Andries Jonker war nie ein Lautsprecher. Als Co-Trainer von Louis van Gaal wäre es auch ziemlich schwer gewesen, als solcher hervorzutreten. Im Schatten eines Mannes, der sich selbst gern als Mittelpunkt begreift, wäre er ohnehin kaum aufgefallen. Davon abgesehen hätte es van Gaal wohl kaum geduldet, wenn sein Assistent plötzlich ungefragt ins Rampenlicht drängt.
Doch nach dem Ende seiner Zeit beim FC Bayern haute Jonker nochmal mit all erdenklicher Wucht auf den Tisch. Van Gaal war entlassen, Jonker nach seinem Intermezzo als Interimscoach in der U 23 gelandet. Die sollte zum Saisonwechsel Mehmet Scholl übernehmen, Jonker wurde nur noch die Leitung der U 19 angeboten. Der Niederländer lehnte den angebotenen Zweijahresvertrag "aus privaten Gründen" ab.
Kurze Zeit nachdem er beim VfL Wolfsburg als Co-Trainer untergekommen war, schrieb er den Bayern-Bossen eine aufsehenerregende E-Mail. Darin kritisierte er die Jugendarbeit des Rekordmeisters scharf.
Die Nachwuchsförderung in München orientiere sich an keiner Philosophie, sei schlecht organisiert und folge zu vielen verschiedenen Interessen, zitierte die "Bild" daraus. Doch auf ein offenes Ohr stieß er damit nicht - im Gegenteil. Karl-Heinz Rummenigge habe die Mail "nicht so ganz recht verstanden. Wir haben sie auch alle gelöscht", offenbarte er gegenüber "Sport1". Einweg-Lautsprecher Jonker wurde nur belächelt.
Van Gaals kleiner Bruder sorgt für Kopfschütteln
Beim VfL Wolfsburg fand er sich in seiner alten Rolle wieder. Diesmal war er der Schattenmann von Regent Felix Magath. Nach dessen Entlassung assistierte er Lorenz-Günther Köstner und Dieter Hecking und führte sein Amt nach bester Gewohnheit aus. Als der akribische Zuarbeiter aus dem Hintergrund, der den Platz in der Öffentlichkeit nicht für sich beansprucht.
Umso überraschender kam da die Meldung, die der FC Arsenal am 20. Januar veröffentlichte. Jonker werde mit Beginn der neuen Saison die Nachwuchsakademie der Gunners leiten. Ein Mann, der Zeit seiner Vita stets im Schatten anderer großer Namen stand.
Besonders in seinem Heimatland sorgte diese Verpflichtung für Aufsehen. Leon ten Voorde, niederländischer Sportjournalist aus Twente, hat die Reaktionen beobachtet. "Hier haben alle den Kopf geschüttelt", erzählt im Gespräch mit SPOX. Die heimischen Medien seien Jonker gegenüber immer skeptisch, denn "er wird immer als der kleine Bruder von Louis van Gaal dargestellt. Oft heißt es, er sei nur wegen van Gaal so bekannt. Deshalb werden viele Witze über ihn gemacht."
"Jonker ist kein Chef"
Dabei hat der Mensch Andries Jonker mit Louis van Gaal nur wenig gemeinsam. Van Gaals Narzissmus polarisiert, das selbstbewusste Auftreten und seine resolute Art lösen bei den einen Bewunderung, bei den anderen Spott aus. Jonker hingegen gibt sich als höflicher Diplomat, verständnisvoll und besonnen.
Eine Eigenschaft, die ihm gerade im Vergleich zu van Gaal auch als Schwäche ausgelegt werden kann. "Van Gaal ist eine natürliche Autorität, er ist ein Chef. Das ist Jonker nicht", meint ten Voorde. Was beide verbindet, sind die enormen Parallelen in ihrer Fußballphilosophie.
Fraglos hat Jonker einen Großteil davon in seiner Zeit als Co-Trainer van Gaals adaptiert: "Er hat immer mit van Gaal gearbeitet. Van Gaal ist sehr dominant. Wenn man jeden Tag mit ihm arbeitet, dann färbt auch seine Fußballphilosophie auf einen ab", ist sich ten Voorde sicher.
Beide predigen Dominanz durch Ballbesitz, sind verliebt in attraktiven Offensivfußball. Jonker hat sich im Laufe der Zeit eine Philosophie angeeignet, die ihn für seinen neuen Job prädestiniert. Bei einem Verein, der sich das Ideal vom ansehnlichen Fußball auf die Fahnen geschrieben hat.
Enormer Talente-Verschleiß bei Arsenal
In dessen Umfeld wurde die Verpflichtung Jonkers - im Gegensatz zu seinem Heimatland - mit Wohlwollen und Begeisterung aufgenommen. Womöglich auch, weil ein neuer Wind Arsenals Nachwuchsakademie gut tun dürfte. Zwar gibt es regelmäßig Einzelfälle von jungen Talenten, die bei den Gunners den Sprung zu den Profis schaffen, wie unlängst DFB-Youngster Serge Gnabry bewies.
Und nicht umsonst ist Arsenal Spitzenreiter der Premier League, wenn es darum geht, selbst ausgebildeten Spielern Einsatzzeit in der ersten Mannschaft zu ermöglichen. Doch solche Statistiken verschweigen die Anzahl derer, die über die Klippe springen. Verschlissene Talente, die den Absprung nicht schafften oder denen der Absprung verwehrt blieb.
Besonders bei Arsenal ist die Anzahl derer enorm. Der Verein verpflichtet offensiv 16- und 17-jährige Youngster mit vielversprechenden Ansätzen. Doch nur die wenigsten schaffen langfristig den Sprung zu den Profis. Die Mehrzahl landet anderswo, oft nur bei zweitklassigen Vereinen. Es regiert das Prinzip Masse.
Einer, der darin unterzugehen droht, ist beispielsweise Thomas Eisfeld. Einst von Arsene Wenger mit Robert Pires verglichen, durfte der Ex-Dortmunder auch in der vergangenen Sommerpause wieder mit den Profis auf Asien-Tour. Doch für die erste Mannschaft ist er nach wie vor kein ernstes Thema. Mittlerweile ist er 21 und muss zusehen, wie ein Gnabry mit 17 oder ein Gedion Zelalem mit 16 Jahren für die Profis debütierten.
Mehr als nur ein Schattenmann?
Doch nicht nur die mangelnde Durchlässigkeit für den Großteil des eigenen Nachwuchses stellte zuletzt ein Problem dar. Auch der bisherige Jugendleiter Liam Brady schien nicht mehr unumstritten. Der 57-Jährige führt sein Amt seit 1996 aus, er verkörpert noch das "alte" Arsenal. Angeblich waren er und Wenger zuletzt nicht mehr immer einer Meinung.
Glaubt man den Gerüchten, könnte Bradys Ablösung auch eine politische Entscheidung gewesen sein. Seinen Nachfolger hingegen übergoss Wenger persönlich mit Lob: "Ich bin sehr froh darüber, dass Andries zu uns kommt. Er hat eine enorme Reputation im Geschäft und war Teil des Teams, das im niederländischen Fußball die Strukturen entwickelt hat, die jetzt so viele starke junge Spieler hervorbringen", pries der Franzose seinen künftigen Kollegen.
Dabei werden Jonkers Verdienste um die niederländischen Nachwuchsfußball in seiner Zeit als Verbandsfunktionär nicht überall derart gewürdigt. "Er war in keiner hohen Position. Er war nie Leiter der Jugendabteilung oder etwas Vergleichbares. Er hat zwar einen guten Job beim Verband gemacht, aber er war nicht keineswegs ein neuer Johan Cruyff", meint ten Voorde.
Eine solche Bedeutung wird Jonker auch beim FC Arsenal so schnell nicht erlangen. Er muss ohnehin erst einmal beweisen, dass er mehr sein kann als nur der Schattenmann renommierter Kollegen. Der Wechsel zu Arsenal könnte ein erster Schritt sein.
Andries Jonker im Steckbrief