"Grundsätzlich sehe ich mich auf der Zehn"

Florian BognerThomas Gaber
22. Dezember 201013:59
Thomas Müller stand seit Sommer 2009 bei jedem Bundesliga-Spiel des FC Bayern auf dem PlatzImago
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Thomas Müller hat ein bewegtes 2010 hinter sich. Der Bayern-Spieler und WM-Torschützenkönig spricht im Interview über das turbulente Jahr, die überraschend schlechte Bundesliga-Hinrunde und gibt "Einblick" in die Bayern-Kabine. Außerdem bricht der 21-Jährige eine Lanze für Louis van Gaal und erläutert, was den Trainer so einzigartig macht.

SPOX: Thomas Müller, in der letzten Woche haben Sie in Herzogenaurach endlich den Goldenen Schuh für den WM-Torschützenkönig überreicht bekommen. Wurde langsam Zeit, oder?

Thomas Müller: (lacht) Das stimmt, die haben sich damit schon ein bisschen Zeit gelassen. War alles in allem aber eine schöne Sache und jetzt habe ich das Ding daheim.

Thomas Gaber, Thomas Müller, Florian Bogner (v.l.n.r.)spox

SPOX: Wo steht denn 'das Ding' jetzt?

Müller: Momentan noch im Flur.

SPOX: Nicht Ihr Ernst.

Müller: Natürlich nicht auf dem Boden, aber auf der Kommode. Im Flur. Vielleicht schaffe ich mir ja irgendwann einen Trophäenschrank an, wenn noch ein paar dazu kommen.

SPOX: Was nehmen Sie denn fußballerisch aus dem Jahr 2010 mit?

Müller: (überlegt) Ich habe festgestellt, dass man viel erreichen kann, wenn es im Team stimmt. Das war beim FC Bayern und in der Nationalmannschaft der Fall. Außerdem habe ich gemerkt, dass ich, wenn ich einen Lauf habe, ganz, ganz oben mithalten kann. Wenn ich sehe, wo ich vor eineinhalb Jahren war, als ich gerade Profi wurde, habe ich mich fußballerisch sehr weiterentwickelt. Ich bin jetzt auf einem anderen Level angelangt.

SPOX: Apropos Werdegang: Bastian Schweinsteiger hat vor kurzem erzählt, dass ihm Oliver Kahn, als Schweinsteiger 2002 als junger Hüpfer erstmals in der Bayern-Kabine auftauchte, immer das Handtuch geklaut hat. Was hat sich bei Ihnen in den letzten eineinhalb Jahren geändert?

Müller: Zu Beginn der ersten Saison unter van Gaal waren noch nicht alle Spinde fertig. Ich musste mich deswegen die erste Zeit unter der Wäscheleine umziehen, an der wir unsere verschwitzten Pulsmessgurte aufhängen. Mittlerweile habe ich meinen eigenen Spind - zwischen Arjen Robben und dem Klo. (lacht) Natürlich wird ein junger Spieler nicht gleich gefragt, was er abends macht und ob man nicht gemeinsam ausgehen will. Zuerst muss man durch Leistung überzeugen, dann kommt man auch außerhalb des Platzes in die Mannschaft rein.

SPOX: Das hat bei Ihnen ja reibungslos geklappt.

Müller: Im Grunde ja. Es ist ja heutzutage Gott sei Dank nicht mehr so, dass man als junger Spieler gleich mal im Training abgegrätscht wird und dann erstmal vier Monate ausfällt. Ich denke früher war das Geschäft innerhalb der Mannschaft härter. Heute werden junge Spieler schneller akzeptiert. Es gibt nicht mehr den Boss und die Lakaien in einer Mannschaft. Das sieht man auch in der Nationalmannschaft.

SPOX: Sie haben beim FC Bayern schon jede der vier offensiven Positionen im 4-2-3-1 bekleidet. Gibt es für Sie überhaupt eine Lieblingsposition?

Müller: Grundsätzlich sehe ich mich auf der 'Zehn', auch wenn ich in der Hinrunde jetzt meistens rechts für den verletzten Arjen Robben gespielt habe. Auf der 'Zehn' habe ich auch im letzten Jahr den Großteil der Spiele gut gespielt. Und wenn unsere beiden Außen fit sind, dann ist klar, dass sie für diese Positionen die beste Besetzung sind.

SPOX: Hat Sie dennoch überrascht, dass Sie nach einer super Rückrunde und einer starken WM von den Medien sofort kritisiert wurden, als Ihnen Trainer Louis van Gaal mal für drei Spiele eine Pause gönnte?

Müller: Nein. Mir war klar, dass so eine Phase kommen kann. Ich hab's gelassen genommen. Und ganz im Ernst: Es hieß schon vorher nach Spielen, in denen ich gut war, aber kein Tor geschossen habe, oft genug, dass der Müller schlecht war. Auf der anderen Seite gab es Spiele, in denen ich getroffen habe, aber selbst überhaupt nicht mit meinem Spiel zufrieden war - und ich wurde gelobt. Die Einschätzungen der Medien sind manchmal ganz schön schräg.

SPOX: So wie bei Franck Ribery gegen Basel, beispielsweise.

Müller: Genau. Nach dem Spiel sagen in der Mixed-Zone Journalisten zu mir, dass Ribery super drauf war. Er hat zwei Tore gemacht, okay. Aber er war mit seinem Spiel ansonsten nicht zufrieden. Aber gut: Tore lassen manche eben oft über andere Dinge hinweg sehen.

SPOX: Haben Sie denn auch mit den Problemen gerechnet, die Bayern zum Ende der Hinrunde 14 Punkte hinter Dortmund stehen lassen?

Müller: Nein, das hatte ich nicht erwartet. Ich dachte schon, dass wir besser in Gang kommen. Wenn man aber auswärts nur zwei Spiele gewinnt, wird's schwer, vorne mitzuspielen. Wir haben nicht unterirdisch gespielt, hätten aber bessere Ergebnisse erzielen müssen.

SPOX: Es gab zwei Spiele, die sinnbildlich für die Vorrunde standen: Die zwei 0:2-Niederlagen bei Dortmund und Schalke, in denen der FC Bayern nach einer überlegenen ersten Halbzeit plötzlich in Rückstand geriet und dann nicht mehr nachlegen konnte.

Müller: Es stimmt, dass wir mitunter Probleme haben, wenn wir in Rückstand geraten. Dann verlieren wir oft für eine Viertelstunde den Faden, in der wir nicht annähernd Richtung Tor kommen. In den beiden Spielen sind wir nach den Gegentoren beispielsweise erst in den letzten zehn Minuten wieder aufgewacht.

SPOX: Warum?

Müller: Tja. Wie erklärt man sich so was? Wenn wir es wüssten, würden wir es abstellen. Es ist ja nicht so, dass wir uns in der Halbzeitpause sagen: 'Jetzt trinken wir ein Bier und dann schaukeln wir das Ding schon irgendwie heim.' Wir wollen auch weiter Gas geben, aber irgendwie funktioniert es nicht. Es ist ja nicht so, dass wir auseinander genommen werden. Dennoch müssen wir uns oft nach den Spielen eingestehen, dass wir zwar nicht das schlechtere Team waren, aber am Ende schlechter da stehen. Irgendwas machen wir falsch - mit Pech oder Glück allein ist das nicht zu erklären. Wäre ja auch lächerlich, wenn wir uns so rausreden würden.

SPOX: Klingt nach einer gefährlichen Lage - wenn man nicht genau weiß, wo man ansetzen muss.

Müller: Schon. Wenn man sehen würde: 'In der Situation bin ich zu langsam', dann würde man an der Schnelligkeit arbeiten. So einfach ist es bei uns nicht. Trotzdem denke ich, dass unser ganzes Gebilde im Laufe der Hinrunde stabiler geworden ist und wir nun insgesamt überzeugender spielen als noch im September oder Oktober.

SPOX: Zum Selbstverständnis des FC Bayern gehörte immer, auch mal aus einem 'Scheiß-Spiel' drei Punkte mitzunehmen.

Müller: Und genau das haben wir in der Hinrunde nicht geschafft. Wenn ich mir die Klubs anschaue, die oben stehen, haben die das Maximum rausgeholt - wir nicht. Ich habe zum Beispiel neulich Mainz gegen Nürnberg angeschaut. Mainz gewinnt am Ende 3:0, fährt aber über 90 Minuten nicht einen vernünftigen Angriff und trifft nach zwei Standards und einem Konter. Wir dagegen müssen sehr viel mehr Aufwand betreiben, um Zählbares zu erhalten.

Müller-Interview, Teil 2: "Wir könnten nie Barca kopieren"

USER-FRAGESPOX: Trotzdem ist der Trainer innerhalb der Mannschaft über alle Zweifel erhaben. Schweinsteiger hat seinen Vertrag beispielsweise auch wegen van Gaal verlängert. Was macht ihn so speziell?

Müller: Dass er sich extrem detailliert mit Spielsituationen auseinander setzt und sich permanent mit Fußball beschäftigt. Wie er analysiert, wie er den Gegner studiert, was er taktisch drauf hat - das ist für mich einzigartig, auch wenn ich noch nicht so viele Profi-Trainer erlebt habe. Er impft einem immer wieder ein, was Fußball bedeutet.

SPOX: Es gibt also keinerlei Reibungspunkte?

Müller: Klar sieht man als Spieler mal was anders als der Trainer. Diesen Dialog lässt er aber auch zu und erklärt jede seiner Entscheidungen. Und prinzipiell merkt ja jeder, dass wir uns unter ihm verbessert haben und attraktiven Fußball spielen.

SPOX: Darf jeder Spieler dem Trainer contra geben?

Müller: Natürlich. Wenn er im Einzelgespräch Dinge an einem kritisiert, darf man auch die eigene Sicht schildern. Wichtig ist, dass man dann mit ihm auf einen Nenner kommt. Wir sind ja keine Soldaten, die immer 'Ja, Trainer, Ja' sagen. Das will er auch gar nicht.

SPOX: Was auffällt: Trotz der zwischenzeitlichen Animositäten mit dem Vorstand steht die Mannschaft bedingungslos hinter dem Trainer. Klar ist ein Demichelis mal unzufrieden oder ein Ribery gekränkt, aber der Nährboden stimmt, oder?

Müller: Nach der Sache mit dem Vorstand wäre eine Angriffsfläche da gewesen, aber die Mannschaft hat bewiesen, dass sie hinter Louis van Gaal steht.

SPOX: Also hat er keinen Autoritätsverlust erlitten, wie manche vermuteten.

Müller: Nein. Wieso auch? Die Mannschaft hat immer mitgezogen. Und selbst Spieler wie Demichelis, die mit ihrer Situation unzufrieden waren, haben sich lobend über den Trainer geäußert. Er behandelt uns immer respektvoll, obwohl er einen schwierigen Balanceakt zu bewältigen hat. Auf der einen Seite muss er Entscheidungen treffen, auf der anderen Seite den gesamten Kader bei Laune halten. Dass man bei Bayern aber auch mal verdiente Spieler auf die Bank setzen muss, sollte jedem klar sein.

SPOX: Die Ausgangslage für 2011 dürfte klar sein: mindestens Platz drei in der Bundesliga.

Müller: Auf jeden Fall. Die Champions League zu erreichen, ist beim FC Bayern Pflicht. Ob's dann noch weiter nach oben geht, sehen wir im April oder Mai.

SPOX: Entspricht es Ihrem Naturell, immer den maximalen Erfolg anzustreben? Man hat den Eindruck, für Sie zählen nur Titel.

Müller: Beim FC Bayern ist es Pflicht, immer zu gewinnen. Ich kann mich an kein Spiel erinnern, in dem wir vorher mit einem Remis zufrieden gewesen wären. Es ist daher eingeimpft. Man schafft es hier auch nur, wenn man den absoluten Siegeswillen hat. Das gilt auch für die Nationalmannschaft, mit der wir im Endeffekt im WM-Halbfinale gescheitert sind.

SPOX: Mit dem Abstand von einem halben Jahr: Was haben Sie persönlich von der WM mitgenommen?

Müller: Die Freude der Fans. Das war schon etwas Besonderes. Wenn Menschen heute auf der Straße zu mir kommen, wollen sie nicht einfach nur ein Autogramm, sondern geben mir die Hand und bedanken sich für das tolle Erlebnis im Sommer. Auch die, die grundsätzlich wenig Bezug zum Fußball haben. Dass die Menschen wegen uns eine gute Zeit hatten und uns das wissen lassen, ist eine große Anerkennung.

SPOX: Und sportlich? Spaniens Keeper Iker Casillas sagte kürzlich: Die einzige Mannschaft, die ihm auf Dauer Angst mache, sei Deutschland.

Müller: Er hat natürlich auch gesehen, was möglich ist. Unsere Mannschaft hat viele junge Spieler, ungemein viel Qualität. Er hat hautnah miterlebt, wie schwer sich Spanien gegen uns getan hat. Sie haben zwar gewonnen, für die Zukunft sieht es bei uns aber nicht unbedingt schlechter aus. Immerhin haben wir die WM-Form auch ein bisschen in die EM-Quali mitnehmen können und stehen dort gut da.

SPOX: Sie waren nach der WM aber einer der wenigen, der klipp und klar sagte, dass es eigentlich nichts zu feiern gäbe.

Müller: Gab es auch nicht. Wir konnten mit unseren Leistungen zu 90 Prozent zufrieden sein, aber gewonnen haben wir im Endeffekt nichts - außer vielleicht Sympathien. Der ein oder andere hat durch die WM vielleicht Begehrlichkeiten im Ausland geweckt - Özil und Khedira, unsere Madrider, als Beispiel. Für einzelne hat die WM etwas bewirkt. Den Titel, den wir uns als Mannschaft erhofft haben, haben wir aber verpasst.

SPOX: Haben Sie eigentlich den Clasico gesehen?

Müller: Leider nicht. Nur bei SPOX nachgelesen.

SPOX: Ist Barcelona das Nonplusultra, das Leitmotiv?

Müller: Ich sage es mal so: Wenn man Real Madrid in einem Pflichtspiel 5:0 schlägt, ist die Nachahmung erstrebenswert. (lacht) Dass wir nie wie Barcelona spielen werden, ist auch klar. Man könnte die ganze Welt kaufen und könnte sie trotzdem nicht kopieren. Sie haben ihre Philosophie, wir unsere. Aber das ist auch gut so.

SPOX: Schauen Sie denn mitunter links und rechts, was die anderen treiben?

Müller: Wir sind viel unterwegs, deswegen ist das mit dem live Spiele verfolgen schwer. Man versucht schon, zumindest die Freitagsspiele der Bundesliga zu sehen. International gucke ich ab und an in der Internet-Sportwelt, was Sache ist. Ich werde aber nicht unruhig, wenn ich mal zwei Tage nicht auf dem Laufenden bin.