer Hermoso verletzt ausfällt.
Deutschland: Hoffnungsträgerin Marina Hegering
Obwohl Deutschland den Titel bereits achtmal geholt hat, ist unklar, wie weit es für die DFB-Auswahl gehen kann. Lina Magull sagte vor gut vier Monaten im Gespräch mit SPOX und GOAL, dass sie das Team nicht zu den Top-Favoritinnen zählen würde. Kurz vor EM-Start sieht die Situation nach einem 7:0 gegen die Schweiz etwas anders aus: Vielleicht trägt die Rolle der leichten Außenseiterinnen das deutsche Team bis ins Halbfinale oder noch weiter.
Einen echten Star hat der recht ausgewogene und breit besetzte Kader des DFB nicht. Vermutlich ist Lea Schüller als hochtalentierte Stürmerin die Spielerin, die in der Öffentlichkeit noch am ehesten im Fokus steht. Eine der wichtigsten Rollen überhaupt wird aber Marina Hegering einnehmen.
Die 32-Jährige ist erst spät in ihrer Karriere zum Vollprofi geworden, hatte über sechs Jahre mit Wundheilungsstörungen nach mehreren Operationen zu kämpfen und konnte in dieser Zeit kaum Fußball spielen.
Ein Superstar ist sie daher zumindest im klassischen Sinne nicht. Aber sie zählt heute dennoch zu den besten Innenverteidigerinnen der Welt. Im Aufbauspiel und auch in der Arbeit gegen den Ball geht sie voran. Deutschland braucht eine starke Hegering vermutlich mehr als alles andere.
Dänemark: Pernille Harder stellt alle in den Schatten
Zu den Top-Favoritinnen zählt Dänemark nicht. 2017 holten die Däninnen aber die Vize-Europameisterschaft. Sie haben einen ausgewogenen Kader und vor allem in der Defensive viel Qualität. Das könnte sie schon in der Gruppenphase für Deutschland und Spanien gefährlich machen. Im Offensivbereich fiel es ihnen in den letzten Monaten jedoch schwer, Tore zu erzielen.
Das lag auch daran, dass der Superstar des Teams immer mal wieder verletzt gefehlt hat. Pernille Harder hat beim FC Chelsea keine überragende Saison hinter sich, traf in 27 Partien aber immerhin 15-mal und bereitete sieben weitere Treffer vor.
Die Ex-Wolfsburgerin ist technisch sehr versiert, geht häufig ins Eins-gegen-eins und weicht gern mal in die Zwischenräume auf den Flügeln aus. Sie ist auch deshalb unberechenbar, weil sie quasi komplett beidfüßig ist. Ganz Dänemark hofft darauf, dass sie rechtzeitig ihre Bestleistung bringen kann. Denn dann stellt sie nahezu alle in den Schatten.
Schweden: Caroline Seger - mehr Länderspiele als CR7
Einen echten Superstar gibt es bei den Schwedinnen nicht. Der Kader ist durchgängig hochklassig besetzt und gerade weil das Team als Gemeinschaft so gut funktioniert, zählen sie zu den absoluten Top-Favoritinnen bei diesem Turnier. Die Vize-Olympiasiegerinnen wollen erstmals seit 1984 auf den Thron Europas.
Eine, die gefühlt schon immer dabei war, ist Caroline Seger. Wenn mal wieder die Mär vom europäischen Rekordnationalspieler Cristiano Ronaldo (189 Länderspiele) erzählt wird, sitzt die 37-Jährige wahrscheinlich irgendwo in Schweden und schmunzelt. 230 Partien absolvierte Seger bereits für Schweden - und auch bei dieser EM wird sie als Kapitänin in der Startelf stehen.
In ihrer Karriere hat sie schon auf vielen Positionen gespielt. Für Schweden nimmt sie mit all ihrer Erfahrung eine Schlüsselrolle im zentralen Mittelfeld ein. Sie erobert Bälle und verteilt sie klug. Es wäre eine aus vielen Perspektiven romantische Geschichte, würde sie Schweden zum zweiten EM-Titel führen.
Niederlande: Vivianne Miedema ist nicht zu stoppen
Als amtierende Europameisterinnen sind die Niederländerinnen auch in diesem Jahr favorisiert. Allerdings hat sich seit damals einiges getan. So wechselte etwa Erfolgstrainerin Sarina Wiegman zum englischen Verband. 2021 übernahm Mark Parsons den Trainerstuhl. Eine 1:5-Niederlage gegen England und weitere Wackler werfen Fragezeichen auf.
Bei Top-Star Vivianne Miedema gibt es diese allerdings nicht. Die 25-Jährige zählt zu den besten Mittelstürmerinnen der Welt und bringt eine unglaubliche Präsenz auf den Platz. Sie ist extrem ballsicher, fast immer anspielbar und kann aus nahezu allen Situationen eine Torchance kreieren - für sich oder für Mitspielerinnen.
Beim FC Arsenal ist sie ebenso der Mittelpunkt des Offensivspiels wie bei den Niederlanden. Sie trifft aus allen Lagen, bereitet vor und beteiligt sich aktiv am Spiel. In 47 Pflichtspielen traf sie in der Saison 2021/22 32-mal und bereitete 14 weitere vor.
Frankreich: Die alte Chefin und ein Kopfballungeheuer
Frankreich hat seit der bitteren 1:2-Niederlage gegen die USA im Viertelfinale der Heim-WM nur noch ein Spiel verloren - ebenfalls gegen die USA. Aber da die US-Frauen an der Europameisterschaft bekanntlich nicht teilnehmen, erhoffen sich die Französinnen ihren ersten großen Titel. Skepsis gibt es rund um Les Bleues dennoch, was auch an Trainerin Corinne Diacre liegt. Die 47-Jährige hat es sich mit Stars wie Amandine Henry (32, Olympique Lyon) oder Eugenie Le Sommer (33, Olympique Lyon) verscherzt.
Wendie Renard (ebenfalls Olympique Lyon) ist der Superstar des Teams. Auch mit der 31-Jährigen gab es in der Vergangenheit Probleme. Die Innenverteidigerin verlor zwischendurch sogar ihre Position als Kapitänin. Mittlerweile trägt sie die Armbinde aber wieder. Gut für Frankreich, denn Renard wird zu Recht von allen Angreiferinnen der Welt gefürchtet.
Ihr kompromissloses Zweikampfverhalten ist für die manchmal unsortierte Defensive der Französinnen enorm wichtig. Auch im Spielaufbau nimmt sie eine zentrale Rolle ein. Renard hat bereits achtmal mit Lyon die Champions League gewonnen. Jetzt will sie einen weiteren großen Titel nachlegen.
Dass Frankreich mit Marie-Antoinette Katoto noch einen weiteren Top-Star aufbieten kann, erhöht die Wahrscheinlichkeit auf einen EM-Triumph. Die erst 23-jährige Mittelstürmerin von Paris Saint-Germain ist die kopfballstärkste Spielerin aller EM-Teilnehmerinnen. In 44 Pflichtspielen traf sie 46-mal - 17 Tore davon erzielte sie mit dem Kopf. Sollte Frankreich also tatsächlich die Europameisterschaft gewinnen, könnte es ein Sieg mit Köpfchen werden.