Einen Tag nach dem erschütternden Selbstmord von Robert Enke rüsten sich Fans und die Stadt Hannover für eine bewegende Trauerfeier. Enkes Motive brechen das Tabuthema Depressionen auf und lassen viele Fragen im Raum stehen.
Da ist dieses Gemurmel wieder. Der Kröpke-Platz in Hannover ist längst zu klein geworden, die Masse bewegt sich träge einige hundert Meter weiter zum Opernhaus.
Ein kleiner Junge mit Irokesen-Schnitt und dem roten Trikot über der viel zu großen Jacke steht da und friert. Aber er bleibt standhaft. Es ist das Gebot der Stunde, dass keiner nachgibt. Gleich setzt sich der Trauerzug von der Innenstadt raus zur AWD-Arena in Gang. Der letzte Akt eines surrealen Tages.
Der Tag nach dem erschütternden Tod von Robert Enke. Es ist ein unruhiger Tag, der ständig pendelt zwischen dem Unfassbaren, der kalten Wirklichkeit und einer eigenartigen Wärme, die die ganze Stadt umschmeichelt.
Tabuthema Depressionen
Es beginnt mit der Pressekonferenz im VIP-Raum der AWD-Arena. Seit den frühen Morgenstunden stehen immer rund 500 Menschen da und tragen sich in Kondolenzbücher vor dem Stadion ein. Der Boden ist übersät mit Lichtern, Kerzen, Blumen und handgeschriebenen Beileidsbekundungen.
Drinnen geht eine bewundernswert starke Teresa Enke den mutigsten aller Wege und betritt das Podium. Robert Enkes Frau wirkt gefasst, als sie über das Doppelleben ihres Mannes spricht. Und sie stößt mit ihren Aussagen eine - oder gleich mehrere - Diskussionen an. Darf ein Berufsspieler unter Depressionen leiden? Warum kann er diese nicht öffentlich eingestehen?
Viele Bilder kommen hoch. Von Sebastian Deisler, der - mit dem Wissen von heute - offenbar noch rechtzeitig den Absprung geschafft hat. Wie er vor einigen Jahren beim Champions-League-Spiel der Bayern in Highbury bei jedem Eckball als "f...ing psycho" beschimpft wurde.
Oder von Sven Hannawald, dessen Name längst nicht mehr nur mit Glanz und Gloria der Vierschanzentournee verknüpft wird, sondern mit dem wenig greifbaren Burn-out-Syndrom. "Du hast noch beide Beine? Dann bist du auch nicht krank!"
Es ist ein Tabuthema, nicht nur im deutschen Profi-Sport. "Fußball war sein Lebenselixier. Es hat ihm Halt gegeben", sagt Teresa Enke. Ihr Mann hat sich deshalb nicht getraut, seiner Krankheit offensiv und öffentlich zu begegnen. Aus Angst vor dem Verlust: Seiner Karriere, seinem Ansehen, sogar seiner zweiten Tochter. Vielleicht erreicht Robert Enke posthum eine offene Diskussion zum Thema...
Viel Authentizität
Wenig später stellt Jörg Schmadtke die Frage, ob der Fußball-Zirkus nicht schon längst viel zu überdreht sei. Zu wenig Wesentliches, zu viel Party-Karussell. Beauty, Fashion, Lifestyle, Star-Base.
Sport mutiert zu Geschäft und Boulevard und manchmal auch zur Nichtigkeit. Eine selten angenehme Wahrnehmung von jemandem, der als Sportdirektor sein Geld verdient. Dafür umso bemerkenswerter.
Überhaupt, es liegt unheimlich viel Authentizität in der Luft. Überall, nicht nur rund um die Arena. In der Stadt halten sich pubertierende Mädchen viel zu teure Creolen gegenseitig an die Ohren, andere lesen sich eine SMS vor. Aber sie keifen und gackern nicht, so wie sonst.
Womöglich haben sie den Namen Robert Enke noch nie oder am Dienstag zum ersten Mal gehört. Und trotzdem passen sie sich in ihrer Lautstärke der Umgebung an. Was bleibt, ist ein monotones Gemurmel.
DFB entscheidet richtig
Dann sagt der Deutsche Fußball-Bund ein Länderspiel ab. Präsident Dr. Theo Zwanziger wirkt sichtlich schockiert, er ringt mit seiner Stimme. Aber er bleibt gefasst. Anders als sein Nebenmann. Der sonst streitbare Oliver Bierhoff ist plötzlich gar nicht mehr streitbar. Und er ist nicht mehr der Teammanager, der Herr über Werbetermine und Taktgeber im Tanz mit der Wirtschaft, die den DFB und seine Nationalmannschaft nur allzu gerne umgarnt. Er ist einfach nur Oliver Bierhoff.
Über die Konsequenz ihrer Entscheidung dürfte es keine zwei Meinungen geben. Der DFB, manchmal etwas träge und altbacken in seinem Tun, hat richtig gehandelt.
Du gehst niemals allein
Am Abend drängen sich Menschenmassen wie Ameisen in die Marktkirche von Hannover. Bischöfin Margot Käßmann wählt die richtigen Worte. Die Predigt beginnt mit der deutschen Übersetzung von "You'll never walk alone". Die Menschen dürfen Anteil haben und Abschied nehmen.
Am Ende flackern hunderte Lichter am Altar. Du gehst niemals allein. Nie zuvor hat der durch die Dauerbeschallung in jedem - sorry! - x-beliebigen Stadion zum müden Abklatsch verkommene Klassiker mehr Berechtigung erfahren als jetzt.
Draußen warten schon einige Tausend auf den Marsch zum Stadion. Die Polizei hat die entsprechenden Straßen gesperrt. Fans aus dem ganzen Land finden sich ein. Es wird ein fast stummer Gang, nur das sonore Gemurmel bleibt.
Berichterstattung? Und wie??
An der Arena surren schon wieder die Kameras. Wie berichtet man über ein Thema wie dieses? Es gibt keinerlei Erfahrungswerte. Muss man überhaupt berichten? Wo bleiben Ethik, Anstand und Moral?
Andererseits: Wer hat sich am Dienstagabend nicht dabei ertappt, nach einem ersten Hinweis auf das Unglaubliche nicht sofort zur Fernbedienung gegriffen oder Firefox gestartet zu haben? Handys haben gebrummt und im Netz wurde gezwitschert. Jeder hat mitgemacht. Die Art und Weise der Berichterstattung ist dabei die eine Sache, ihre schwer zu leugnende Notwendigkeit die andere.
Der Strom der Menschen will nicht versiegen, immer mehr spuckt die Straße aus ihrer Biegung hervor. 35.000 zählt die Polizei, eine beeindruckende Zahl. Der Tag neigt sich dem Ende entgegen. Ein in jeder Hinsicht außergewöhnlicher und auch beklemmender Tag.
Es bleibt die Ohnmacht
Im Kopf explodieren die Eindrücke. Robert Enke war kein enger Freund. Niemand, mit dem man regelmäßig und in Vertrautheit über Fußball, Frauen oder das kaputte Auto diskutiert hat. Aber er hat einen doch begleitet. Irgendwie.
Also, was war wichtig und von Belang an diesem Tag, was wirkte kitschig, pathetisch oder einfach nur sensationslüstern? Und wie kann man etwas vermitteln, das kaum zu erklären ist?
Es bleibt die Ohnmacht und es bleiben mehr Fragen als Antworten. Bis auf diese eine - und die ist unwiderruflich.
"Es hätte für alles eine Lösung gegeben", sagte Teresa Enke. Ihr Mann Robert hat keine mehr gefunden.
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