Er kam im langen Bärenfellmantel und mit weiß gefärbten, anrasierten Haaren. 2006, bei seiner offiziellen Vorstellung bei Wigan Athletic wurde schnell klar, dass es sich bei Paul Scharner nicht um einen gewöhnlichen Neuzugang handeln würde.
Diesen Eindruck dürfte knapp sieben Jahre später auch HSV-Coach Thorsten Fink geteilt haben. In einem Wiener Hotel trifft er den 32 Jahre alten Österreicher zu einem persönlichen Gespräch. Was folgt, hat mit einem konventionellen Job-Interview wenig zu tun.
"Plötzlich kramte Paul einen Zettel mit zehn Fragen hervor und befragte mich. Das ist recht ungewöhnlich, aber ich habe breitwillig seinen Fragebogen mit ihm abgearbeitet", verriet Fink der "Bild".
Die Stärken und Schwächen der Mannschaft, den Führungsstil des Trainers und die vorgesehene Position: Scharner habe alles ganz genau wissen wollen. Nach kurzer Überlegung bricht es schließlich aus Scharner heraus: "Trainer, ich mach's!".
Mentaltraining mit 15 Jahren
Diese kurze Episode passt perfekt in die Vita des Mannes, der nichts dem Zufall überlässt. Bereits im Alter von zwölf Jahren weist Scharner seine Mutter Helga an, weniger fetthaltig zu kochen: "Ich muss dünn und fit sein, denn ich werde Profifußballer werden."
Drei Jahre später folgt die nächste Stufe der Professionalisierung seines Sportlerlebens. Scharner begreift, dass mit der Hilfe eines Teams eine höhere Leistung zu erzielen ist und beginnt mit Mentaltraining und autogenem Training. "Ich muss mich aufs Fußballspielen, die Front sozusagen, konzentrieren und kann mich nicht auch noch um den Hintergrund kümmern", sagt er im Interview mit dem österreichischen "Sportmagazin".
Über Norwegen in die Premier League
Als Teenager hat Scharner zwar kaum Freunde, dafür aber einen Plan für alles. Seinen großen Traum, einmal in der Premier League zu spielen, geht der 1,93 Meter große Verteidiger trotz jungen Alters mit strategischer Weitsicht an.
Nach Engagements bei der Wiener Austria und Austria Salzburg wechselt er 2004 in die norwegische Liga zu Brann Bergen - und das mit einer klaren Intention: "Ich habe mich für die Premier League in Position gebracht, als ich 19 war. Ich habe in Bergen, direkt gesagt, dass ich nach England will - das war der Fokus. Ich wusste, dass skandinavischer Fußball mehr mit dem englischen verbunden ist als jeder andere in Europa."
Scharners Masterplan geht auf. 2006 überweist Wigan drei Millionen Euro nach Norwegen, um Scharner - inzwischen längst österreichischer Nationalspieler - unter Vertrag zu nehmen. Sein paradiesvogelhaftes Auftreten, seine beinharte Spielart und die schier unendliche Fokussierung auf den Erfolg finden schnell Gefallen und machen ihn in England zur Kultfigur.
James Morrison: "Er ist ein Spinner"
Nach vier Jahren bei den Latics führt Scharners Weg nach West Bromwich - und auch dort bleibt er weit entfernt vom Klischee des stromlinienförmiger Profis. "Er ist ein Spinner", sagt sein damaliger Teamkollege James Morrison liebevoll, aber ohne jeden Funken Ironie.
Grund genug für diese Denkweise bietet Scharner seinen Teamkollegen allemal. Denn hinter seiner Fassade als beinharter Verteidiger ist Scharner noch immer der Sonderling, der er schon als Kind war. Auf Flipcharts hält der gelernte Elektrotechniker seine kurz- und langfristigen Ziele minutiös fest, übt sich in Atem- und Meditationstechniken und stimmt sich mit klassischer Musik von Mozart auf Spiele ein.
Allen außergewöhnlichen Methoden zum Trotz verliert er nie die Bodenhaftung. Scharner gibt sich publikumsnah, besucht regelmäßig Fan-Treffen und wird im Hawthorns bei jedem Einsatz mit "Paul Scharner"-Gesängen gefeiert.
Zum letzten Mal ertönen diese im Mai 2012 als Scharner seine Abschiedsvorstellung für West Bromwich gibt. Trainer Roy Hodgson hatte ihn während der Saison zum Reservisten degradiert, sein Vertrag war entgegen dem Wunsch der Fans nicht verlängert worden.
2003: Eklat mit Joachim Löw
So beliebt Scharner England ist, so kritisch wird er in Österreich betrachtet. In seinem Heimatland gilt er als Querulant und ist an diesem Ruf nicht ganz unschuldig. 2003 verweigerte er gegenüber dem damaligen Austria-Trainer Joachim Löw die Einwechslung, als dieser ihn im rechten Mittelfeld bringen wollte. Das war nicht Teil von Scharners Plan.
"Er ließ mich auf sieben verschiedenen Positionen spielen, irgendwann konnte ich nicht mehr", lautete Scharners Erklärung für den Eklat.
Auch seine kritischen Äußerungen gegenüber seinem Nationalmannschaftskollegen Marko Arnautovic ("Er hat nur Stroh im Kopf") brachten ihm 2011 in seinem Heimatland keine großen Sympathiepunkte ein.
"Ich bin ein direkter Mensch, mit Diplomatie tu ich mich schwer. [...] Ich war immer direkt, weil ich auch immer direkt kritisiert wurde und werde - und das verkraften muss und kann", sagt er rückblickend und schiebt nach: "Der Prophet zählt im eigenen Land nie etwas."
Fink: "Genau den richtigen Mann gefunden"
Gerade diese Gradlinigkeit und Mündigkeit sind es, die Scharner zu einem wertvollen Führungsspieler bei seinem neuen Klub in Hamburg machen könnten. Beim HSV soll er der jungen Innenverteidigung mit Michael Mancienne und Jeffrey Bruma zu mehr Stabilität verhelfen.
"Wir haben genau den richtigen Mann gefunden, einen lautstarken Organisator, topfit, kopfball- und zweikampfstark. Paul bringt genau die Erfahrung mit, die wir noch brauchen", urteilt Trainer Fink im "Hamburger Abendblatt". Auch der österreichische Ex-HSV-Coach Kurt Jara schlägt in die gleiche Kerbe: "Paul kann ein Spiel lesen und organisieren. Mit seiner Erfahrung kann er sofort eine Führungsrolle beim HSV übernehmen."
Scharner: Selbst die Überraschung wird geplant
Seiner gleichsam professionellen wie ungewöhnlichen Arbeitsweise will der ablösefrei gewechselte Scharner auch in der Hansestadt treu bleiben.
Noch immer arbeitet der dreifache Familienvater mit seinem Mentaltrainer Valentin Hobel zusammen, beschäftigt zudem einen Personal Assistant und einen Agenten für Verhandlungen. Dazu kommen regelmäßige Extraschichten und Besuche beim ÖFB-Fitnesstrainer Roger Spry. Der Zufall scheint für den Österreicher noch immer keine Option zu sein.
Auch seine akribischen Karriereplanungen setzt Scharner mit 32 Jahren unbeirrt fort. Obgleich sein Ziel (Scharner: "neuer Karriereturm") dieses Mal nur sehr vage formulitert ist, kann der selbsternannte Prophet nicht aus seiner Haut und plant selbst das Unvorhersehbare: "In den nächsten Jahren möchte ich einige Leute - und speziell mich - überraschen."
Paul Scharner im Steckbrief