Bär, Schlachtschiff oder "Big Mike"

Von Nino Duit
Jonathan Tah verpasste in dieser Saison noch keine einzige Sekunde
© getty

In seiner Kindheit wurde ihm im Spaß Passfälschung vorgeworfen. Man mochte einfach nicht glauben, dass der junge Jonathan Tah schon so groß und robust war. Mit 20 Jahren zählt der Leverkusener zu den besten Innenverteidigern der Bundesliga - und steht vor dem Sprung in die Nationalmannschaft.

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Man tut ihm wohl Unrecht, wenn man Kevin Kampl vorwirft, einen seiner Teamkollegen kleinreden zu wollen - würde ja auch gar nicht zum Ideal des mediengeschulten Profis passen. Die Fakten sprechen aber eindeutig gegen den Slowenen.

1,50 Meter Schulterhöhe - so groß sind europäische Braunbären im gehenden Zustand. Amerikanische Grizzlys? Auch nicht größer. Selbst wenn es Kampl in die Arktis verschlagen sollte, würde sogar er mit seinen 1,78 Metern die 1,60 großen Eisbären deutlich überragen.

Schreiben wir seine fatale Aussage aber eher fehlenden zoologischen Kenntnissen zu als hinterlistiger Absicht. Dass sie als Lob zu verstehen sein sollte, ist nämlich so sicher wie der nächste Wutausbruch von seinem Sportdirektor Rudi Völler.

Kampl sprach nach dem 0:0 seiner Leverkusener gegen den FC Bayern vor eineinhalb Wochen also zur Presse und sagte: "Ich weiß nur, dass ein Bär hinter mir ist, der mir den Rücken freihält." Der vermeintliche Bär, das ist Jonathan Tah. Und Jonathan Tah ist 1,94 Meter groß. Hinsichtlich der Größe kann er es mit jedem Bären, egal ob Braun- Eis-, oder Grizzlybär aufnehmen.

"Big Mike" nach Michael Oher

Bären zählen zur Gattung der Raubtiere, Tah fällt unter die Kategorie der Innenverteidiger. Der 20-Jährige gilt als eines der vielversprechendsten Abwehrtalente der Republik. Für seine Teamkollegen ist er nur "Big Mike". Angeblich soll er dem amerikanischen Football-Spieler Michael Oher ähnlich sehen.

Der Vergleich ist jedenfalls besser als die Bären-Untertreibung. Oher misst 1,93 Meter. Augenhöhe mit Tah. Die Position des Offensive Tackle bekleidet Oher bei den Carolina Panthers. Tackles packt der Leverkusener selbst dagegen eher selten aus.

Knifflige Situationen löst Tah eher mit seiner immensen Schnelligkeit.

Keine Sekunde verpasst

Abgesehen von der Tatsache, dass wohl kein anderer Spieler der Bundesliga gleichzeitig mit Bären und amerikanischen Footballer-Schränken verglichen wird, hat Tah noch ein weiteres Alleinstellungsmerkmal zu bieten: Kein Bundesligaspieler absolvierte in dieser Saison mehr Spielminuten als Tah. Ist auch gar nicht möglich. Tah verpasste nämlich weder in der Bundesliga, noch in der Champions League oder dem DFB-Pokal eine einzige Sekunde.

Tah ist der Dauerbrenner der Liga. Und das war vor dem Saisonstart nicht abzusehen. Mit Kyriakos Papadopoulos, Tin Jedvaj und Ömer Toprak verfügt die Werkself über drei namhafte und kampferprobte Innenverteidiger. Eine Mischung aus Verletzungspech der Konkurrenten und starken eigenen Leistungen machten ihn aber zum unumstrittenen Stammspieler.

Ein solcher war Tah auch einmal bei Altona 93, seinem Hamburger Jugendverein. Als er mit vier Jahren zum Klub kam, gab es aber noch nicht einmal eine Mannschaft für seinen Jahrgang. Stammspieler war Tah trotzdem. Als 1996er Jahrgang spielte er zu Beginn eben mit den 95ern.

Und das tat er gut. Eine Rückstufung kam nicht mehr in Frage, erzählt Altonas Jugendleiter Wolfgang Oesert im Gespräch mit SPOX, "sein langjähriger Jugendtrainer Jürgen Trapp hat gesagt: 'Der bleibt bei mir, den rück ich nie wieder raus'."

Brecher unter Fälschungsverdacht

Schon früh fiel Tah durch eine ungemeine körperliche Präsenz auf. Er war physisch stets weiter als seine Teamkollegen. "Es gibt ein Foto von ihm in der E-Jugend und schon darauf ist er ein richtiger Brecher", sagt Oesert. "Die Eltern am Spielfeldrand haben immer gesagt, dass ich einen falschen Pass hätte. Meine Mutter ist da immer ein bisschen böse geworden", sagt Tah.

Alle vehementen Beteuerungen scheinen aber nichts genützt zu haben. Bis heute hält sich dieser gemeine Vorwurf. "Der ist so ein Riese, da denke ich niemals, dass er erst 19 ist", sagte Bären-Freund Kampl kürzlich. Am 11. Februar feierte Tah immerhin seinen 20. Geburtstag.

Neben der körperlichen Präsenz zeichnete Tah auch schon früh seine mentale Stabilität aus. Diese Kombination half ihm, als er mit 15 ins Jugendinternat des Hamburger SV übersiedelte. "Vor dem Umzug gab es wenig Sorge, dass er körperlich verschlissen wird, da er schon früh sehr robust war", sagt Oesert, "aber auch mental war er sehr stark - und das ist ein klassisches Kriterium in dem Selektionsverfahren, dem junge Talente unterliegen." Tah hielt dem Selektionsverfahren stand.

Knapp zwei Jahre, nachdem Tah die Tore des Internats erstmals durchschritt, durfte er sich jüngster HSV-Spieler seit Beginn der Bundesligageschichte nennen. Innerhalb kürzester Zeit entwickelte sich Tah zum Stammspieler und machte in der Hinrunde der Saison 2013/14 fast alle Partien. Der Innenverteidiger wirkte nicht wie ein 17-jähriges Talent sondern wie ein 27-jähriger Routinier.

Neue Heimat am Rhein

Als die Abstiegssorgen des HSV jedoch akuter wurden, fand sich Tah auf der Ersatzbank wieder. Die Rückrunde erlebte er vom Seitenrand mit. In Sorge um seine sportliche Entwicklung legte Tah ein einjähriges Lehrjahr in der 2. Bundesliga ein. Rhein statt Elbe, Düsseldorf statt Hamburg. "Ich war das erste Mal auf mich alleine gestellt. Man kann sagen, in Düsseldorf bin ich erwachsener geworden. Es war auch für meine Persönlichkeit ein wichtiger Schritt", sagte Tah einmal in einem Interview mit der MoPo.

Aus dem Abstecher an den Rhein wurde ein permanenter Ortswechsel. Zwar nicht nach Düsseldorf, aber einige Kilometer stromaufwärts nach Leverkusen. Der ortsansässige Verein Bayer 04 kaufte Tah im Sommer 2015 nämlich für knapp acht Millionen Euro.

Was der 20-Jährige in Leverkusen seitdem zeigt, ist bemerkenswert. Tah ist geradezu prädestiniert für das riskante und laufintensive Spielsystem von Trainer Roger Schmidt. Mit seinem guten Stellungsspiel passt Tah perfekt in Leverkusens hochstehende Abwehrreihe, sein Spielaufbau ist abgeklärt und kopfballstark ist Tah auch. Und schnell.

Vielleicht wurde Kampl bei seinem Bären-Vergleich auch einfach missverstanden. Vielleicht meinte er die Schnelligkeit seines Teamkollegen. Braunbären können erstaunlich schnell laufen; sie erreichen bis zu 50 km/h. Ganz so schnell ist Tah nicht. Für die meisten Bundesliga-Stürmer reicht es dennoch. Trotz seiner Statur wirkt der 98 Kilogramm schwere Koloss keineswegs hüftsteif. "Schon früh verfügte er über eine auffällig gute Koordination", sagt Oesert.

Stolze Schwester, interessierter Bundestrainer

Auf all diese Vorzüge wurde auch der DFB früh aufmerksam. Ab der U 16 war Tah für diverse nationale Auswahlteams aktiv. Dabei durfte er oftmals auch die Kapitänsbinde tragen. "Mir liegt es, ein Team zusammenzuhalten, mitzureißen und zu pushen", sagt Tah.

All das kann er vielleicht früher als gedacht auch in der A-Nationalmannschaft tun. Jerome Boateng und Holger Badstuber sind verletzt und viele hochklassige Alternativen gibt es neben den arrivierten Mats Hummels, Benedikt Höwedes und Shkodran Mustafi nicht.

Beim Spiel gegen den FC Bayern saß Joachim Löws Assistent Thomas Schneider auf der Tribüne, um Tah zu beobachten. Dass man beim DFB zufrieden ist mit dem Innenverteidiger, belegt auch die Tatsache, dass Tah im Herbst die Fritz-Walter-Medaille in Gold verliehen bekam. Die Gala in Frankfurt verpasste er wegen eines zeitgleichen Einsatzes für die DFB-U21 aber. Die Ehrung nahm Oesert entgegen.

Dessen Sohn geht übrigens mit Tahs kleiner Schwester in die Schule und "die spricht nur gut über ihn", sagt Oesert. Tah sei "komplett umgänglich" und "normal geblieben". Was seine Schwester wohl davon hält, dass Tah als "Bär" bezeichnet wird?

Wohl immer noch mehr als von dem Spitznamen, den Teamkollege Christoph Kramer ihrem Bruder verpasste: "Schlachtschiff."

Jonathan Tah im Steckbrief

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