Eigentlich war es beinahe zu harmonisch. Zu perfekt. Der Abstieg war schon verhindert, die Stimmung also entspannt. Die Sonne schien. Aaron Hunt und Sebastian Mielitz wurden vor der Partie gegen Hertha BSC offiziell verabschiedet und vor allem Hunt mit Plakaten und Sprechchören gefeiert.
Das Spiel selbst fügte sich in dieses wohlige Bild nahtlos ein. Beide Teams steckten ohnehin im Niemandsland der Tabelle fest, dementsprechend locker plätscherte die Partie vor sich hin. Besonderen Charakter hatte sie eigentlich nur für Hunt.
"Ich bin zum ersten Mal mit meinem Sohn an der Hand eingelaufen. Er sollte diesen besonderen Moment mit mir teilen", sagte er nach dem Spiel. Zuvor hatte er in 90 Minuten beide Tore zum 2:0-Sieg erzielt und beinahe noch eine Halbzeit mit den Fans beim Feiern verbracht. "Gefühlt habe ich mich von jedem Einzelnen aus der Ostkurve verabschiedet."
Es war ein Abschied, den man sich schöner nicht hätte wünschen können. Perfekt eben. Beinahe hätte er sogar darüber hinwegtäuschen können, dass die Beziehung zwischen Hunt und dem Publikum über die Jahre alles andere als einfach war. Beinahe.
Bester Spieler und Buhmann
Es war eine faszinierende Hassliebe, die Hunt mit den Bremern verband. Als Riesentalent von der Jugend zu den Profis gewechselt, trug er sich mit 18 Jahren und 161 Tagen als jüngster Werder-Torschütze aller Zeiten in die Geschichtsbücher ein. "Riesentalent" war jedoch nur der erste von zahllosen Stempeln, die ihm in der Folgezeit aufgedrückt wurden.
Ewiges Talent. Dauerverletzt. Schlüsselspieler. Unruhestifter. Totalversager. Diego-Nachfolger. Özil-Nachfolger. Phlegmatiker. Anführer. Mitläufer. Offensivkapitän. Der Schlechteste von allen. Der Beste von allen.
Es war faszinierend zu beobachten, wie sehr die Meinungen über Hunt auseinandergingen. Die einen sahen einen fußballerisch sehr begabten Spieler, der über die Jahre in seinen Leistungen immer konstanter wurde. Die anderen sahen jemanden, der sein Potenzial nicht nutzte und der auch kein großes Interesse zu haben schien, daran etwas zu ändern. Der über den Platz schlurfte und den anderen kein Vorbild war.
Lehrling der Großen
Diese Ambivalenz lässt sich nur verstehen, wenn man auf die Entwicklung von Werder seit Hunts Ankunft blickt. Er gab sein Bundesliga-Debüt, als die Bremer amtierender Double-Sieger waren. Sein erstes Bundesliga-Tor wurde von Johan Micoud vorbereitet, dem Chef und der Symbolfigur des Bremer Erfolgs zu dieser Zeit.
Bremen war in den folgenden Jahren Dauergast in der Champions League und hatte häufig zumindest Außenseiterchancen auf die Meisterschaft. Führungsspieler wie Micoud verließen den Verein, konnten aber lange zumindest ansatzweise ersetzt werden, beispielsweise durch Diego oder später Mesut Özil.In all diesen Jahren gab es Spieler, die wesentlich mehr im Fokus standen als Hunt. Diego, Özil, Torsten Frings, Naldo, Per Mertesacker, Claudio Pizarro - sie waren die "Verantwortlichen". Eine angenehme Rolle, wenn man denn Erfolg hat.
Blitzableiter beim Negativtrend
Doch dieser dauerte bekanntlich nicht ewig an. Nach und nach gingen die Leistungsträger, und auf einmal gelang es Manager Klaus Allofs nicht mehr, sie direkt zu ersetzen. Nach und nach wurden Transfers in den Sand gesetzt, das Geld wurde ausgegeben - und auf einmal war Hunt derjenige, auf dem die Verantwortung lastete.
Noch 2010 konnte er vorne mit Özil, Marko Marin und Pizarro wirbeln, als Werder seine letzte richtig starke Saison spielte und den dritten Platz erreichte. Danach ging es jedoch stetig bergab. Man spielte nicht mehr um das europäische Geschäft, sondern sank nach und nach ab und kämpfte in den letzten Jahren sogar gegen den Abstieg.
Hunt wurde zu einer der Symbolfiguren für diesen Negativtrend. Er war nicht die einzige, aufgrund seiner oft lethargisch wirkenden Körpersprache frustrierte er die Anhänger aber mehr als beispielsweise Kapitän Clemens Fritz. Er wurde zum Blitzableiter für die Wut über eine Mannschaft, die rasant vom Champions-League-Dauergast zur grauen Maus wurde.
Wie groß ist die Lücke?
Viele übersahen dabei, dass Werder ohne Hunt vielleicht nicht einmal mehr in der ersten Liga spielen würde. Seine Verteidiger, die fast ebenso zahlreich waren wie die Kritiker, verwiesen zurecht darauf, dass in den letzten Jahren kein Werderaner konstanter spielte als die Nummer 14.
Vorletzte Saison gelangen ihm elf Tore und sechs Vorlagen, in der letzten waren es sieben und neun. Werder schoss in diesen Jahren insgesamt nur 50 beziehungsweise 42 Tore, was die Wichtigkeit von Hunts Produktion umso mehr verdeutlicht.
Vielleicht wird man erst in der kommenden Saison wissen, welche Lücke Hunt wirklich hinterlässt. Ob es das Spiel der Bremer vielleicht beflügelt, ihn nicht mehr als Fixpunkt zu haben. Ob Neuzugang Izet Hajrovic ihn ersetzen kann. Die Bremer werden es hoffen, denn selbst mit Hunt war der Klassenerhalt zuletzt keineswegs in Stein gemeißelt.Neues Kapitel in Wolfsburg
Für Hunt steht derweil in Wolfsburg ein neues Kapitel an, auch wenn dort mit Naldo, Kevin de Bruyne und natürlich Allofs einige bekannte Gesichter auf ihn warten. Er kommt in einen Kader, der auch ohne ihn schon jede Menge Qualität aufweist und der gerade im offensiven Mittelfeld hochklassig besetzt ist.
"Die Qualität ist hier höher, keine Frage. Das war ein Grund, warum ich gewechselt bin", sagt Hunt, kündigt aber gleichzeitig an: "Angst vor der Bank habe ich nicht. Im Gegenteil. Ich denke, ich werde spielen."
Nimmt man den Telekom Cup als Maßstab, sieht es dafür nicht schlecht aus: Im Halbfinale gegen Hamburg spielte er durch, gegen die Bayern absolvierte er immerhin die zweite Halbzeit. Dieter Hecking hat natürlich noch etwas Arbeit vor sich und muss herausfinden, was am besten passt. Hunts Vielseitigkeit in der Offensive dürfte sich hier aber als Pluspunkt erweisen.
Veränderte Rolle
Klar ist in jedem Fall, dass sich seine Rolle in der Hinsicht verändern wird, dass er nicht mehr die Schlüsselfigur schlechthin sein wird, an der Erfolg und Misserfolg unmittelbar festgemacht werden. Er wird sich in Wolfsburg voll und ganz auf Fußball konzentrieren können.
Vielleicht wird man in den kommenden Jahren dann endlich erfahren, wie gut er wirklich ist. In Bremen wird man jedenfalls genau hinsehen.
Aaron Hunt im Steckbrief