Offiziell ist er Scout, inoffiziell der Chefberater und die wichtigste Bezugsperson von Trainer Ralf Rangnick in Hoffenheim. Einige nennen Helmut Groß den Taktik-Papst, andere wie 1899-Manager Jan Schindelmeiser "einen Glücksfall hoch drei".
Helmut Groß mag außerhalb Baden-Württembergs ein Nobody sein - und doch ist der 62-Jährige einer der hellsten Köpfe im deutschen Fußball. Die Einführung der ballorientierten Raumdeckung in Deutschland geht auf ihn zurück, genauso die viel gelobte Umstrukturierung der Jugendarbeit des VfB Stuttgart wie auch Ralf Rangnicks Aufstieg in die Garde der Toptrainer.
"Helmut ist einer der faszinierendesten Menschen, den ich je getroffen habe", sagt Rangnick über seinen Mentor. Im Interview spricht Groß über Ernst Happels fehlende Konsequenz, nächtelanges Videogucken und magische Momente mit Rangnick.
SPOX: Laut der "FAZ" eilt Ihnen ein "geheimnisvoller Ruf" voraus. Herr Groß, wer sind Sie?
Helmut Groß: Auf jeden Fall keiner, der geheimnisvoll oder mysteriös ist. Vielleicht glauben das einige, weil sie mich nicht kennen, aber ich bin einfach nur zurückhaltend.
SPOX: Sie gelten als einer der größten Taktik-Experten Deutschlands, dennoch hat es Sie nie in die Öffentlichkeit gezogen?
Groß: Nein, mir gefällt es im Hintergrund. Als Bauingenieur war ich all die Jahre im Brückenbau tätig und hatte ein erfülltes Berufsleben, dementsprechend war ich nie daran interessiert, im Fußball Karriere zu machen. Der Fußball war immer eine Leidenschaft, aber er hat mich nicht beherrscht.
SPOX: Trotzdem gelten Sie als Pionier, nachdem Sie in den 80er Jahren in der Verbandsliga zunächst in Geislingen und dann in Kirchheim als erster Trainer Deutschlands die ballorientierte Raumdeckung etabliert haben. Wie kam es dazu?
Groß: 1981 hatte ich als Trainer ein Jahr ausgesetzt und wollte danach etwas Neues entwickeln, um mich neu zu motivieren. Damals gab es zwar moderne Trainer wie Gyula Lorant, Pal Csernai und Ernst Happel, die sich von der damals alles dominierenden Manndeckung distanzierten und eine Art Raumdeckung spielen ließen. Deren Überlegung: Durch Raumdeckung kann man ökonomischer agieren, weil die Spieler Kraft sparen, indem sie nicht unsinnig dem Gegner hinterherlaufen müssen. Dieser Ansatz war jedoch nur bedingt erfolgversprechend.
SPOX: Weil?
Groß: Weil ich der Ansicht war, dass man die gesparte Kraft sofort ummünzen sollte in ein aggressives Pressing, um den Gegner permanent unter Druck zu setzen. Ernst Happel hat es mit der niederländischen Nationalmannschaft ansatzweise umgesetzt, aber das war mir nicht weitgehend genug.
SPOX: Ihre Vorstellung?
Groß: Durch kluge Raum-Aufteilung kann man den Gegner dazu zwingen, über kurz oder lang Fehlpässe zu spielen. Meine Vorstellung war aber, dass man den Ball so schnell es geht erobern sollte. So entstand die Idee der ballorientierten Raumdeckung. Sprich: Bei gegnerischem Angriff müssen sich die Spieler so verschieben, dass sie - so weit entfernt vom eigenen Tor wie möglich - in Überzahl den ballführenden Gegenspieler angreifen und ihm so den Raum und die Zeit nehmen für eine vernünftige Aktion, um selbst Konter einzuleiten. Von dieser Grundidee ausgehend haben Ralf Rangnick und ich die ballorientierte Raumdeckung weiterentwickelt.
SPOX: Indem sie gemeinsam nächtelang Spiele des AC Milan unter Arrigo Sacchi studiert haben.
Groß: Ich habe damals ein sündhaft teures Videogerät gekauft. Das modernste auf dem Markt, für 3000 Mark. Aber das ging schnell kaputt, weil wir die Bänder so oft vor- und zurückgespult haben, um alle Details in der Taktik von Sacchi und anderen Toptrainern zu erkennen. Später habe ich mir zwei Geräte gekauft, um Spielszenen zusammenzuschneiden.
SPOX: Wie begann Ihre Freundschaft mit Rangnick?
Groß: Intensiven Kontakt pflegen wir seit 1986. Ralf, damals mit 28 Jahren schon Trainer der Stuttgarter Amateure, ist in den Trainerlehrstab des württembergischen Fußball-Verbands eingetreten und war schnell von der ballorientierten Raumdeckung begeistert. Diese Philosophie wollten wir den Amateurtrainern der Region weitergeben und haben Schulungsprogramme entwickelt. Wie kann man Jugendliche - und auch andere Trainer - von der ballorientierten Raumdeckung überzeugen und ihnen dies beibringen? Wie muss man rhetorisch und didaktisch vorgehen, dass es verstanden wird? Damals gab es keine Bücher zu dem Thema, deswegen haben wir den Lehrstoff selbst gebastelt.
SPOX: War Ihnen damals schon klar, was aus Rangnick werden könnte?
Groß: Ja. Die Kompetenz, die Rhetorik, die pädagogischen Fähigkeiten, die emotionale Intelligenz und Neugierde, gepaart mit Ehrgeiz: Ralf war ein Ausnahmetalent, bei ihm hat alles gepasst. Mir hat besonders imponiert, als er - wie später bei seinem Wechsel nach Hoffenheim - nach seiner Zeit als Trainer der Stuttgarter Amateure freiwillig zwei Schritte zurückgegangen ist und in der Provinz bei Korb weitergemacht hat, um dort mit der ballorientierten Raumdeckung, die er dort neu einführte, Erfolge zu feiern.
SPOX: 1990 holten Sie ihn zurück nach Stuttgart.
Groß: Ich habe 1989 als Jugendkoordinator des VfB angefangen und ein Konzept entwickelt, woran sich alle Nachwuchsteams zu orientieren haben. Trotz einiger Widerstände bei den Vereinsoberen habe ich Ralf als A-Jugendtrainer verpflichtet, weil er der perfekte Mann war, um exemplarisch an einer Mannschaft zu demonstrieren, welche Spielsystematik verfolgt werden sollte. Mit Erfolg, denn über die Jahre hat sich in Stuttgart eine einheitliche Spielphilosophie entwickelt und noch heute orientiert man sich im VfB-Jugendbereich an diesem Konzept.
SPOX: Und so entwickelte sich eine Taktik-Sekte, mit Ihnen als Guru. Oder ist es nur Zufall, dass Bundestrainer Jogi Löw, der zukünftige U-21-Trainer Rainer Adrion oder Freiburgs Aufstiegscoach Robin Dutt allesamt aus der Region stammen und eine ähnliche Philosophie wie Rangnick verfolgen?
Groß: Wir sind keine Sekte und ich bin gewiss kein Sektenführer oder Guru. Richtig ist, dass Ralf und ich die ballorientierte Raumdeckung vorexerziert haben und die vielleicht etwas moderneren und risikofreudigeren Trainer der Umgebung das adaptiert haben. Mit ihnen verbindet uns eine gemeinsame Denke. Löw kenne ich aus Stuttgarter Zeiten, Adrion war wie wir Mitglied des Trainerlehrstabs und von Dutt weiß ich, dass er sehr neugierig ist und ähnliche Ideen verfolgt.
SPOX: Bayern-Manager Uli Hoeneß sagt, nicht die bessere Taktik, sondern die besser besetzte Mannschaft gewinnt.
Groß: Mit ähnlichen Aussagen werde ich häufig konfrontiert - aber was passiert denn bei Waffengleichheit? Oder wenn man sogar die auf dem Papier schwächeren Spieler hat? Soll man gleich aufgeben? In so einem Fall ist die Taktik eine Möglichkeit, um vielleicht doch zu gewinnen. Taktik ist nur eine Facette des Fußballs, aber eine sehr wichtige.
SPOX: Dementsprechend haben die Bayern mit Louis van Gaal einen Taktik-Experten verpflichtet.
Groß: Wir sind schon neugierig darauf, wie van Gaal im Detail die Raumdeckung spielen lässt.
SPOX: Auf was achten Sie?
Groß: Ich will nicht zuviel verraten, aber ein Beispiel zur Veranschaulichung: Bei den Duellen zwischen Hamburg und Bremen waren die Unterschiede in der Raumdeckung offensichtlich. HSV-Coach Martin Jol ließ typisch niederländisch verteidigen. In der niederländischen Schule wird bei der Raumdeckung mehr auf den einzelnen Gegenspieler geachtet. Oder überspitzt formuliert lautet das Motto: Jeder muss einen Gegenspieler in seiner Zone kontrollieren.
SPOX: Und in der mehr ballorientierten Deckung?
Groß: Wenn ein Gegner weit vom Ball entfernt steht, wird er fast vernachlässigt. Die Bremer, aber auch wir bei Hoffenheim, achten primär darauf, dass vor allem der Gegner in Ballnähe und der eigene Strafraum - möglichst durch eine Überzahl - kontrolliert werden. Ich bin gespannt darauf, ob van Gaal wie Jol, sagen wir mal niederländisch, verteidigen lässt.
SPOX: Zwischen den Zeilen kann man die Vorfreude auf die Duelle gegen Bayern heraushören.
Groß: Stimmt. Und das ist auch das Tolle bei der Zusammenarbeit mit Ralf. Dank ihm habe ich schon oft erlebt, dass sich die Ideen, die wir an der Basis des Fußballs entwickelten, auch auf hohem Niveau bewähren.
SPOX: Wie profitiert Rangnick von Ihnen?
Groß: Ralf weiß, dass er mit mir jemanden an der Seite hat, der dank der beruflichen Unabhängigkeit nicht an die Gesetzmäßigkeiten des Fußball-Geschäfts gebunden ist und über den Tellerrand hinausblicken kann. Ich habe vielleicht mehr Freiheit im Denken, weil ich demnächst sogar Rentner bin und nichts mehr werden muss.
SPOX: Sie sind also der Fußball-Freidenker, Rangnick der Fußball-Professor?
Groß: Professor passt nur insofern, weil er sehr viele Dinge weiß und dies auch gut vermitteln kann. Ansonsten schätzt die Öffentlichkeit Ralf oft falsch ein. Er ist trotz seines analytischen Talents ein sehr emotionaler Mensch, der sich als Trainer nicht nur von Philosophien oder Fakten, sondern auch von Gefühlen leiten lässt.
SPOX: Ein Beispiel?
Groß: Bei der Suche nach Neuzugängen ist Ralf in der Kette immer der Letzte, der sich einen Spieler ansieht. Unabhängig von weiteren Informationen bekommt er beim Scouting nach wenigen Minuten ein Gefühl dafür, ob der Spieler das Zeug zum Durchbruch hat. Wenn das passiert, ist es fast schon ein magischer Moment. Im Verein sagen wir dazu: Ralf hat sich verliebt. Dann will er den Spieler unbedingt haben und liegt fast immer mit seiner Einschätzung richtig.
SPOX: Ist seine emotionale Seite auch der Grund dafür, warum Rangnick als Sturkopf gilt?
Groß: Bis zu einem gewissen Grad ist es richtig. Wenn die Gegenargumente stimmig sind, hört er sich alles an und lässt sich auch umstimmen. Aber wenn er emotional aufgewühlt ist, kann es sein, dass er ein, zwei Tage stur bleibt.
SPOX: War das auch der Grund für den Zwist mit 1899-Geldgeber Dietmar Hopp?
Groß: Einige Aussagen wurden falsch interpretiert, aber es sind sicherlich Sätze gefallen, die Ralf öffentlich nicht hätte sagen sollen. Dennoch hat es mir richtig wehgetan, wie die Medien plötzlich über seine Zukunft spekuliert haben. Die schlimmste Schlagzeile war: "Rangnick darf in Hoffenheim bleiben". Als ob man ihn so leicht ersetzen könnte. Das "Wunder Hoffenheim" war nur mit Hopp und Rangnick möglich, nur zusammen konnten sie es schaffen.
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