"Cantona ist unter aller Sau"

Haruka Gruber
20. September 201222:53
Jörg Stiel bei der EM 2004 im Einsatz für die Schweiz gegen Frankreich und Zinedine ZidaneImago
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Ein Leben voller Romantik, Irrungen und "Arschlöcher": Mönchengladbachs Kultkeeper Jörg Stiel über den Durchbruch als 32-jähriger Fußball-Rentner und seine Bewunderung für Marc-Andre ter Stegen, dem zukünftigen "weltbesten Keeper".

SPOX: Herr Stiel, Sie hatten für die Zeit nach der Profi-Karriere einen Traum: "Ich will nicht mehr mit Menschen zusammenarbeiten müssen, die ich nicht ausstehen kann, egal für wie viel Geld." Blieb es ein Traum?

Jörg Stiel: Im Prinzip verfolge ich immer noch den Traum, dennoch muss ich die Aussage von damals differenzieren: Wenn ich weiß, dass ich Montagfrüh einen Termin - Entschuldigung für die Ausdrucksweise - mit einem Arschloch habe, kann ich den Sonntagnachmittag schon komplett vergessen. Von daher würde ich gerne nur noch Menschen um mich haben, mit denen ich mich super verstehe. Aber: In der realen Welt muss man sich arrangieren. Deswegen sehe ich es nicht mehr ganz so eng wie früher. Solange mir der Gesprächspartner Respekt und Achtung entgegenbringt, ist es für mich okay.

SPOX: Was heißt okay?

Stiel: Ich ziehe klare Grenzen. Ich sage alle Prosecco-Empfänge ab, weil bei solchen Anlässen - noch einmal Entschuldigung für die Ausdrucksweise - viele Arschlöcher anzutreffen sind. Ausnahmen mache ich nur, wenn ich einem Freund einen Gefallen tun kann oder wenn ich für den Auftritt bezahlt werde. Den ganzen Rest brauche ich nicht mehr. Für was auch? Ich verdiene so, dass ich ein zufriedenstellendes Leben führen kann, und habe zusätzlich einen Schuhsponsor, einen Klamottensponsor, einen Uhrensponsor und einen Unterwäschesponsor. Das ist nicht schlecht.

SPOX-Reporter Haruka Gruber traf sich mit Jörg Stiel zum Interviewspox

SPOX: Sie haben einen Unterwäschesponsor?

Stiel: Das sind die lustigen Storys, die entstehen, wenn sich nette Leute unterhalten. Einem Freund von mir gehört die Unterwäschefirma "Gia Dee", die nicht nur mich, sondern meine beiden Ex-Klubs Mönchengladbach und St. Gallen ausstattet. Das ist Nehmen und Geben auf Augenhöhe - und ich muss in meinem Leben wohl nie wieder Unterhosen kaufen. Das ist der wahre Luxus des ehrlichen Mannes. (lacht)

SPOX: Sie scheinen mit sich im Reinen. Ist das Leben nach der Fußballer-Laufbahn doch nicht so beschwerlich, wie es immer heißt?

Stiel: Ganz im Gegenteil: Für mich war es richtig, richtig hart. Die Umstellung bereitete mir große Probleme. Vor allem emotional. Ich wusste plötzlich nicht mehr, was meine Prioritäten sind, als der Fußball wegfiel. Ich musste meine gesamte Vergangenheit aufarbeiten, um mir klar zu werden, wie ich mein restliches Leben angehen möchte.

SPOX: Geht das konkret?

Stiel: Ich hatte eine Psychologin, ich bezeichne sie einfach mal als Psychotante, die mich die ersten eineinhalb Jahre begleitete und mittlerweile mein persönlicher Coach ist. Wir redeten darüber, dass mein Selbstverständnis nicht alleine dadurch definiert werden darf, was ich als Sportler geleistet habe. Als Profi-Fußballer lebt man unter einer Glocke und sieht die reale Welt nur verschwommen. Wenn die Glocke plötzlich verschwindet, steht man da und ist überfordert von all dem neuen Input. Um damit klarzukommen, benötigte ich Hilfe.

SPOX: Wie sieht Ihr heutiges Leben aus?

Stiel: Ich arbeite für das Unternehmen "Reusch" und vertreibe Torwart- und Ski-Handschuhe. Außerdem helfe ich sozialen Projekten wie das Kinderhilfswerk Kuba oder der Schweizer Tafel. Und wenn es die Zeit zulässt, organisiere ich Events wie die Schneefußball-WM in Arosa mit.

SPOX: Sie waren zudem Mitglied der Schweizer Beachsoccer-Nationalmannschaft.

Stiel: Dafür fehlt mir mittlerweile leider die Zeit.

SPOX: Ihr Zusammenstoß mit Eric Cantona bei der Beachsoccer-WM 2009 ist nicht der Grund? Er unterstellte Ihnen, ein Rassist zu sein, und ohrfeigte Sie.

Stiel: Von so einem lasse ich mir nicht vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe! Der kann sich nicht einmal artikulieren! Der Typ ist so unter aller Sau, der hat sie nicht alle! Über den Typen ein Wort zu verlieren ist ein Wort zu viel. Mich als Rassisten zu beschimpfen ist das Absurdeste, was ich je gehört habe. Ich weiß ganz genau, was es heißt, als Ausländer in einem fremden Land zu leben.

SPOX: Sie wechselten 1993 für ein Jahr nach Mexiko zu Toros Neza - dabei sprachen Sie kein Wort Spanisch. Wie erging es Ihnen dort?

Stiel: Ich war der krasse Exot. Ein Schweizer Torwart in Mexiko - einfach nur verrückt. Ich zog mit meiner damaligen Freundin und jetzigen Ex-Frau ans andere Ende des Planeten und wir saßen auf einmal da: ohne Spanischkenntnisse, ohne Freunde, nichts. Aber ich habe mich durchgebissen und die Sprache gelernt, weil mir ohnehin nichts anderes übrig blieb. Irgendwann war ich voll integriert und saß mit den Mexikanern, Argentiniern und Uruguayern an einem Tisch und wurde wie einer von ihnen behandelt.

SPOX: Warum sind Sie als 25-Jähriger überhaupt von Ihrem Heimatverein St. Gallen nach Mexiko gewechselt?

Stiel: Ich war ein beleidigtes Kind. Ich erfüllte jedes Klischee eines Fußball-Profis: verzogen, verwöhnt, eingebildet. Aus einem früher netten Jungen wurde ein Großmaul, ein Schaumschläger, eine Hackfresse. Alles, was du willst, ich war es. Als dann plötzlich St. Gallen mir mitteilte, dass sie mich nicht mehr wollen, schlug ich um mich und ging aus Trotz nach Mexiko.

SPOX: Und durch die Zeit in Mexiko wurden Sie geläutert?

Stiel: Nein, das dauerte noch. Ich kehrte damals aus privaten Gründen schon nach einem Jahr wieder in die Schweiz zurück. Im Nachhinein betrachtet vielleicht ein Fehler. Beim FC Zürich wurde ich ähnlich wie zuvor in St. Gallen nach zwei Jahren rausgeschmissen. Das war 1996 - und ich steckte mit 28 Jahren in der fußballerischen Midlife-Crises. Statt mich selbst kritisch zu hinterfragen, dachte ich mir: Warum gibt es überall Arschlöcher?

SPOX: Die Antwort?

Stiel: Während der Midlife-Crisis kam ich irgendwann zur Erkenntnis, dass ich mich nicht mehr so wichtig nehmen sollte. Wenn alle anderen Arschlöcher sind - bin ich nicht selbst ein Arschloch? Wenn man andauernd nur Arschlöcher sieht - muss man nicht selbst ein Arschloch sein? Ich traf damals zum Glück Leute, die mir den Spiegel vorhielten und später zu Freunden wurden.

Teil II: "Ter Stegen steckt Tim Wiese in die Tasche"

SPOX: Half es Ihnen auf dem Weg der Selbsterkenntnis, nicht mehr nur als Fußballer zu leben, sondern parallel eine Stelle bei einem Bauunternehmen anzunehmen?

Stiel: Ich wollte unbedingt herausfinden, ob ich mehr kann als nur Fußballspielen. Das brauchte ich für mein Selbstwertgefühl. Daher fing ich nicht nur bei dem Bauunternehmen an und trainierte nebenbei in St. Gallen, sondern ging außerdem auf eine Schule für kaufmännische Ausbildung - und bekam zeitgleich meine erste Tochter. Es war eine unglaublich stressige Zeit, die mich jedoch voranbrachte. Erst so habe ich erkannt, zu was ich zu leisten imstande bin. Es war eine Initialzündung.

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SPOX: Wie sah Ihr damaliger Alltag aus?

Stiel: Morgens bin ich ins Büro und ging halbtags meiner Arbeit als Bausekretär nach: Meine Firma war eine sogenannte Generalunternehmung, die beim Hausbau vom Architekten bis zur Reinigungskraft alles koordiniert, und meine Aufgabe bestand darin, in der Administration für den reibungslosen Ablauf zu sorgen. Mittags fuhr ich rüber zum FC St. Gallen für das Training, abends stand die Abendschule an. Dieser geordnete Ablauf brachte Stabilität in mein Leben.

SPOX: Trotz der Mehrfach-Belastung gelang Ihnen aus dem Nichts der Durchbruch als Torwart - im gesetzten Alter von 32 Jahren. 2000 gewannen Sie mit St. Gallen sensationell die Schweizer Meisterschaft und debütierten in der Nationalmannschaft. Ein Jahr später wurde sogar Mönchengladbach auf Sie aufmerksam und holte Sie in die Bundesliga.

Stiel: Ich bin kein Esoteriker und es soll nicht zu durchgeknallt klingen. Aber mittlerweile kenne ich die Kraft des adäquaten Wünschens. Ich musste die Kunst lernen, richtig wünschen zu können. Früher habe ich mich nicht auf das Wesentliche konzentriert, doch als ich anfing, realistische Ziele zu formulieren, klappten sie auch. Der Wechsel nach Mönchengladbach ist das perfekte Beispiel: Wir besiegten im UEFA-Cup den FC Chelsea und schieden danach unglücklich gegen Brügge aus. Nach diesen Spielen sagte ich meinem Berater, dass ich in eine große Liga will - und es hat geklappt, obwohl ich schon 33 Jahre alt war.

SPOX: Dabei sprach nichts dafür, dass ein Bundesligist Sie verpflichtet.

Stiel: Eigentlich suchte Gladbach einen linken Außenverteidiger. Ich war ohnehin zu klein und zu alt, um in Betracht gezogen zu werden. Dann kamen die Spiele gegen Brügge - und ich hielt unmögliche Dinger, bei denen ich selbst nicht wusste, wie es mir gelang. So kam es, dass Gladbach für einen zu kleinen und zu alten Torwart ein Angebot abgab. Daraus entstand eine romantische Geschichte. Die Zeit mit Hans Meyer war Hammer-mäßig.

SPOX: Einer Ihrer damaligen Mitspieler war der heutige Sportdirektor Max Eberl, der Sie nach Ihrem Rücktritt für eineinhalb Jahre als Dolmetscher für die Spanisch-sprechenden Spieler nach Mönchengladbach zurückholte. Hätten Sie Eberls Entwicklung hin zu einem der Top-Manager der Liga erwartet?

Stiel: Erwartet habe ich es schon - nur es wird nach wie vor nicht genügend gewürdigt. Ich kenne keinen Sportdirektor, der so konzipiert und strukturiert arbeitet wie Max. Wenn ich andere Manager sehe, müsste ich ihnen sagen: "Leute, schaut euch Max an! Ihr habt einen geilen Job, Ihr macht nur viel zu wenig aus den Möglichkeiten!" Fast jeder andere Verein hätte Reus, Herrmann, Jantschke, Dante, Hanke, Nordtveit, Stranzl, Brouwers oder Neustädter haben können - und nur Max hatte die Vision, dass aus diesen Spielern etwas Besonderes entstehen kann.

SPOX: Zu Eberls Vision gehörte es, den damals 17-jährigen Torwart Marc-Andre ter Stegen einen Profi-Vertrag zu geben. Jetzt ist ter Stegen 19 Jahre alt, Gladbachs Nummer eins und beim FC Barcelona im Gespräch.

Stiel: Vor zwei Jahren riet mir Gladbachs Torwarttrainer Uwe Kamps dazu, mir einen Buben anzuschauen, der sehr zurückhaltend wäre, aber den der Verein als zukünftigen Stammtorwart im Blick hätte. Als ich mit Marc ins Gespräch kam, wusste ich sofort, dass er durchstarten wird. Er ist so klar in der Birne, dass ich nicht glauben konnte, dass er erst 17 war.

SPOX: Wie gut ist ter Stegen?

Stiel: Ich sage voraus: In spätestens zwei Jahren muss sich Manuel Neuer ganz warm anziehen. Die WM 2014 kommt womöglich zu früh, danach wird Marc sicher die neue deutsche Nummer eins. Das schwöre ich. Sein Potenzial ist unglaublich.

SPOX: Was ist mit Tim Wiese?

Stiel: Marc steckt Wiese in die Tasche.

SPOX: Bernd Leno, Ron-Robert Zieler, Oliver Baumann, Kevin Trapp, Sven Ulreich?

Stiel: Zieler, Baumann, Trapp und Ulreich kommen schon alleine wegen des Alters nicht an Marc heran. Sie sind alle gute Torhüter, trotzdem hat Marc mit 19 Jahren eine viel größere Entwicklungsmöglichkeit vor sich. Bernd Leno ist der gleiche Jahrgang und ebenfalls ein klasse Keeper, bei ihm vermisse ich jedoch wie bei Neuer die Ausstrahlung von Marc. Er bringt für einen 19-Jährigen eine brutale Ausstrahlung mit.

SPOX: Sehen Sie kein Defizit bei ter Stegen? Vielleicht die Strafraumbeherrschung?

Stiel: Man sollte genau darauf achten, wie sich Marc verhält. Er ist keiner, der bei einer Flanke wie von einer Tarantel gestochen los sprintet, laut "Boooaaahhh" brüllt und den gegnerischen Stürmer weghaut. Er macht es viel dezenter. Wenn der Gegner seinen Angriff aufbaut, läuft Marc bereits mit und steht dank seiner Antizipation schon dort, wo die Flanke am Ende landet. Es ist weniger spektakulär, dafür umso wirkungsvoller.

SPOX: Es klingt bei Ihnen, als ob ter Stegen auf dem Weg zum weltbesten Torwart wäre.

Stiel: Warum nicht? Die Bundesliga ist ohnehin die Liga mit der größten Dichte an guten Keepern. Und wenn ter Stegen in absehbarer Zeit Neuer ablöst, wäre er logischerweise einer der wenn nicht der weltweit beste Keeper. Marc werden in der Zukunft auch Fehler unterlaufen, das ist nicht das Thema. Das ändert dennoch nichts an den Fakten: Er bringt die nötige Bulligkeit mit, gleichzeitig ist er beweglich und kann mit dem Ball am Fuß überragend umgehen. Ich kenne keinen Besseren als Marc-Andre ter Stegen.

Kultkeeper Jörg Stiel im Steckbrief