HSV: Brachland bleibt Brachland

Stefan Moser
01. August 201022:38
Der Hamburger SV hat ein Nachwuchsproblem, für das vorerst keine Lösung in Sicht zu sein scheintImago
Werbung

Urs Siegenthalers überraschender Rücktritt ist für den Hamburger SV viel mehr als nur eine PR-Blamage. Denn hinter seiner Rolle als Scout und Nachwuchsleiter verbargen sich in Wahrheit tiefgreifende Reformen - denen nun ein glaubwürdiger Träger fehlt. Die sieben wichtigsten Fragen und Antworten zum geplatzten Engagement beim HSV.

1. Was ist passiert?

Absurd, aber wahr: Noch vor seinem offiziellen Amtsantritt ist Hamburgs vermeintlicher "Projektleiter Zukunft" zurückgetreten. DFB-Scout Urs Siegenthaler sollte ab dem 1. August als Scouting- und Nachwuchs-Chef des HSV tiefgreifende strukturelle Reformen im gesamten Verein einleiten. Doch obwohl das Engagement seit Februar feststeht, legte der DFB, auch auf Betreiben der Liga, nur wenige Tage vor dem eigentlichen Start sein Veto ein. Generalsekretär Wolfgang Niersbach erklärte, dass eine "Doppelfunktion" in Verein und Verband per "Grundsatzentscheidung" nicht zulässig sei und zwang Siegenthaler zu einer Wahl. Der Schweizer entschied sich für eine weitere Zusammenarbeit mit Bundestrainer Joachim Löw - und hinterlässt damit eine klaffende Lücke im Kompetenzteam der Hamburger. Bundesliga Spielplaner - Der Tabellenrechner von SPOX.com

2. Was bedeutet Siegenthalers Ausscheiden für den HSV?

Seit der Verpflichtung von Bastian Reinhardt als HSV-Sportchef hieß das Kerngeschäft Siegenthalers in der offiziellen Sprachregelung: "Scouting und Nachwuchs". Klingt nicht besonders glamourös, ist in den Vorstellungen des Vorstandsvorsitzenden Bernd Hoffmann aber eines der strukturell wichtigsten Aufgabenfelder des zukünftigen HSV. Der Bereich "Sichtung und Ausbildung junger Talente" ist für die meisten Vereine mittlerweile sowohl sportlich als auch wirtschaftlich ein elementarer Eckpfeiler - in Hamburg ist er in den Augen des Klubchefs allerdings noch Brachland.

Während die Bayern etwa Müller und Badstuber zur WM schickten und Stuttgart in drei Jahren 50 Millionen Euro durch den Verkauf der Eigengewächse Gentner, Beck, Gomez und Khedira verdiente, sah der durchschnittliche Lebenslauf eines HSV-Talents überspitzt formuliert so aus: Mit 18 verpflichtet, mit 20 verliehen, mit 22 billig an die Konkurrenz verscherbelt. Von Charles Takyi über Alex Meier bis zu "Jahrhunderttalent" Macauley Chrisantus: Keiner schaffte beim HSV den Durchbruch, sie verließen den Verein ebenso unverrichteter Dinge wieder wie ihre Kollegen Miso Brecko, Mustafa Kucukovic oder Besart Berisha. Änis Ben-Hatira und Maxim Choupo-Moting werden ihnen wohl demnächst folgen.

Und obwohl der frühere Sportdirektor Holger Hieronymus 1999 in Ochsenzoll das damals modernste Nachwuchszentrum Deutschlands feierlich von Franz Beckenbauer eröffnen ließ, scheitern auch Hamburgs Eigengewächse regelmäßig am Übergang von der U 23 zu den Profis. Rouwen Hennings, Alexander Laas oder Eren Sen: Alle in Hamburg zu Junioren-Nationalspielern ausgebildet - inzwischen in alle Himmelsrichtungen verstreut.

Taktische Formationen, Positionskämpfe beim HSV 2010/2011

Hoffmanns Unzufriedenheit mit dem Ertrag der Scouting- und Nachwuchsabteilungen war schließlich auch einer der Hauptgründe, weshalb Sportchef Dietmar Beiersdorfer vor einem Jahr Hamburg verließ - und der erst kurz zuvor installierte Jugendkoordinator Jens Todt gleich mit.

Nun sollte Siegenthaler also den Bereich neu aufbauen. Und er ging die Umstrukturierung durchaus beherzt an: Sämtliche Jungendtrainer sollten ab dem 1. August nur noch "auf Bewährung" arbeiten: Ein halbes Jahr wurde ihnen gewährt, um den neuen Chef zu überzeugen. Außerdem erwartete der Schweizer von seinen zukünftigen Angestellten die Weiterbildung zum Fußballehrer: Die meisten (auch U-23-Trainer Rodolfo Cardoso und Richard Golz) haben bislang nur eine A-Lizenz.

Hoffmann und Reinhardt betonen zwar, sie werden die Ideen und den Reformgeist Siegenthalers nun eben selbst in seinem Sinne weitertragen; und mit Paul Meier (Ausbildung) und Christopher Clemens (Scouting) stehen ihnen auch zwei ehemalige Mitarbeiter des 62-Jährigen als eine Art Kompensation zur Verfügung. Doch alle vier werden die Persönlichkeit und Autorität von Siegenthaler nicht ersetzen können. Mit ihrem renommierten Schirmherren verliert die ganze Operation unweigerlich an Strahlkraft.

3. Was bedeutet der Rücktritt für Bernd Hoffmann?

Vordergründig beutet der plötzliche Rücktritt für Hoffmann auch den Höhepunkt einer ausgedehnten PR-Blamage. Die unendliche Suche nach einem Sportchef, das Kompetenz-Gerangel mit dem Aufsichtsrat sowie die indiskrete "Informationspolitik" einiger Kontrolleure erinnerten fast ein wenig an das Schalke früherer Tage und verursachten über Monate hinweg einen nicht unerheblichen Imageschaden. Mit Siegenthaler schien nun endlich eine Premium-Lösung gefunden - nicht ohne politische Querelen, aber immerhin.

Die unerwartete Absage zur Unzeit nun passt freilich ins Bild. Hoffmann und sein sportlicher Leiter: Was dabei schief gehen kann, das geht auch schief. Fast schon etwas mitleidig nahmen die meisten Medien und Fanforen den HSV-Boss nun in Schutz, der schwarze Peter landet abwechselnd bei den bösen Buben von der DFL oder den wankelmütigen Schlafmützen des DFB.

Dieses Mal ist Hoffmann also nicht der Prügelknabe - der Verlust dürfte aber auch so schmerzhaft genug sein. Denn der 47-Jährige braucht zur Umsetzung seiner ehrgeizigen Ideen eine sportlich unumstrittene Autorität als Partner in der Führungsebene des HSV. Und immerhin verbarg sich hinter Siegenthalers vermeintlich profaner Jobbeschreibung als Nachwuchsleiter die durchaus tiefgreifende Vision einer grundlegenden Richtlinien-Kompetenz: eine verbindliche Fußballphilosophie für den ganzen Verein - unabhängig von den handelnden Personen.

Am Übergang zu den Profis scheiterte der Nachwuchs nämlich auch deshalb regelmäßig, weil ständig wechselende Cheftrainer und deren ebenso rasant wechselnde Vorlieben und Konzepte den HSV im Jahresrhythmus teilweise radikal umkrempelten. Fehlende Konstanz wurde zum Markenzeichen der Hamburger - für die Entwicklung junger Spieler doppelt problematisch.

Also sollte Siegenthaler ein unabhängiges Konzept entwickeln und vertreten. Der Trainer sollte sich ab sofort der generellen Spielidee anpassen, nicht umgekehrt. "Siegenthaler wird dem Verein seinen sportlichen Stempel aufdrücken. Wir möchten eine HSV-Philosophie, die einzelne Trainer überdauert. Die soll er vorgeben", sagte Hoffmann noch im Frühjahr. Die Vorbilder aus Amsterdam und Barcelona musste er dabei erst gar nicht explizit benennen.

Doch auch diesem ambitionierten Projekt droht nun das Scheitern. Denn die Vermittlung einer übergreifenden Spielphilosophie, an die sich schließlich auch der Cheftrainer halten soll, benötigt einen starken und glaubwürdigen Träger. Hoffmann selbst ist dafür viel zu wenig Fußballer - Sportchef Reinhardt viel zu sehr.

Teil 2: Was ändert sich? Was hat es mit der "Doppelfunktion" auf sich? Wer ist schuld?

4. Was ändert sich in der aktuellen Saison?

Auf die laufende Spielzeit sollte sich die Absage Siegenthalers zumindest nicht unmittelbar auswirken. Trainer Armin Veh hatte nach eigenen Angaben ohnehin noch keinen engeren Kontakt zu Siegenthaler - und von dessen Richtlinien-Kompetenz wollte er auch nichts wissen. "Eins ist klar", ließ der 49-Jährige bald ausrichten: "Die Spielphilosophie gibt immer der Trainer vor."

Leicht zynisch zeichnet sich damit am Rande zumindest ein Vorteil der geplatzten Zusammenarbeit mit Siegenthaler ab: Der HSV entgeht einem weiteren Kompetenzgerangel. Denn insgesamt haben sich die Umstände seit der Einigung im Februar doch relativ deutlich verändert. So plante man damals noch eine Zukunft mit Bruno Labbadia - und Bastian Reinhardt war nicht Siegenthalers Vorgesetzter sondern nur ein unbedarfter Praktikant. Die mühsamen Diskussionen um die konkrete Rolle des Schweizers sowie die Verpflichtung von Armin Veh schienen ohnehin etwas den Wind aus den Segeln des "Projekts Siegenthaler" genommen zu haben.

5. Was hat es mit der "Doppelfunktion" auf sich?

Nichtsdestotrotz ärgert sich Hoffmann auch deshalb über den erzwungenen Rücktritt Siegenthalers, weil "es sowohl bei der Nationalmannschaft, als auch bei der DFL solche Doppelfunktionen gab und gibt". Und in der Tat scheint die zitierte "Grundsatzentscheidung" so grundsätzlich nicht zu sein. Mit Reinhard Rauball (Präsident in Dortmund), Peter Peters (Geschäftsführer auf Schalke) und Harald Strutz (Präsident in Mainz) sitzen drei Vereinsfunktionäre auch im Vorstand des DFB. Allerdings: Diese Posten erhalten sie aufgrund eines Grundlagenvertrags zwischen Liga und DFB: Als Vorsitzende des Ligaverbandes sind sie automatisch auch Vizepräsidenten des DFB. Außerdem scheint es unwahrscheinlich, dass sie aus dieser Personalunion Wettbewerbsvorteile für die sportlichen Belange ihrer Vereine ziehen könnten.

Daneben arbeitet mit Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt (FC Bayern) ein Vereinsangestellter gleichzeitig im Betreuerstab der Nationalmannschaft. Bis vor der WM galt dies auch für Hans-Dieter Hermann (Sportpsychologe in Hoffenheim). Beide hätten womöglich vergleichbare "Insider-Informationen" wie Siegenthaler. Beide unterliegen aber einer Verschwiegenheitspflicht. Ihren Wettbewerbsvorteil auszuspielen, wäre eine somit eine Straftat - und ein unmittelbarer Grund für ein Berufsverbot.

Siegenthalers Doppelfunktion hätte insofern tatsächlich eine andere Qualität. Der Schweizer hätte einen vermeintlichen Informationsvorsprung - und dürfte ihn zu Gunsten des HSV auch nutzen. Ob dieser "Vorteil" im angeblich ohnehin gläsernen Fußball die ganze Aufregung überhaupt wert ist, darüber lässt sich freilich streiten.

6. Welche Rolle spielt Siegenthaler?

Siegenthaler selbst spielte von Anfang an mit offenen Karten: Sollte er zu einer Entscheidung gezwungen werden, bleibt er im Team von Bundestrainer Joachim Löw. In dieser Hinsicht - und das bestätigt auch Bernd Hoffmann - gibt es keine Zweifel an der Integrität des Schweizers. Ob ihn die politischen Debatten um seine offizielle Stellung im Verein noch in seiner Entscheidung bestärkt haben, steht auf einem anderen Blatt.

7. Wer trägt die Schuld?

Auch Liga-Chef Reinhard Rauball versichert glaubhaft, dass die Vorbehalte gegen Siegenthalers "Nebenjob" in Hamburg schon immer innerhalb der DFL offen angesprochen wurden. Bleibt die Frage, weshalb das kategorische Nein erst vier Tage vor dessen Amtsantritt öffentlich kommuniziert wurde. Unklar ist indessen auch, ob sich der HSV im Austausch mit der Liga nicht sorgfältiger hätte absichern können. Immerhin waren die Zweifel bekannt.

Merkwürdig ist allerdings auch das Auftreten des DFB. Unmittelbar nach der Einigung mit Siegenthaler schickte Teammanager Oliver Bierhoff noch freundliche Grüße nach Hamburg: "Ich freue mich für Urs Siegenthaler, dass er diese unglaublich spannenden Aufgabe beim HSV übernehmen wird und gratuliere dem HSV zu dieser Entscheidung." Nach einem fast halbjährigen Schweigen meldet sich in letzter Sekunde plötzlich Generalsekretär Niersbach und lässt das Engagement platzen.

Hoffmann legt Wert auf die Feststellung, er habe sich beim DFB den offiziellen Segen für die Doppelbeschäftigung geholt, den plötzlichen Sinneswandel könne er entsprechend nicht nachvollziehen. Die meisten Kommentatoren folgen seiner Argumentation und vermuten die "Schlamperei" eher auf Seiten des DFB. Womöglich habe man dort damit gerechnet, dass sich das Problem von selbst löse: Mit Löws Abschied nach der WM.

Nach dem Liga-Aufstand: Siegenthaler sagt beim HSV ab