Fabian Boll formulierte noch eine letzte Anweisung an die Fans, die aber unmissverständlich: "Lasst die Sau raus!" Es war ein trister Februarabend in Hamburg-Stellingen, aus Sicht des FC St. Pauli aber war es ein Abend zum Dahinschmelzen.
Es war der erste Sieg über den Stadtrivalen Hamburger SV nach über 33 Jahren. Eine Art Zäsur, auch wenn es einige nicht als solche begreifen wollten.
St. Pauli war plötzlich die beste Mannschaft der Rückrunde, mit 28 Punkten nach 22 Spieltagen im gemäßigten Mittelfeld beheimatet und gefühlte drei Siege vom Klassenerhalt entfernt.
Der Beginn der Talfahrt
Trainer Holger Stanislawski kündigte noch "etwas Verrücktes" für die nachfolgende Partie bei Spitzenreiter Borussia Dortmund an. Was genau sich dahinter verbergen sollte, ist weiter ungeklärt.
Das 0:2 - dem Spielverlauf hätte einem 0:6 eher entsprochen - sollte der Beginn einer scharfen Talfahrt werden, mit fünf Niederlagen und dem vorläufigen Absturz auf Rang 16. Seitdem ist einiges schief gelaufen beim FC St. Pauli, es hat sich eine gefährliche Konstellation entwickelt mit Komponenten, die als handelsübliche Attribute eines kommenden Absteigers durchgehen.
Die Mannschaft spielt im Prinzip immer noch den leidenschaftlichen, von viel Kampf und Entschlossenheit geprägten Fußball der erfolgreicheren Zeit. Die glanzvolle spielerische Linie musste sie vom ersten Spieltag an in Liga zwei zurücklassen.
Die Abwehr macht Sorgen
Trainer Stanislawski hatte schnell begriffen, dass sich die technischen Elemente auf das schnelle Umkehrspiel beschränken würden, was bis zur Partie im anderen Stadtteil auch recht gut gelang.
Aber plötzlich brachen einige der wichtigen Mosaikstückchen einfach so weg. In den letzten fünf Spielen hat die Mannschaft lediglich zwei Tore erzielt. Die Offensive war davor schon ein Sorgenkind, aber lediglich zwei Treffer in 450 Minuten? Nur die mittlerweile verhinderten Rekordjäger von Eintracht Frankfurt sind noch harmloser (27 Tore).
Auf das Konto der nominell fünf Stürmer gehen nur elf Saisontore, sechs davon hat Gerald Asamoah erzielt. Demzufolge verwundert auch das zweitschlechteste Torverhältnis der Liga nicht mehr (-18). Dazu gesellt sich seit einigen Wochen ein ungeheures Verletzungspech, das vor allen Dingen die Defensive stark schwächt.
Nur noch Thorandt fit
Mit Carlos Zambrano (Sehnenband-Abriss im rechten Oberschenkel), Bastian Oczipka (Knöchelbruch), Fabio Morena (Mittelfußbruch), Carsten Rothenbach (Patellasehnen-Probleme) und Moritz Volz (Schienbeinbruch) fällt mehr als eine komplette Viererkette aus, von der Idealbesetzung ist mit Markus Thorandt nur noch ein Innenverteidiger übrig geblieben.
"Ich traue jedem Spieler in unserem Kader die Bundesliga zu", sagt Stanislawski zwar. Was sollte er auch sonst sagen? Nur funktioniert ein empfindlicher Mannschaftsteil wie die Abwehrkette dann am besten, wenn sie eingespielt ist.
Derzeit ist der Abwehrverbund aber das reinste Improvisationstheater, dazu stimmt der geordnete Rückzug der gesamten Mannschaft nicht mehr so wie noch in der Vorrunde oder zu Beginn der Rückrunde.
Zu viele Last-Minute-Treffer
Der Ausreißer beim völlig indiskutablen 0:5 beim 1. FC Nürnberg ist bis heute ein Rätsel. Er dokumentiert aber, wie fragil das Gebilde innerhalb der Mannschaft mittlerweile ist. Bereits in sechs Spielen kassierten die Hamburger noch einen Gegentreffer in den letzten zehn Minuten. Zuletzt das ebenso bittere wie absolut unnötige 1:2 im Heimspiel gegen den VfB Stuttgart, einen unmittelbaren Konkurrenten.
Es sind diese Niederlagen, die die Moral rauben und eine schwierige Phase sieben Spieltage vor Schluss zu einer sehr gefährlichen machen.
Aber auch in der Vorrunde gab es eine heikle Periode mit vier Niederlagen in Serie, die Mannschaft manövrierte sich damals aber gekonnt aus dem Schlamassel. Jetzt ist der Druck ein anderer, die Personallage extrem angespannt und das Glück ward lange nicht mehr gesehen.
Schwarzfahrer fliegen raus
Trainer Stanislawski schlägt auch deshalb rauere Töne an. "Jeder, der auf den Zug aufspringen will, bekommt ein Ticket. Wer aber schwarz mitfährt, fliegt raus", sagt er. Es klingt ein wenig danach, als hätten sich Egoismen ihren Weg gebahnt, wo vorher der pure Mannschaftsgedanke im Vordergrund stand.
"Unruhe gibt es immer, aber die lassen wir nicht an unseren innersten Kern heran. Wir sagen immer, dass wir vom Kollektiv leben, das müssen wir jetzt auch beweisen. Es ist an der Zeit, die Streitaxt rauszuholen."
Dabei wird zumindest außerhalb der Mannschaft auch die ungeklärte Zukunft des Trainers als eine Ursache für den Negativlauf gesehen. Stanislawski ist seit 2006 verantwortlich für die Mannschaft, hat den Klub aus dem Nichts der Regionalliga Nord zurückgeführt ins Rampenlicht der Bundesliga.
Aber er hat auch in den Stunden großer Glückseligkeit nie behauptet, für immer und ewig auf St. Pauli bleiben zu wollen. Dafür ist er zu sehr Realist und auch ehrgeizig genug, sich woanders als im Biotop St. Pauli beweisen und durchsetzen zu wollen.
"Denen werden wir gehörig in den Arsch treten"
Dass die angeblichen Wechselgerüchte jetzt aufkommen, passt ins Bild. Ist aber nicht (nur) die Schuld des Trainers. Auch wenn er zuletzt einige Möglichkeiten ausgelassen hatte, sich klar zu positionieren.
"Wenn die Saison vorbei ist, haben wir noch ganz, ganz viel Zeit darüber zu sprechen, ob ich hier nächstes Jahr noch Trainer bin", hat er vor einigen Tagen gesagt.
Vermutlich ist es aber Stanislawskis erfrischend uneitle Art, gepaart mit dem Kalkül, alles Negative von seiner Mannschaft fernhalten zu wollen, die ihn in dieser Lauerstellung verharren lassen.
Nur bei einer Sache, Krise hin oder her, ist er sich weiterhin ganz sicher: Seine Mannschaft steht am 34. Spieltag über dem Strich. "Allen, die denken, dass St. Pauli schon abgestiegen ist, werden wir gehörig in den Arsch treten."
Das Restprogramm des FC St. Pauli