Vom Praktikant zum Sportdirektor: Christian Nerlinger hat beim FC Bayern seine Hausaufgaben gemacht und erkannt, dass er gar kein Mini-Hoeneß sein muss. Lob schallt ihm von allen Seiten entgegen, seine Vertragsverlängerung scheint nur noch Formsache zu sein. Erste Erfolge tun dem 38-Jährigen zudem gut - auch, wenn der Fall Breno Fragen aufwirft.
Es hatte gut und gerne 30 Grad, dementsprechend floss der Schweiß. Die Journalisten suchten beim Bayern-Trainingslager am Gardasee im Juli 2010 vornehmlich den Schatten auf, nur wenige hielten es auf der Tribüne in Arco aus. Die, die in der Sonne blieben, löcherten derweil den Sportdirektor.
Christian Nerlinger hatte es sich trotz der unangenehmen Fragen nach Franck Riberys Ärger mit der französischen Justiz bequem gemacht, saß schwitzend in einem der Plastiksitze, beobachtete aus dem Augenwinkel das Training, stützte ein Bein auf die Lehne vor sich und offenbarte so einen Blick auf seine Socken: Wollsocken, blütenweiß. Bei 30 Grad im Schatten.
Authentizität schlägt Autorität
Nerlinger hatte wahrhaftig keinen einfachen Start ins Sportdirektor-Geschäft und wirkte in seiner Anfangszeit des Öfteren befremdlich, ja beinahe deplatziert.
"Uli Hoeneß hat sich in 30 Jahren eine Kompetenz und eine mediale Wirkung aufgebaut, die nicht kopierbar ist. Das möchte ich auch gar nicht", sagte er im Mai 2009 beinahe schüchtern, als er noch die Position des Teammanagers inne hatte. Inoffizielle Bezeichnung damals: Hoeneß-Azubi.
Doch Nerlinger entwickelte mit der Zeit ein besseres Gespür dafür, wie er sich zu geben hat - in erster Linie authentisch. Als Hoeneß Ende 2009 das Zepter als Manager abgab, fragten sich dennoch viele: Wird sich Nerlinger, der Praktikant, als sportlich Verantwortlicher aus dem Schatten seines Vorgängers, des unkopierbaren Über-Managers, lösen können?
Die Antwort ist einfach: Er musste es gar nicht. "Der größte Fehler wäre, aufzutreten wie der große Zampano und zu meinen, wegen meines neuen Amtes hätte ich jetzt die gleiche Autorität wie Uli Hoeneß. Da würde ich mich lächerlich machen", sagte er damals.
Den Kader verjüngt...
Als Bereichsleiter Sport hat der 38-Jährige mittlerweile seinen eigenen Weg gefunden. Nerlinger hat sich emanzipiert und weist nach knapp zwei Jahren Amtszeit erste Erfolge auf, indem er Tipps von oben annimmt, sich auf sein Kerngeschäft konzentriert und keine großen Reden schwingt.
Die Transfers, die Nerlinger bislang mitzuverantworten hatte, trugen jedenfalls maßgeblich zur Verjüngung des Kaders bei. Luiz Gustavo, Nils Petersen, Rafinha, Manuel Neuer, Takashi Usami, Jerome Boateng - keiner von ihnen ist über 26, alle haben Perspektive im Kader.
"Ich finde Christians Entwicklung sehr gut, da er als Nachfolger von Uli Hoeneß eine Herkules-Aufgabe zu bewältigen hatte und hat", lobte ihn der Vorstandsvorsitzende Karl-Heinz Rummenigge in der letzten Woche via "Sport-Bild": "Er hat sich gut in die Arbeit reingearbeitet."
...und die Stars gehalten
Ganz nebenbei wirkte Nerlinger bei den Vertragsverlängerungen mit den Kapitänen Philipp Lahm und Bastian Schweinsteiger sowie bei Toni Kroos mit und sorgte im Stillen dafür, dass beim FC Bayern in den kommenden zwei Jahren die wenigsten Verträge aller Bundesligisten auslaufen.
Daniel Van Buyten und Anatolij Tymoschtschuk sind die einzigen beiden aus dem erweiterten Stammspieler-Kreis, deren Verträge nur bis kommenden Sommer gehen - und beide sind schon 33 bzw. 32 Jahre alt.
Die weiteren Kandidaten heißen Jörg Butt (37), Rouven Sattelmaier, Breno, Daniel Pranjic (29) und Ivica Olic (32). Dazu ist noch die Frage offen, wie es mit dem ausgeliehenen Usami weiter geht.
2013 laufen dann neben Diego Contento und Maximilian Riedmüller auch die Verträge mit Arjen Robben und Mario Gomez aus - Nerlingers nächste große Aufgabe. Neben der Beschaffung weiterer Spieler, versteht sich.
Vertragsverlängerung nur Formsache
Dass der Sportdirektor weiter im Amt bleibt, steht mittlerweile außer Frage - auch, wenn sein eigener Vertrag derzeit auch nur bis 30. Juli 2012 gilt. "Er macht einen hervorragenden Job, warum sollte er infrage stehen? Einen Hauptteil des Erfolgs muss man Christian zugestehen. Er ist mit dem Trainer für die Mannschaft verantwortlich", lobte Franz Beckenbauer im Oktober.
Am vergangenen Montag tagte der Aufsichtsrat turnusmäßig und entschied dabei auch über die Zukunft des Sportdirektors. Tendenz: es geht natürlich weiter. Eigentlich fehlt nur noch die offizielle Bestätigung.
"Christian und ich harmonieren wunderbar", ließ Trainer Jupp Heynckes zuvor schon ausrichten. "Er ist sehr loyal, professionell, engagiert. Über seinen Vertrag muss der Aufsichtsrat entscheiden. Ich würde selbstverständlich sehr gerne weiter mit ihm arbeiten."
Lahm lobt teamnahen Nerlinger
Lob schallt dem Sportdirektor auch aus der Kabine entgegen, die Nerlinger beinahe täglich aufsucht. Nähe zur Mannschaft sei ihm wichtig, betont der 38-Jährige stets. Die Spieler dürfen ihn duzen, "aber ich mache dabei nicht auf Kumpeltyp, weil Bayern München eine absolute Leistungsgesellschaft ist", erklärte Nerlinger zu Beginn seiner Sportdirektor-Zeit klar.
"Wir haben uns zuletzt gut verstärkt. Und das ist auch der Verdienst von Christian", lobte Philipp Lahm vergangene Woche: "Die Mannschaft weiß, was sie an ihm hat, und dass er ein sehr, sehr guter Sportdirektor ist."
Als Ex-Profi, der selbst zwölf Jahre lang für den FC Bayern die Knochen hinhielt (1986-1998), weiß er, wie er mit den Spielern umzugehen hat. "Ich habe das ganze Spektrum selbst erlebt. Es muss einen offenen und respektvollen Umgang geben. Man muss auch unangenehme Dinge direkt ansprechen", sagt er.
Fragwürdige Rolle im Fall Breno
Nerlinger war deshalb auch erste Wahl, als es darum ging, den inhaftierten Breno von Vereinsseite zu betreuen. Einige unterstellen Nerlinger aber auch unterschwellig, Brenos Gefühlslage zuvor verkannt und den Spieler bis zum Hausbrand im Stich gelassen zu haben. Tenor: Wenn er so nahe am Team dran ist, wie konnte er Brenos Gemütslage nicht kennen?
Immerhin war Nerlinger für den Spieler dann in den kritischen Tagen vor und nach der Inhaftierung zu jeder Tag- und Nachtzeit da und verhält sich bis heute äußerst loyal, lässt keinerlei Informationen nach außen dringen.
Wenn der Sportdirektor etwas von Hoeneß gelernt hat, dann aufs Bauchgefühl zu achten. "Gesunder Menschenverstand ist wichtiger, als sich vorher Konzepte zurechtzulegen, die unter Umständen schnell wieder über den Haufen geworfen werden", sagt Nerlinger.
"Ein höchst solider und seriöser Arbeiter"
Auch wenn viele Dinge beim FC Bayern nach wie vor Chefsache sind - wie zum Beispiel die Entlassung von Louis van Gaal mit der Troika Hoeneß, Rummenigge und Karl Hopfner auf dem Podium der Pressekonferenz damals bewies - hat Nerlinger seinen Platz beim FC Bayern gefunden.
Die Abteilung Attacke gehört nach wie vor zu Hoeneß' Aufgaben, Nerlinger arbeitet eher im Stillen. Oder wie sagte Franz Beckenbauer so schön? "Christian ist ein höchst solider und seriöser Arbeiter. Solange Uli Hoeneß da ist, wird der immer im Vordergrund stehen."
Nerlinger wird das so auch ganz recht sein. Im Sommer 2011 war der Sportdirektor übrigens wieder am Gardasee dabei, schwitzte diesmal aber nicht mehr mit den Journalisten auf der Tribüne, sondern am Spielfeldrand. Die weißen Wollsocken waren zuhause geblieben.
Der Kader des FC Bayern im Überblick