Alles auf Risiko

Von Johannes Mittermeier
Sinan Kurt wird künftig das Trikot des FC Bayern München tragen
© getty

Sinan Kurts Wechsel von Borussia Mönchengladbach zum FC Bayern war der Transfer-Aufreger des Sommers. Der 18-Jährige setzt voll auf die Karte Risiko, auch für die Münchner macht die Verpflichtung Sinn - sofern Kurts Selbstüberzeugung nicht in Selbstüberschätzung mündet.

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Da stand er also, in diesem schwarzen Trikot mit rotem Längsstreifen. Die Hände in den Hüften, leichter Ausfallschritt, Blick in die Linse. Sinan Kurt vermittelte einen recht routinierten Eindruck bei der Foto-Session für das Champions-League-Jersey seines neuen Arbeitgebers, dem FC Bayern München. "Es ist ein Traum, endlich hier zu sein", schwärmte er anschließend.

Liverpool soll interessiert gewesen sein, Arsenal, Porto und Paris. Aber für Kurt war klar: "Ich will zu Bayern." Und zwar ausschließlich. Das kam, vorsichtig formuliert, nicht überall gut an. In Mönchengladbach hinterließ sein Abschied verbrannte Erde. Die Borussia beanstandete schlechten Stil, gegenüber Kurt, gegenüber Bayern, und viele Fans liefen Sturm. In der Anonymität des Netzes ergossen sich leidlich bekannte Schimpftiraden über einen jungen Sportler, dem Raffgier und Vereinsverrat vorgeworfen werden.

"Ich bin kein Abzocker", wehrt sich Kurt in der "Bild"-Zeitung, "mir ging es nicht ums Geld. Ich habe die sportlichen Perspektiven in Gladbach und in München verglichen. Und mich danach für Bayern entschieden."

Ein Talent - mehr nicht

Das kann man glauben oder nicht, jedenfalls überbrückte das Gefeilsche um den Offensivmann einen beträchtlichen Teil des Sommerlochs. Was wiederum einiges aussagt über die überhitzte Fußballbranche. Kurt, deutsche Mutter, türkischer Vater, ist ein Talent. Doch es gab schon viele, die schnell aufstiegen und noch schneller fielen. Nicht nur, aber auch in München, beim FC Bayern, der laut Medienberichten eine erfolgsabhängige Ablöse von 2,5 Millionen Euro zahlen soll. Für ein Talent.

Mit seinen 1,73 Metern, dem blassen Teint und der dürren Statur wirkt er ein bisschen schwächlich. Dennoch bemühte sich der Rekordmeister intensiv um diesen gerade Volljährigen, der 2007 vom Rheydter SV in die U 12 der Gladbacher "Fohlenelf" wechselte und in der Folge alle Jugendteams durchlief. Trotz Vertrags bis 2015 und Aussichten auf baldige Profi-Einsätze drängte Kurt zu Bayern, und Bayern drängte auf Kurt.

Wahrscheinlich werden die echauffierten Reaktionen des Gladbacher Umfelds auch von der Tatsache provoziert, dass es der Klassenprimus aus dem Süden ist, der sich ungeniert im Talentpool bedient. "Enttäuschte Liebe und finanzieller Neid sind jene Geister, die die Wappenküsser und Handgeldkassierer selbst hervorrufen", kommentiert die "Welt".

Favres durchkreuzte Pläne

Es ist gar nicht lange her, als Kurt die Frage nach dem Lieblingsklub mit der prompten Antwort "Gladbach" konterte. Das war im Januar bei "Sky", seinem ersten und bisher einzigen Fernsehauftritt. Und weil das Ganze in einer Kneipe mit bierseligen Borussen-Fans stattfand, war das Gegröle groß. Ein halbes Jahr später aber lehnte Kurt eine Einladung von Lucien Favre ins Trainingslager ab, das ließ manche stutzig werden.

Der Gladbach-Coach, so hört man, hatte den Youngster als Vertreter von Raffael eingeplant - noch bevor die Borussia mit Andre Hahn, Ibrahima Traore und Thorgan Hazard drei offensive Außen verpflichtete. Da hatte Kurt seinen Standpunkt bereits artikuliert: Bayern. Sofort.

In München gelten Sportvorstand Matthias Sammer sowie die Verantwortlichen des "Junior Teams", Wolfgang Dremmler und Michael Tarnat, als Unterstützer des Transfers. Eberl enttäuscht: "Ich hätte von Sammer erwartet, dass er mich auf Sinan Kurt anspricht, wenn wir schon dreimal miteinander telefonieren." Am Rande des "Telekom Cups" in Hamburg, berichtete Eberl der "Westdeutschen Zeitung", habe ihm Bayern-Chefscout Michael Reschke ein höher dotiertes Angebot für Kurt unterbreitet - in der Garage, zwischen den Mannschafsbussen. Unterschwellige Botschaft: Die Bayern meinen es ernst.

"Wenn er auf dem Teppich bleibt..."

Vor einiger Zeit strahlte "Sky" eine Dokumentation über vier Nachwuchsspieler auf dem Weg in die Bundesliga aus. Einer davon war Jonathan Tah, der kürzlich vom HSV an Düsseldorf verliehen wurde. Ein anderer war Sinan Kurt. "Er hat noch nichts geleistet", befand Gladbachs Nachwuchsdirektor Roland Virkus. Das hatte weder einen zynischen noch berechnenden Anstrich, sondern enthielt schlicht eine Menge Wahrheit.

"Mini-Reus", so haben sie Kurt in Mönchengladbach getauft. Weil er, der Linksfuß, ein ähnlicher Spielertypus sei, flink, gewitzt, kreativ, fintenreich, torgefährlich. Allerdings beschränkt sich seine bisherige Erfahrung im Herrenbereich auf Peanuts, wenn überhaupt. Im Regionalligaspiel zwischen Gladbach II und Viktoria Köln durfte Kurt eine Viertelstunde ran. Primär verdingte er sich bei den A-Junioren, wo ihm letzte Saison 16 Tore in 24 Partien gelangen. Bei den B-Junioren waren es 31 Treffer und 21 Vorlagen in 52 Spielen.

"Wenn er auf dem Teppich bleibt, hat er eine große Zukunft vor sich. Dann wird er nicht nur Bundesligaspieler, sondern auch ein sehr guter", sagte Virkus damals. Einige sehen in der Attitüde abseits des Platzes einen wunden Punkt tangiert. Auf Facebook posierte Kurt öfters im Nationalmannschaftstrikot, was natürlich nichts heißen muss, aber einen Eindruck aus dem Gladbacher Umfeld verfestigt: Dass sein Maß an gesundem Selbstbewusstsein manchmal ein bisschen zu weit greift.

Die Umstände schreien nach Rechtfertigung

Jetzt also Bayern. Mit 18. Als nomineller Nobody, der doch - unfreiwillig - zum liebgewonnenen Schlagzeilenlieferant avancierte. "Würde ich mir das nicht zutrauen, hätte ich das nicht gemacht", untermauert er. "Klar muss ich Spielpraxis sammeln, bei Borussia hatte ich ja keine Einsätze mehr. Aber am Ende werde ich mich in München durchsetzen." Selbstüberzeugung oder Selbstüberschätzung?

"Ein Bayern-Spieler hat immer einen besonderen Status. Sinan hat sicherlich das Potenzial, es zu schaffen, auch wenn es dafür keine Garantie gibt", erklärt Kurt-Berater Michael Decker gegenüber "Sport1".

Der Meister hofft auf eine ähnliche Entwicklung, wie sie Pierre-Emile Hojbjerg genommen hat oder Gianluca Gaudino aktuell nimmt. Kurt soll mit den Profis trainieren, aber zunächst im U-23-Team spielen. Weil diese den Aufstieg in die 3. Liga verpasste, muss er sich in der Regionalliga profilieren. Vierte Spielklasse. Wie in Gladbach, aber mit verlängerter Route zur ersten Elf. Alles Umstände, warum seine Wechselbegründung - sportliche Perspektive - nach Rechtfertigung verlangt.

Unter dem Strich ist Kurts Wahl pro Bayern als mittel - und langfristige Risikoabwägung zu verstehen; wohlwissend, dass das Schwimmen im Haifischbecken zu einem Hauen und Stechen wird. Begabung allein reicht nicht. Dafür türmen sich Beispiele, die den Sprung eben nicht bewältigt haben. Oder gar einen irreparablen Karriereknick erlitten.

Bayerns Umbruch naht

Der FC Bayern denkt ebenfalls perspektivisch. Leverkusen hat mit Levin Öztunali und Julian Brandt veranschaulicht, blutjunge Talente so früh wie möglich an den Verein zu binden. Nur dadurch besteht die Chance, ihre Entwicklung mit eigenen Stücken voranzutreiben, ohne irgendwann mit astronomischen Summen konfrontiert zu werden.

Bayern verfügt über eine andere finanzielle Potenz, aber betriebswirtschaftlich kühl wird auch an der Säbener Straße kalkuliert. Das Zwei-Säulen-Prinzip umfasst internationale Topstars sowie unverbrauchte, im Optimalfall deutsche Nachwuchskräfte. Kurt passt perfekt ins Beuteschema.

Seine Vertragsdauer bis 2018 erscheint sinnig, zumal der Rekordchampion vor einem Umbruch steht. Im Offensivbereich haben mit Franck Ribery (31) und Arjen Robben (30) zwei Schlüsselspieler ihren Dreißiger erreicht. Die linke und rechte Flanke, das sind genau jene Positionen, die Kurt besetzen will. So er denn kann.

Berater Decker sagt in der "Welt", dass die Internet-Verunglimpfungen seinen Klienten "schwer erschüttert" hätten. Aus dem Mund von Sinan Kurt klingt das so: "Jede Beleidigung macht mich nur noch heißer, es bei Bayern zu packen!"

Sinan Kurt im Steckbrief