Auch als kleinstes Licht in der 1. Liga schlägt sich der SV Darmstadt 98 mehr als wacker. Als Vater des Erfolgs gilt Trainer Dirk Schuster, der seit 2012 Trainer bei den Lilien ist. Der 48-Jährige spricht über Darmstadt als Trendsetter, das altehrwürdige Böllenfalltor, das Scouting der Hessen und seine Erfahrungen als Profi. Zudem verrät Schuster einen Herzenswunsch.
SPOX: Herr Schuster, Eintracht-Boss Heribert Bruchhagen sagte im vergangenen Sommer "Dirk Schuster wird im März 2016 beim SV Darmstadt in Frage gestellt". Wenn man auf den Kalender schaut, dürfte sich Herr Bruchhagen geirrt haben, oder?
Dirk Schuster: Das ist ein Erfahrungswert, den Heribert Bruchhagen bisher gemacht hat. Immerhin ist er schon seit vielen Jahren in verschiedenen Funktionen in der Bundesliga tätig und weiß, wie das Geschäft läuft. Außerdem ist auch nicht von der Hand zu weisen, dass Aufsteiger in den letzten Spielen der Saison oft anders wahrgenommen werden, als noch zu Beginn der Runde.
SPOX: Was müsste denn überhaupt passieren, dass Sie in Darmstadt in Frage gestellt werden?
Schuster: Dazu gebe ich Ihnen am besten die Telefonnummer von unserem Präsidenten Rüdiger Fritsch und Sie fragen am besten mal nach. (lacht)
SPOX: Wenn man die letzten drei Jahre betrachtet, müsste man Ihnen am Böllenfalltor eigentlich ein Denkmal bauen...
Schuster: Wir wollen mal nicht übertreiben. Es gab auch schon die eine oder andere Phase, in der wir sehr sparsam gepunktet haben. Uns ist ja auch bewusst, dass wir in der 1. Liga keine Serie von 17 oder 18 ungeschlagenen Spielen schaffen. Wir versuchen uns in jedem Spiel so teuer wie möglich zu verkaufen. Für mich ist nicht immer entscheidend, was nach 90 Minuten auf der Anzeigetafel steht. Wenn die Leistung gepasst hat und wir am Ende stolz in den Spiegel schauen können, dann ist das auch mal in Ordnung. Manchmal muss man sich eben auch eingestehen, dass ein anderer besser war. Zumal im Fußball auch immer mal wieder das Glück den Ausschlag gibt.
SPOX: Kann man das bei all den Emotionen, die der Fußball freisetzt auch so hinnehmen?
Schuster: Manche Dinge muss man im Leben einfach akzeptieren und dem Gegner am Ende gratulieren. Für uns als SV Darmstadt 98 ist es normal, dass man auch mal als Verlierer den Platz verlässt. Wir haben nicht die Einzelspieler, nicht die wirtschaftlichen und infrastrukturellen Möglichkeiten wie andere Erstligisten, um in der 1. Liga ohne weiteres bestehen zu können. Andere Teams konnten sich in der Vergangenheit in dieser Hinsicht einiges aufbauen und haben daher nun einen deutlichen Vorsprung. Wir wussten von vornherein, dass es Misserfolgserlebnisse geben wird - aber wir wissen auch damit umzugehen.
SPOX: Der Spielstil der Lilien spaltet die Liga. Die einen mögen den ehrlichen Fußball und finden diese Art sympathisch. Andere wiederum sind genervt von der bissigen und ekligen Spielweise Ihrer Mannschaft. Wie kommt diese Diskussion bei Ihnen an?
Schuster: Das ist eher ein Kompliment für uns und zeigt, dass wir es unseren Gegner nicht leicht machen. Allerdings sind wir nicht das einzige Team der Liga, das sozusagen die Renaissance der Zweikampfstärke und des ungemütlichen Spiels aufleben lässt. Wenn ich da an den FC Ingolstadt denke, sehe ich schon einige Parallelen.
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SPOX: Nachdem in der Vergangenheit der eine oder andere Neuling eher mitspielen wollte, haben die Lilien und der FCI mit dieser Art einen neuen Trend für die zukünftigen Aufsteiger eingeleitet?
Schuster: Wir sind in dieser Hinsicht sicherlich kein Trendsetter. Wir haben lediglich aus der Not eine Tugend gemacht. Wir können nur über den Teamgeist und den Charakter der Mannschaft zum Erfolg kommen, das war uns von Anfang an bewusst. Der Klassenerhalt kann uns nur gelingen, wenn wir mit großem Herzen, sehr viel Zusammenhalt, Disziplin und Ordnung agieren. Weil wir vergleichsweise gar nicht die individuelle Qualität besitzen, um anders erfolgreich zu sein. Die Jungs setzen das bis hier hin auch klasse um. Diesen Weg gehen wir aber nicht erst seit Sommer, sondern haben bereits in der 2. und 3. Liga so agiert. Natürlich ist es etwas Positives, dass die Gedanken und Ideen, die wir hier in Darmstadt haben, inzwischen auch Nachahmer findet.
SPOX: Vor zwei Jahren war Darmstadt 98 noch nicht wirklich salonfähig. Doch inzwischen kommen sogar gestandene Bundesligaspieler zu den Lilien. Gerade Akteure, bei denen die Karriere in einer Sackgasse steckt. Wenn man das mit der Gesellschaft vergleicht, erinnert das ja fast schon an ein Resozialisierungsprogramm.
Schuster: Viele Spieler, die wir geholt haben, haben eine Delle in ihrer Laufbahn. Für einige sind wir wohl auch die letzte Chance gewesen. Wenn sie also bei uns nicht gespielt hätten - dem kleinsten Licht der Liga - dann wär's das für sie wohl gewesen mit der Bundesligakarriere. Dementsprechend haben wir den Spielern einfach vertraut, weil sie unter besonderen Umständen zu uns kamen. Entscheidend ist, dass wir immer im Dialog mit den Spielern stehen und zu ihnen immer ehrlich sind. Dadurch geht man auf gewisse Bedürfnisse und eventuellen Eitelkeiten ein. So kann man jedem Einzelnen vermitteln, dass das Große und Ganze im Vordergrund steht. Allerdings ist es bei uns auch so, dass, wenn ein Spieler mal ein privates Problem hat, er auch mal einen Tag frei bekommt, damit er das lösen kann. Ähnlich gehen wir mit angeschlagenen Spielern um. Auch hier müssen wir den Charakter der Spieler einschätzen können.
SPOX: Kommt Ihnen Ihre Erfahrung als Spieler in solchen Einschätzungen entgegen?
Schuster: Generell ist es ja so: Es gibt Spieler, die beißen sich mit einem Wehwehchen auch mal durch, dafür kann man sie unter der Woche mal beim Training rausnehmen, wenn es sinnvoll ist. Auf der anderen Seite gibt's auch mal ab und an einen Pappenheimer, der vielleicht am Abend mal etwas länger unterwegs war und am Morgen zu einem kommt und erzählen will, wo es überall zwickt. Die schickt man dann direkt auf den Platz. Das ist das Schöne, wenn man mal selbst gespielt hat - da kannst du die ganze Scheiße selbst einschätzen. (lacht)
SPOX: Kann sich denn ein Verein wie der SV Darmstadt damit überhaupt langfristig in der 1. Liga halten?
Schuster: Dabei spielen viele Faktoren eine Rolle. Solange wir in dieser Bruchbude spielen, haben wir einen klaren Wettbewerbsnachteil. Dabei geht es mir aber gar nicht um das Erscheinungsbild, das noch richtig Charme hat und für Fußballromantik steht. Aber dreiviertel unserer Tribüne sind nicht überdacht, da können wir keine Eintrittspreise wie in Dortmund machen. Es fehlen Logen und Hospitality-Möglichkeiten, mit denen schlichtweg viel Geld generiert wird. Aufgrund dieser Gegebenheiten ist es schwierig, Großsponsoren zu binden. Wobei man auch sagen muss, dass sich infrastrukturell schon einiges getan hat. Wir befinden uns auf dem richtigen Weg, den Profifußball am Böllenfalltor zu etablieren. Aber wir brauchen schnellstmöglich das neue Stadion.
SPOX: Eine Scoutingabteilung gibt es beim SV Darmstadt in diesem Sinne nicht. Mal flapsig formuliert, gehen Sie eine Liste arbeitsloser Profis durch, schauen Sie sich in Kadern der Bundesligisten nach unzufriedenen Spielern oder wie läuft das ab?
Schuster: Wir machen uns sehr oft und zu jeder Jahreszeit Gedanken zum Kader. Überlegen auf welcher Position wir uns verbessern könnten oder an welchen Stellen wir noch Defizite haben. In der Hinrunde gefiel uns beispielsweise nicht, dass wir zu viele einfache Ballverluste hatten und dadurch immer wieder durch schnelle Gegenangriffe in gefährliche Situationen gerieten. Als erstes haben wir unser eigenes Personal geprüft und geschaut, welcher Spieler uns dabei helfen könnte, dieses Problem zu lösen. Vielleicht ist einer dabei, der bisher noch nicht so viele Einsatzminuten hatte, aber nun die Möglichkeit erhalten könnte, weil vom Spielertyp nun gefragt ist. Wenn uns das aber alles nicht zufriedenstellt, schauen wir uns nach einer externen Lösung um. Wobei sich unser Anspruchsdenken in den letzten Jahren schon nach oben geschraubt hat. Inzwischen schauen wir bei den Bundesligisten, weil wir eben auch diese Qualität haben wollen. Wir haben keine Zeit, junge Spieler aus der A-Jugend erst aufzubauen. Daher schauen wir, wer schon eine gewisse Bundesligatauglichkeit in seiner Laufbahn vorzuweisen hat. Und dann kommt die große Frage.
SPOX: Ob der Spieler überhaupt Lust auf Darmstadt hat?
Schuster: Genau. Ist das Ganze überhaupt wirtschaftlich zu realisieren und kann der Spieler sich mit den Gegebenheiten hier anfreunden. Dann müssen wir schauen, dass er bei seinem abgebenden Verein keine große Rolle mehr spielt oder vielleicht aussortiert wurde. Das sind dann Signale, dass wir mit dem Spieler sprechen können. Besteht Interesse von Seiten des Spielers, laden wir ihn in unsere Katakomben zu einem Zwölf-Augen-Gespräch ein.
SPOX: Das klingt aber nach einer Art Verhör...
Schuster: Nein, ganz im Gegenteil. Meist sitzen die vier sportlich Verantwortlichen mit dabei, sprich Co-Trainer Sascha Franz, Torwart-Trainer Dimo Wache, Fitness-Coach Frank Steinmetz und Präsident Rüdiger Fritsch. Zuvor holen wir uns natürlich ein paar Infos von ehemaligen Trainern oder Mitspielern des Akteurs und dann beschnuppert man sich. Heißt, wir schauen, ob die drei Säulen zueinander passen.
SPOX: Drei Säulen?
Schuster: Wir müssen klären ob wir sportlich, menschlich und wirtschaftlich zusammenfinden. Diese drei Dinge müssen passen, ansonsten werden wir einen Spieler nicht verpflichten.
SPOX: Könnten Sie denn aktuell sagen, dass Sie auch in der kommenden Saison noch Trainer beim SV Darmstadt 98 sind?
Schuster: Ich habe Vertrag bis 2018 und wir sind hier noch nicht am Ende der Fahnenstange. Ich kann und will in Darmstadt noch einiges bewegen. Wir haben hier ein sehr enges Vertrauensverhältnis und kurze Entscheidungswege.
SPOX: Im letzten SPOX-Interview im November 2014 sagten Sie, Ihr Ziel sei es, "oben anzukommen"...
Schuster: (unterbricht) Geschafft! (lacht)
SPOX: Wohin soll Ihr Weg noch führen?
Schuster: Zumindest möglichst nicht in die 2. Liga. Wir wollen natürlich alle in Bundesliga bleiben. Auch ich möchte aus dieser Liga nicht mehr weg!
SPOX: Sie sagten damals Weihnachten, Ostern und noch einige Feiertage müssten zusammenfallen, damit der SV Darmstadt 98 in die Bundesliga aufsteigt.
Schuster: Das ist ja jetzt passiert, also nennen wir diesen Feiertag "Onachten". (lacht)
SPOX: Auch in Sachen Trainingsgestaltung und -pädagogik gehen Sie interessante Wege. Beispielweise gibt es einen "Mitarbeiter des Monats".
Schuster: Richtig, das ist statistisch gesehen der Trainingsbeste des vergangenen Monats, von dem ein eingerahmtes Bild über dem Kabineneingang hängt. Aber auch das Rosa Leibchen wird vergeben. Das bekommt für eine Einheit der Spieler, der am Monatsende die wenigsten Punkte gesammelt hat. Jede Trainingseinheit, die sehr häufig in spielerischer Form stattfindet, wird bei uns statistisch erfasst und am Ende gibt's gewisse Punkte für bestimmte Ergebnisse.
SPOX: Lernt man so etwas in der Trainerausbildung oder kommt Ihnen da die Erfahrung als Profi zugute?
Schuster: Beides. Ich denke, es ist als Trainer auch wichtig zu wissen, was in der Kabine abgeht. Da ist man auch oft als Pädagoge gefragt. Wenn man ein wichtiges Spiel während der Saison gewonnen hat, muss man die Jungs vielleicht eher mal bremsen. Andersrum ist es so, dass wenn man mal ordentlich unter die Räder gekommen ist, auch mal ein bisschen mehr Lob verteilen muss. Ich kann mich noch ganz gut in die Spieler hineinversetzen und weiß, was sie in manchen Situationen empfinden.
SPOX: Würde die Methoden von Trainer Dirk Schuster auch bei einem anderen Verein funktionieren?
Schuster: Sie müssen sehen: Eine Mannschaft ist immer eine Interessensgemeinschaft. Jeder hat seine Wünsche, seine Ziele und verfolgt seine eigene Interessen. Einige möchten letztlich viel Geld verdienen, andere möglichst viele Spiele machen - da gibt es ganz unterschiedliche Aspekte. Letztendlich ist es aber wichtig, die Interessen mit den Zielen des Vereins zu verbinden. Dabei ist Disziplin extrem wichtig und dieser Ansatz funktioniert bei jedem Verein. Letztlich will jeder Spieler ein Gewinner sein und wenn man erfolgreich ist, ist man ein Gewinner.
SPOX: Sie persönlich gehen gerne Laufen. Sie sagte einmal, ein großer Wunsch von Ihnen sei, am New York Marathon teilzunehmen. Hat das denn inzwischen geklappt?
Schuster: Nein, leider immer noch nicht. Ich war zwei Mal mit einer Startnummer angemeldet, aber der Spielplan hat es in der Vergangenheit nicht zugelassen, dass wir am ersten Novemberwochenende ein Freitagsspiel hatten.
SPOX: Woher kommt diese Leidenschaft für den Marathonlauf?
Schuster: Es ist die Gier, sich selbst etwas zu beweisen und zu zeigen, dass man noch den Biss hat, über den inneren Schweinehund hinauszugehen - auch mehrmals. Dadurch kann man von seinen Spieler auch mal verlangen, an die Kotzgrenze zu gehen. Dabei kommt es mir gar nicht allzu sehr auf die Zeit an, auch wenn ich versuche, immer unter vier Stunden zu bleiben. Dieses unbeschreibliche Gefühl, wenn man die Ziellinie überschreitet, entschädigt für die ganzen Qualen auf den 42 Kilometern zuvor. Vor allem ist es aber auch gut für den Kopf, denn man muss sich vier Stunden ausschließlich mit sich selbst beschäftigen.
SPOX: Kommen wir abschließend noch einmal zum Vergleich Ihres Präsidenten, Herr Fritsch sprach von einem 100-Meter-Lauf. Machen wir aus der Bundesligasaison mal einen Marathonlauf. Der SV Darmstadt 98 wäre demnach jetzt bei Kilometer...
Schuster: ... 24 oder 25. Das richtig Fiese kommt also noch. Hoffentlich können wir am Ende mit Gänsehaut über die Ziellinie gehen.
Dirk Schuster im Steckbrief