Das Estadio Nacional de Chile Julio Martínez Pradanos bebte. Über 5 Millionen Einwohner lagen sich in Santiago de Chile in den Armen, ein ganzes Land war im Freudentaumel. 45.651 Zuschauer waren in der Hauptstadt mittendrin und rissen das Nationalstadion regelrecht ab.
Eduardo Jesus Vargas Rojas war der Verantwortliche für den Ausnahmezustand. 35 Meter vor dem Tor bekam der chilenische Nationalstürmer den Ball zugespielt. Er lief ein paar Meter, schaute und zog ab. Die Kugel rauschte mit Karacho Richtung Tor und senkte sich unerreichbar für Keeper Pedro Gallese in den linken Knick. Mit seinem zweiten Treffer schoss der Matchwinner seine Farben in einem unglaublich hitzigen Halbfinale gegen Peru zum 2:1-Sieg, was den ersten Einzug in das Finale der Copa America seit 28 Jahren bedeutete.
Als Argentinien im Finalkrimi nach Elfmeterschießen niedergerungen war, war Geschichte geschrieben worden. Kapitän Claudio Bravo streckte zum ersten Mal überhaupt für Chiles Nationalmannschaft die Trophäe der Copa America in den Nachthimmel von Santiago und Eduardo Vargas machte sich als Torschützenkönig für die so temperamentvollen Südamerikaner unsterblich.
Von Chile an den Neckar
Zwei Monate später ist der 25-Jährige im beschaulichen Sinsheim angekommen. Als Neuzugang von 1899 Hoffenheim soll er bei den Mannen von Markus Gisdol den nach Liverpool abgewanderten Roberto Firmino ersetzen und die Offensive mit seiner Schnelligkeit und technischen Finesse ankurbeln. Knapp sechs Millionen Euro war das der Führungsetage wert.
"Die herausragenden Leistungen von Eduardo während der Copa America haben natürlich auch bei anderen Klubs in ganz Europa Begehrlichkeiten geweckt", zeigte sich Sportdirektor Alexander Rosen stolz auf seinen Transfer-Coup. Jedoch kannte man den 25-Jährigen auch schon vor der Copa in großen Teilen Europas.
Südamerikanischer Aufstieg - Europäischer Fall
Im Januar 2012 sicherte sich der SSC Neapel die Dienste des bulligen Chilenen. Davor gelang ihm bei Universidad de Chile der Durchbruch: In 76 Spielen für den chilenischen Erfolgsklub sammelte Vargas 47 Scorerpunkte und avancierte zum jungen Leistungsträger.
In der Saison 2010/2011 schoss er seinen Klub zu beiden Halbmeisterschaften und gewann die Copa Sudamericana, dem südamerikanischen Pendant zur Europa League. Einzig Brasiliens Superstar Neymar schnappte dem Senkrechtstarter die Auszeichnung des besten Fußballers Südamerikas vor der Nase weg.
Dementsprechend hoch waren die Erwartungen, als er für knapp zwölf Millionen Euro nach Süditalien kam. "Dieser Typ hat alle Qualitäten: Tempo, Abschluss, Beweglichkeit, Technik. Alles", war der damalige Neapel-Trainer Walter Mazzari von seinem Neuzugang begeistert. Doch die Begeisterung schwand schnell und eine Odyssee begann.
Für Neapel kam Vargas lediglich auf 28 Einsätze, ganze drei Mal durfte er 90 Minuten lang ran. In der Serie A sammelte er in 19 Einsätzen mickrige 271 Spielminuten, ein Tor gelang ihm dabei nicht. Schon ein Jahr nach seiner Ankunft wurde das Missverständnis immer offensichtlicher, als Vargas nach Brasilien zu Gremio Porto Alegre ausgeliehen wurde.
Als Leiharbeiter durch Europa
Ein Jahr später kehrte er zurück, um erneut verliehen zu werden, diesmal nach Spanien zum FC Valencia. Bei den Fledermäusen zeigte die Leistungskurve wieder nach oben, Vargas kam in dem halben Jahr regelmäßig zum Einsatz und sammelte neun Scorerpunkte in 25 Spielen. Seitdem Rafael Benitez aber die Geschicke in Neapel übernommen und mit Spielern wie Jose Callejon oder Gonzalo Higuain aufgestockt hatte, war für Vargas kein Gebrauch mehr. Und so ging die Reise weiter.
Diesmal nach England, wo er sich den Queens Park Rangers für ein Jahr anschloss. Im Abstiegskampf der Premier League war Vargas gesetzt, bis ihn ein Innenbandanriss im Knie außer Gefecht setzte, er den Saisonendspurt verpasste - und QPR als Schlusslicht abstieg. Umso erstaunlicher waren seine Leistungen für Chile in der Copa America.
Der Ziehvater als Erfolgsrezept
Erstaunlich, aber nicht überraschend. Denn unter Nationalcoach Jorge Sampaoli lief es schon immer gut. Sampaoli entdeckte bereits bei Universidad de Chile das Potential von Vargas und bildete ihn zum Profi aus. Auch während der Weltmeisterschaft in Brasilien spielte er eine entscheidende Rolle im System Powerfußball, über welches der entthronte Champion Spanien in der Gruppenphase stolperte.
In 48 Spielen für Chile knipste der Vollgasfußballer 22 Mal. Sampaoli weiß, wie er mit seinem sensiblen Stürmer umgehen muss: "Eduardos Problem ist sein Kopf. Er braucht das richtige Ambiente, um sich wohl zu fühlen. Dort wo er spielte, war die Konkurrenz groß und der Umgang mit ihm war anders als in der Nationalmannschaft."
"Hauptsache offensiv"
Worte, die sich Markus Gisdol zu Herzen nehmen sollte. Denn wenn der Hoffenheim-Trainer es schafft, seinen Neuzugang von Anfang an einzubinden und die Stärken richtig einzusetzen, gewinnt er mit dem südamerikanischen Kraftpaket eine neue Allzweckwaffe, die sein wahres Potenzial in Europa bisher noch nicht ansatzweise ausgeschöpft hat.
Denn obwohl mit 1,75 Meter eher klein gewachsen, ist Vargas enorm robust und durchschlagskräftig. Mit Tempo und viel Zug zum Tor enteilt er seinen Bewachern. In der Defensivarbeit kommt ihm das hohe Pressing, das Gisdol spielen lässt, entgegen.
"Das frühe Attackieren und das schnelle Umschaltspiel ist genau mein Spiel und was wir auch mit Chile spielen", begründet er seine Entscheidung für Hoffenheim. Die Rolle, die er dabei übernimmt, ist nicht in Stein gemeißelt: "Hauptsache offensiv, da kann ich alles spielen."
Kettenhund, der nicht beißt
Von außen betrachtet, lässt sich Vargas in eine Reihe mit seinen chilenischen Kollegen Arturo Vidal, Gonzalo Jara oder Gary Medel stellen: Perfekt gestylt mit viel Farbe auf der Haut und funkelnden Steinchen in den Ohren, wird er auf dem Feld die Rolle des Kettenhundes übernommen.
Doch während seine Kollegen auch mit Randgeschichten wie zerstörten Sportwagen oder erschummelten roten Karten beschäftigt sind, konzentriert sich der Familienvater privat lieber auf seine Tochter, wirkt zurückhaltend und bescheiden und hat sich bisher nichts zu Schulde kommen lassen. Er ist ein Kettenhund, der nicht beißt.
Fortan heißen seine Kollegen im Kraichgau Kevin Volland, Kevin Kuranyi oder Marc Uth. Der Verlust von 41-Millionen-Mann Firmino soll auf mehrere Schultern verteilt werden. Beim holprigen Start in die Saison mit dem Erstrundenaus im Pokal und drei sieglosen Spielen in der Liga gelang dies nur bedingt. Die Fähigkeiten von Eduardo Vargas könnten sich als fehlendes Puzzleteil herausstellen. Auch wenn die beschauliche Rhein-Neckar-Arena wohl nie so beben wird wie das Estadio Nacional de Chile.
Eduardo Vargas im Steckbrief