Marcel Schäfer hat schon so manch schwere Zeit durchlebt. Mit 17 Jahren zog er sich einen Kreuzbandriss zu und stand vor dem Karriereende. In seiner ersten Profi-Saison stieg er mit 1860 München direkt ab. Unter Felix Magath wurde er als Kapitän abgesägt und war zeitweise nur Lückenbüßer oder Bankdrücker.
Doch all dies ist nichts gegen das, was Schäfer am vergangenen Spieltag wiederfuhr. Eigentlich war es nur ein normales Bundesligaspiel, das der VfL Wolfsburg verlor - und damit drei potenzielle Punkte. Nicht mehr. Doch auf emotionaler Ebene war die 0:2-Pleite im Derby gegen Braunschweig nicht weniger als eine Katastrophe.
Für Schäfer war es nicht nur der "emotional schwierigste Moment, seit ich in Wolfsburg bin", sondern sogar "der schwärzeste Tag meiner Karriere". Die Wölfe sind durch die Niederlage auf Platz 14 abgerutscht. Es ist nicht nur der sportliche, sondern vor allem der seelische Tiefpunkt der bisherigen Saison.
"Fresst Gras!"
Die Spieler selbst gehen hart mit sich ins Gericht, allen voran Schäfer: "Wir haben im Derby versagt und beschissen gespielt. Das war des VfL Wolfsburg nicht würdig", stellte der Linksfuß knallhart fest. Doch die blanke Einsicht reicht nicht, um die üblichen Reflexe von Fans und Medien zu vermeiden.
Während jedoch von medialer Seite vor allem die Europacupambitionen des VfL infrage gestellt werden, appellieren die Anhänger in erster Linie an die Ehre der Spieler. "Fangt an zu kämpfen, fresst Gras und leistet ehrliche Arbeit. Mehr wollen wir nicht", hieß es in einem offenen Brief der Fangruppierung "Brigade Ultras 02".
Tatsächlich liegt darin eines der aktuellen Hauptprobleme des VfL. Es mangelt nicht an fähigem Spielermaterial oder an der Dominanz gegen schwächere Teams, wohl aber an Einsatz und Leidenschaft, wie es ein Derby erfordert hätte. Deshalb forderte selbst Schäfer nach dem Spiel: "Wir müssen uns mehr den Hintern aufreißen."
Auch Abwehrchef Naldo diagnostizierte bei seiner Truppe ein Einstellungsproblem: "Wir haben uns vor dem Derby nicht als Mannschaft zusammengesetzt und darüber gesprochen, wie wichtig es ist, gegen Braunschweig zu spielen", so der Brasilianer.
Problemfall Diego - Kritik an Gustavo
Darüber hinaus wirkt es, als hätten einige Spieler ihre Rolle im System Hecking noch nicht gefunden - oder sie nur mangelhaft ausgefüllt.
Besonders Königstransfer Luiz Gustavo, der mit schlechten Leistungen und zwei Platzverweisen zuletzt seinen Traumeinstand beim 4:0 gegen Schalke vergessen machte, bekam von Hecking sein Fett weg: "Sein Zweikampfverhalten stimmt derzeit nicht. Er weiß überhaupt nicht, wie er richtig zum Mann gehen soll", attestierte der Trainer dem sonst so zweikampfstarken Abräumer.
Noch schwerer wiegt der Fall Diego. Nachdem Manager Klaus Allofs unter anderem ihm die Führungsqualitäten abgesprochen hatte, stellte Trainer Hecking in Folge der Braunschweig-Pleite die Personalie Diego komplett infrage: "Passt der Spieler zu dem Spielstil, den wir wollen? Sind wir zu abhängig von Diego, wenn wir nur auf ihn bauen? Diese Fragen müssen wir uns stellen", so Hecking gegenüber "Sport1".
Konsequenz statt Aktionismus
Ein klares Signal des Trainers, das auch abschreckende Wirkung haben soll: Kein Spieler steht über Team und System. Und sei er auch noch so hochbegabt. Durch den Verweis auf ein grundsätzliches Problem im Fall Diego kann Hecking so die dramatisierte Atmosphäre nutzen, um seiner Linie Nachdruck zu verleihen. Er statuiert ein Exempel und wirkt dabei konsequent statt aktionistisch.
In Krisenzeiten liegt dazwischen jedoch nur ein äußerst schmaler Grat, weshalb auch Allofs davor warnt, in Folge des Derby-Schlappe zu viel zu hinterfragen: "Ja, diese Niederlage hat größere Bedeutung als andere Niederlagen und hat viel kaputt gemacht; doch wir können nicht sagen: Alles, was wir in den letzten Monaten gemacht haben, war falsch", sagte der VfL-Manager der "WAZ".
"Ich empfinde es als Albtraum"
In der Tat ist die Gesamtsituation nicht so bedrohlich, wie es die Stimmung vermuten lässt: Wolfsburg hat nur drei Punkte Rückstand auf die Europacup-Ränge, auch wenn die jüngste Rhetorik eher nach Abstiegsplatz klang. Der VfL ist derzeit seelisch am Boden, sportlich aber höchstens angezählt.
Für Trainer Hecking ist diese Situation Last und Chance zugleich. Einerseits erscheint die sportliche Situation des VfL durch die Polemisierung der Derby-Niederlage schlechter, als sie tatsächlich ist. Das erhöht den Druck auf Coach und Mannschaft enorm. Andererseits kann sich Hecking die Atmosphäre zunutze machen, um wie im Fall Diego klare Zeichen zu setzen und die Zügel anzuziehen.
Doch nach Komfortzone fühlt sich der Wolfsburger Alltag derzeit ohnehin nicht an. Oder, wie es Marcel Schäfer in der gebotenen Dramatik formuliert: "Ich empfinde es in Wolfsburg im Moment nicht als Komfortzone, sondern als einen Albtraum."
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