Es ist noch gar nicht so lange her, keine sechs Wochen, da schien Kevin Großkreutz äußerst glücklich zu sein. Über seinen Instagram-Account hält Großkreutz seine Fans auf dem Laufenden und dort veröffentlichte er einige Bilder und Statements, die Auskunft über seinen Gesundheitszustand gaben.
Großkreutz wagte sich erstmals nach über drei Monaten Pause wieder auf den Fußballplatz, hatte das runde Leder wieder am Fuß und war deshalb sehr euphorisch. "Endlich bald wieder die Emotionen rauslassen" oder "vermisse nichts mehr als diese Augenblicke" schrieb er dann.
Diese Reaktionen sind voll und ganz nachvollziehbar gewesen, schließlich endete für Großkreutz kürzlich die "schwierigste Zeit überhaupt", wie er in einem Interview über seinen langen Ausfall sagte. Nie zuvor in seiner Karriere war so ungewiss, wie es mit ihm nach andauernden Kniebeschwerden weitergehen würde. Das nagte an Großkreutz' Psyche - erst recht nach einer von Skandalen, Verletzungen und sportlichen Abstürzen geprägten Saison.
Kontroverse überlagert Großkreutz-Comeback
Der entscheidende Sprung nach vorne, um überhaupt wieder Licht am Ende des Tunnels zu sehen, sei ihm dann dank des neuen Trainers Thomas Tuchel gelungen. "Er hat mir einen Arzt seines Vertrauens empfohlen, der mich weitergebracht hat. Damit hat er mir sehr geholfen", sagte Großkreutz.
Einen guten Monat später spielen all diese aus Großkreutz' Sicht positiven Dinge kaum mehr eine Rolle. Das vorherrschende Thema rund um den Start der Dortmunder Pflichtspielsaison ist auf einmal die Frage, ob bis Ende August tatsächlich noch das bislang als unvorstellbar Verklärte passiert und der Ur-Dortmunder Großkreutz seine Liebe BVB vorzeitig verlässt.
Die Schuld daran, dass sein sportliches Comeback nun von dieser Kontroverse überlagert wird, trägt Großkreutz allerdings höchstselbst. Er preschte mit Aussagen und Posts zu seiner Zukunft ohne Not nach vorne - und legte mit einem Vorwurf an den Verein sogar noch nach.
Überraschung in Luzern
Als Großkreutz während des Trainingslagers in der Schweiz beim Testspiel gegen den FC Luzern seine 19-minütige Rückkehr auf den Rasen feierte und ihn die mitgereisten BVB-Anhänger mit Sprechchören bedachten, hätte er es genau dabei belassen sollen.
Doch nach Ende einer Partie ohne große Höhepunkte sorgte er selbst noch für einen. Die anwesende Journaille überraschte er mit dem Satz: "Was meine Person angeht, wird man in den kommenden Wochen sehen, ob ich weiter für den BVB spiele oder nicht." Bereits diese Äußerung erregte die Gemüter rund um die Borussia so sehr, dass Großkreutz' Interviewtermine in Bad Ragaz allesamt abgesagt wurden.
Das Thema Großkreutz war schon immer ein sensibles in Dortmund. Zu oft vergaloppierte sich der 27-Jährige bereits im Umgang mit den Medien, ohne das Echo seiner Äußerungen vorab zu erahnen. Wer dazu dann in seiner Freizeit des nächtens mit Lebensmitteln um sich wirft oder angetrunken in eine Hotel-Lobby pinkelt, der hätte von einer Vielzahl an Arbeitgebern längst die Papiere in die Hand gedrückt bekommen.
Das Eis ist dünner geworden
Beim BVB erhob man zwar zunehmend den mahnenden Zeigefinger, drückte am Ende jedoch immer wieder ein Auge zu. Denn die Borussia ist sich selbstverständlich bewusst , welch folkloristische Symbolik seit jeher in der Personalie Großkreutz steckt. Mit ihm weiß man den Mensch gewordenen Marketing-Claim "Echte Liebe" in seinen Reihen. Einer, der es als Hardcore-Fan von der Tribüne auf den Rasen und dort bis zum Weltmeistertitel geschafft hat - niemand kann bei der Borussia mehr Identifikation stiften als Großkreutz.
Dieser ist sich seiner Position innerhalb des Klubs im Klaren, doch Großkreutz weiß genauso gut, dass das Eis nach seinen Eskapaden zuletzt immer dünner geworden ist. Und er weiß, dass er noch dazu sportlich in der Bringschuld steht. Selbst die Fanszene nimmt ihn nicht mehr als heilige Kuh wahr, die er noch vor einigen Jahren darstellte.
Zwar kann er sich bei Teilen der Anhänger einer ewigen Rückendeckung sicher sein. "Mit Großkreutz verlängern - jetzt" stand Ende April auf einem Spruchband der Dortmunder Ultra-Gruppierung "Desperados". Doch es dürfte Großkreutz auch zu Ohren gekommen sein, dass seine Person bei den Anhängern nicht nur aufgrund seiner Nähe zu dieser nicht immer zimperlich agierenden Gruppierung längst kontroverser diskutiert wird.
"Wir schicken Kevin nicht weg"
Umso unverständlicher wirkt deshalb die Tatsache, dass er über den von allen Dortmunder Fans so geschmähten Boulevard nun unmissverständliche Vorwürfe gegen den Klub lanciert. "Ich bin tief enttäuscht, dass schon seit Wochen in Dortmund keiner mehr mit mir geredet hat", sagte er der Bild.
Denn sowohl Zeitpunkt, als auch Inhalt seiner Äußerungen erscheinen fragwürdig. Großkreutz hat die Dortmunder Vorbereitung mit seinen Äußerungen erheblich gestört und ein unnötiges Fass aufgemacht. Keiner der Vereinsverantwortlichen hatte in der jüngsten Vergangenheit die Absicht geäußert, Großkreutz im Sommer verkaufen zu wollen. "Wir schicken Kevin nicht weg, wir drängen nicht auf einen Wechsel", sagte ein irritierter Sportdirektor Michael Zorc erst kürzlich.
Großkreutz solle vielmehr zusehen, dass er fit werde, riet ihm Zorc durchaus angefressen. Tuchel zeigte sich ebenfalls enttäuscht von Großkreutz' medienwirksamen Alleingängen, auch wenn der Trainer am Wochenende beschwichtigte und meinte, die Aussagen seien eher gegen den Verein als gegen ihn persönlich gerichtet. Es ist für Großkreutz derzeit alternativlos, wieder in die Spur zu kommen und sich auf seine Arbeit zu konzentrieren - dies soll laut Tuchel auch so besprochen worden sein.
Ansage vom Verein steht Großkreutz zu
Andererseits: Es muss wohl auch eine Ungeduld aus Großkreutz gesprochen haben. Dass er sich ein Jahr vor Ende seines Vertrages Gedanken und möglicherweise Sorgen um die Zukunft bei seinem Lieblingsklub macht, ist durchaus legitim. Er wünscht sich eine klare Ansage vonseiten des Vereins. Diese steht ihm ohne Frage auch zu. Doch der Weg, den er zuletzt wählte, war schlicht der falsche. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Türen für Großkreutz bei der Borussia auf einmal geschlossen sind.
Was dazu nicht außer Acht gelassen werden sollte: Selbst wenn sich Verein und Spieler noch in diesem Monat zu einer Trennung entschließen, braucht Großkreutz nichts mehr als die nötige Geduld. Auch bei einem neuen Arbeitgeber müsste er den großen körperlichen Rückstand aufholen, der ihm derzeit in Dortmund eine Außenseiterrolle beschert. Hinzu kämen das nach einem Wechsel noch ungewohnte Umfeld sowie die Gewissheit, dass das Dortmunder Urgestein an einem anderen Ort auf Schritt und Tritt beäugt würde.
"Die Hauptsache ist, dass es jetzt aufwärts geht", sagte Großkreutz vor zweieinhalb Wochen. Das gilt für ihn und seinen BVB. Störgeräusche aus den eigenen Reihen helfen dabei jedoch nicht - nach der "schwierigsten Zeit überhaupt" erst recht nicht.
Kevin Großkreutz im Steckbrief