Wie groß wird der Groll sein? Am Freitagabend, wenn Borussia Dortmund beim 1. FSV Mainz 05 gastiert (20.30 Uhr im LIVETICKER), hat das Mainzer Publikum zum ersten Mal die Möglichkeit, seine Gemütsregungen gegenüber Thomas Tuchel zur Schau zur stellen.
Als Tuchel sein Amt beim FSV nämlich abtrat, war das letzte Spiel der Saison 2013/2014 schon vorüber. Während der Partie gegen den Hamburger SV hatten die Zuschauer keine Ahnung davon, dass ihr Verein nur wenige Minuten nach Abpfiff ohne Trainer dastehen würde.
Wie Tuchel also bei der Rückkehr zu seinem sechs Jahre langen Arbeitgeber empfangen wird, dürfte auch ohne die Sticheleien des Mainzer Präsidenten Harald Strutz im Vorfeld eine interessante Beobachtung werden. Anders als FSV-Manager Christian Heidel hat Strutz seinem Ex-Coach den Aufsehen erregenden Abgang nie verziehen.
Tuchel erstmals negativ besprochen
Es war für den Klub Mainz 05 auch eine Grenzerfahrung, die er da vor knapp eineinhalb Jahren machen musste. Dass ein Trainer aus einem laufenden Vertrag aussteigen möchte, der Verein ihm für dieses Vorhaben jedoch keine Freigabe erteilt, war vor allem hinsichtlich möglicher rechtlicher Konsequenzen ein Novum im deutschen Fußball.
In jenen Tagen verkehrte sich Tuchels zuvor exzellenter Ruf erstmals auch ins Negative. An diesem ziemlich unwürdigen Ende durchs Hintertürchen, das Tuchels große Erfolge in Mainz konterkarierte, trug der Coach besonders durch sein Vorgehen an jenem Samstagnachmittag im Mai 2013 allerdings auch keine geringe Schuld.
Der Verein war verstimmt, die Fans perplex, die Öffentlichkeit ob der sich androhenden Schlammschlacht in Aufruhr. Der von Tuchel in den Vorjahren wenig beachtete Boulevard holte in den Tagen nach der Trennung zum Rundumschlag gegen den "Heuchler" (Bild) aus und belagerte tagelang seinen Privatwohnsitz.
Müller über Tuchel: Diktatorisch!
Fortan wurde Tuchels viel gelobte Akribie, die verbissene Leistungsorientiertheit und Mannschaftsführung unter einem anderen Licht betrachtet und in nervende Pedanterie sowie Herrschsucht umgedeutet. Auch einige Spieler meldeten sich nun kritisch zu Wort, allen voran Keeper Heinz Müller, der Tuchels Führungsstil diktatorisch nannte.
Tuchel zog sich vollkommen aus der Öffentlichkeit zurück. Mainz blieb hart und beharrte auf dem Recht, den bis 2015 datierten Kontrakt nicht frühzeitig zu beenden. Mit der Zeit legte sich die Aufregung auch wieder. Dies stand sicherlich im Zusammenhang mit der Tatsache, dass Tuchel nirgendwo unterschreiben konnte.
Für Tuchels öffentliche Reputation war dies in jenem Moment womöglich auch ganz gut. Denn es wäre wohl fatal für sein allgemeines Ansehen gewesen, hätte er direkt im Anschluss an seine Amtszeit bei den 05ern einen anderen Verein trainiert.
Tuchels Marktwert stieg mit jedem Tag
Nachdem publik geworden war, dass Tuchel als amtierender FSV-Coach hinter dem Rücken der Verantwortlichen unter anderem mit Schalke 04 und Bayer Leverkusen verhandelt hatte, hätte ein prompter Wechsel zu einem neuen Klub einen bitteren Nachgeschmack gehabt.
Was Tuchel dann während seiner einjährigen Pause passierte, die ihn zur fußballerischen Fortbildung in verschiedene Länder mit unterschiedlichen Gesprächspartnern führte, widerfuhr zuvor noch keinem deutschen Trainer. Erst recht keinem, der bis dato lediglich einen einzigen Verein im Profibereich coachte.
Tuchels Marktwert stieg vor allem im Laufe der vergangenen Rückrunde beinahe täglich an. Gerüchte um neue Arbeitgeber schossen aus dem Boden, empörte Dementis folgten, der Name Tuchel beherrschte die Schlagzeilen.
Das Phantom der Liga
Der 42-Jährige entwickelte sich auf diese Weise zu einer Art Phantom, das über mehreren Vereinen schwebte und diese bisweilen in Atem hielt.
Dass sich diese Situation derart verselbständigte, geschah jedoch nicht ohne Tuchels Zutun. Zahlreiche interessierte Klubs standen bei ihm Schlange - und er ließ sich auf zahlreiche Gespräche ein.
Der VfB Stuttgart drängte auf eine frühe Entscheidung und handelte sich eine Absage ein, Ostern gab Tuchel RB Leipzig einen Korb. Beim Hamburger SV vergaloppierte man sich gar fast in die 2. Liga, da man annahm, mit Trainernovize Peter Knäbel die Zeit bis zu Tuchels sicher geglaubter Ankunft überbrücken zu können.
Sofortige Vergleiche zu Klopp
Der Trainer Tuchel geriet in dieser Zeit zu einem scheinbar allwissenden Heilsbringer, der Vereinen in allen denkbaren sportlichen Situationen rapide Besserung verschaffen würde. Das Profil vom detailversessenen Taktik-Genie, als Mensch gleichwohl kompliziert und anstrengend, nahm Schärfe an.
Als sich Tuchels Zukunft endlich klärte und nach Jürgen Klopps überraschendem Rückzug plötzlich bei Borussia Dortmund lag, zog man an vielen Stellen reflexartig den charakterlichen Vergleich zwischen diesen beiden Trainern.
Der Kopfmensch Tuchel, so hieß es, gehe zum Lachen in den Keller. Bei aller fachlichen Finesse werde er daher Schwierigkeiten haben, mit den Dortmunder Vereinsoberen ein ähnlich freundschaftliches Verhältnis zu pflegen, wie es Everybody's Darling Klopp tat.
Auf Anhieb viele Veränderungen beim BVB
Blickt man gegenwärtig jedoch auf die bislang 108 Tage von Tuchels Amtszeit bei den Schwarzgelben, dann hat sich der Coach zweifelsohne als vielschichtige Persönlichkeit positioniert. Doch den Übergang von Klopp zu Tuchel sowie die nicht geringen personellen Einschnitte im Kader hat er erstaunlich souverän moderiert.
Tuchel krempelte die sportliche Führung in seinen ersten Monaten in Dortmund fast vollständig um und riss sie an sich. Seine Methodik, die nur wenige Parallelen zu der jahrelang praktizierten Klopp-Lehre aufweist, ist Gesetz. Tuchel gibt in den unterschiedlichen Bereichen jedwede Herangehensweise vor - und alle sind gewillt, seinen Überzeugungen zu folgen.
Ob es um ein neues Bewusstsein für leistungsfördernde Ernährung oder Schlaf ist, die kognitiv herausfordernden Trainingsformen oder seine sehr analytisch gehaltene Ansprache: Tuchel hat beim BVB in sehr kurzer Zeit mehr Veränderungen herbeigeführt, als man im Vorfeld annehmen konnte.
Neue fußballerische Dynamik
Doch es waren eben jene neuen individuellen wie mannschaftlichen Reize, die die Verantwortlichen nach sieben langen Klopp-Jahren in der Verpflichtung von Tuchel suchten. Innerhalb des Teams, das die andersartigen Einflüsse regelrecht aufzusaugen scheint, herrscht eine neue fußballerische Dynamik.
Tuchel hat frischen sowie länger angestellten Spielern den Willen und Ehrgeiz zu mehr Leistungsbereitschaft, wie er sie versteht, eingeimpft. Dies mündete auf Anhieb in eine elf Partien andauernde Siegesserie - so etwas hat es in Dortmunds langer Historie zuvor noch nie gegeben.
Die Vorbehalte, die Tuchel auch im Umgang mit den Medien begleiteten, scheinen unbegründet. Lediglich in der für die Presse zugänglichen Trainingseinheit nach der ernüchternden 1:5-Ohrfeige in München geriet der Coach lautstark in Wallung. Einzelne Journalisten watschte er im Gegensatz zu Klopp allerdings noch nie ab.
Tuchel "Bis heute noch unglücklich"
Auch Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke, der Tuchels Wirken bereits frühzeitig als klaren "Neuanfang" umschrieb, und Sportdirektor Michael Zorc pflegen ein unbeschwertes Verhältnis zum neuen Übungsleiter und tragen ihm gegenüber dieselbe Offenheit zur Schau wie die Mannschaft. Der BVB befindet sich unter Tuchel unverkennbar im sportlichen Aufwind, daran kann auch die Delle mit zuletzt vier Partien ohne Dreier nicht rütteln.
Es erstaunt vielmehr, wie schnell der neue Übungsleiter mit dem schwierigen Erbe beim BVB zurecht ge- und angekommen ist. Wie gut er noch beim Mainzer Publikum ankommt, dürfte am Freitagabend relativ schnell ersichtlich sein.
Tuchel glaubt nicht an Unmutsäußerungen: "Über den Abschied - auch medial - bin ich bis heute noch unglücklich. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass es Vorbehalte gegen mich geben wird. Ich erwarte keine besondere Stimmung wegen mir. Wir haben nie etwas Negatives erlebt, auch in dem freien Jahr nicht, in dem wir noch in Mainz gelebt haben."
Das würde auch Sinn ergeben, schließlich hat Tuchel in fünf Jahren aus Mainz 05 das gemacht, was es heute ist - ein ambitionierter Bundesligist.
Thomas Tuchel im Steckbrief