"Wird beim BVB perfekt funktionieren"

Andre Schürrle (r.) mit seinem Mentor Thomas Tuchel zu Mainzer Zeiten
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Andre Schürrle tritt mit dem Wechsel zu Borussia Dortmund eine Reise ins Vertraute an. Volker Kersting, Leiter des Mainzer Nachwuchsleistungszentrums, entdeckte Schürrle einst und holte ihn zum FSV. Zusammen mit SPOX zeichnet er den Weg des Nationalspielers nach und hilft, den neuerlichen Transfer einzuordnen.

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Die Möglichkeit, ein Talent für dessen Entwicklung in jungen Jahren erst einmal beim Heimatverein zu lassen, bietet sich einem Bundesligisten heute eigentlich nicht mehr. Die Konkurrenz im Werben um Ausnahmekönner ist längst zu groß. Spätestens seit der Einführung der Nachwuchsleistungszentren ist die Scoutingstruktur so dynamisch geworden, dass kein Talent unentdeckt bleibt. Beim Sichten gibt es keine Regionalität mehr. Mit zehn, elf oder zwölf Jahren landen die großen Talente oft schon bei einem Flaggschiff-Klub.

Bei Andre Schürrle war das 2006 noch etwas anders. "Wir hatten Andre damals schon zwei Jahre lang auf dem Schirm und wollten ihn eigentlich schon ein Jahr früher haben. Er hat sich aber entschieden, erst noch in Ludwigshafen zu bleiben, was sicher auch mit dem zu betreibenden Aufwand zu tun hatte", erklärt Volker Kersting, Leiter des Nachwuchsleistungszentrums in Mainz, gegenüber SPOX. Doch Schürrle bewegte auch etwas anderes zu seiner Entscheidung, sagt Kersting: "Er ist auch ein sehr familienverbundener Mensch."

In der U17 aber wagte der Ludwigshafener den großen Schritt zu den Nullfünfern. Spät. Aber nicht zu spät, wie sich erwies. "Nach seinem Wechsel von Ludwigshafen zu uns hat Andre viele sehr große Entwicklungssprünge gemacht, seinen größten aber sicherlich im zweiten U19-Jahr unter Thomas Tuchel", schildert Kersting.

Schürrle überholte seine Mitspieler, wurde mit der Mannschaft deutscher A-Junioren-Meister und von Tuchel mit hoch zu den Profis genommen. Er schaffte es auf Anhieb zum Stammspieler im Bundesligakader - mit 18 Jahren. "Man hat Andre die Belastung, in so einem jungen Alter schon Mittelpunkt des Interesses zu sein, überhaupt nicht angemerkt. Er war immer sehr geerdet und bodenständig. Man hatte überhaupt nicht das Gefühl, dass dieser Schritt für ihn zu schnell ging", so Kersting. Er beschreibt den Schürrle von damals.

Unbekümmertheit fehlt 2016

2016, sieben Jahre später, sucht man diese Leistungssprünge, diese Unbekümmertheit bei Andre Schürrle seit geraumer Zeit zumeist erfolglos. Anderthalb Jahre in Wolfsburg, die Schürrle wieder einen Schub geben sollten, haben beim Nationalspieler eher Gegenteiliges bewirkt.

"Man hat in Wolfsburg von Anfang an einen sehr hohen Anspruch an ihn formuliert. An einen Spieler, der weiterhin an der Ablösesumme gemessen wurde und der nicht gerade gestärkt aus seiner Zeit bei Chelsea nach Wolfsburg kam. Damit hat man eine gewisse Drucksituation aufgebaut", bemängelt Kersting, dem von einigen Seiten das Verständnis dafür fehlt, dass es nach einem Wechsel durchaus wieder etwas Eingewöhnungszeit bedarf: "Das wird manchmal unterschätzt, nach dem Motto: 'Das ist ein hochbezahlter Profi, der muss sofort funktionieren.' So eine Denkweise halte ich für schwierig."

Schon bei den Blues hatte Schürrle nicht den einfachsten Stand. In den ersten Wochen deutete sich an, dass er sich zu so etwas wie einem von Jose Mourinhos Lieblingsspielern entwickelte. Doch der Starcoach ließ ihn fallen, immer seltener stand Schürrle auf dem Platz. "Der Schritt zu Chelsea und Jose Mourinho war natürlich sehr verlockend. Den Beweis, ob es im Nachhinein die hundertprozentig richtige Entscheidung war, tritt man nie an. Das kann man nicht sagen. Für Andre war es zweifellos eine großartige Erfahrung. Ich finde seine Karriereschritte schon nachvollziehbar", sagt der Mainzer NLZ-Leiter.

Wenige werden ihm da widersprechen. Als unbestritten einer der vielversprechendsten Youngster Deutschlands empfahl sich Schürrle 2011 mit 20 Toren in 66 Bundesligaspielen in Mainz zunächst für Leverkusen. "Aus meiner Sicht war Leverkusen der richtige Schritt und für seine Entwicklung sehr gut. Der Verein ist in der Außenwahrnehmung und vom Druck her etwas bescheidener als beispielsweise ein großer Traditionsverein, bei dem die Aufmerksamkeit höher ist. Da Andres Spielweise außergewöhnlich ist, war es aber logisch, dass noch größere Vereine Gefallen an ihm finden würden, wenn er in Leverkusen regelmäßig spielt", erinnert sich Kersting. Nur zwei Jahre später folgte der Wechsel auf die Insel.

Preisschild bewegt sich schneller als Entwicklung

Was bei allen Transfers aber immer mitschwang, war die Ablösesumme. Vielmehr eilte sie dem Nationalspieler voraus. Der Preis kletterte schneller nach oben als Schürrles Entwicklungskurve das überhaupt konnte. Die acht Millionen Euro, die Mainz von Bayer erhielt, waren für einen so jungen Spieler schon hoch. Schürrle war gerade noch dabei, diese Ablöse aufzuarbeiten, als Chelsea noch einmal fast das Dreifache nach Leverkusen überwies. Der Nationalspieler rannte diesen Zahlen in der Öffentlichkeit hinterher.

"Natürlich kann es sein, dass Andre auf Basis der Ablösesummen in den letzten Jahren auch einen gewissen Druck empfunden hat. Von meinem Gefühl her glaube ich aber nicht, dass ihn das sehr beschäftigt hat. Es gehören viele Faktoren dazu", schätzt Kersting ein. Vielmehr findet er, dass die öffentliche Wahrnehmung gegenüber Schürrle "schwierig" war: "Oftmals werden Meinungen anhand von Summen und Erwartungshaltungen geformt, für die der Spieler gar nichts kann."

Wolfsburg und Dortmund setzten dahingehend sogar noch einen drauf: Etwa 32 Millionen soll sich der VfL den Nationalspieler 2015 kosten lassen haben. Durch den Transfer zum BVB (wohl etwa 30 Millionen Euro) ist Schürrle mit mehr als 90 Millionen Euro zusammengezählter Ablöse nun sogar der wertvollste deutsche Spieler aller Zeiten.

Fehlende persönliche Bindungen

Doch woher rührt Schürrles Leistungstief, das ihn schon seit Monaten begleitet, wenn er sich nie in Relation zu diesen Zahlen betrachtete? Kersting versucht es einzuordnen: "Man darf nicht vergessen, dass Andre ja erst 25 ist. Wenn man als junger Spieler merkt, dass man ins zweite Glied rückt und den Anschluss ein bisschen verliert, kann das einen durchaus verunsichern. 'Schü' ist jemand, der Spielanteile und Vertrauen in sich und seine Stärken braucht. Zum Schluss hat er das bei Chelsea vielleicht nicht mehr zu einhundert Prozent gespürt. Deshalb hat er Wolfsburg als Möglichkeit gesehen, wieder in sein Spiel und vor allem wieder zu sich selbst zu finden."

Doch die Zeit beim VfL war nicht vergleichbar mit dem Schürrle früherer Bundesliga-Jahre, schon gar nicht mit denen in Mainz. "Nach der U19 frühzeitig Stammspieler in der Bundesliga zu werden, beflügelt einen so jungen Spieler. So erhält man in einem gestandenen Kader auch schnell Anerkennung. Wenn sich daraus dann noch eine weitere Geschichte entwickelt, wie bei Andre mit den 'Bruchweg Boys', wo er mit weiteren jungen Spielern eine zusätzliche verschworene Gemeinschaft bildete, dann prägt das einen. Das hat Andre für die weitere Karriere viel mitgegeben", erklärt Kersting.

Diese persönlichen Bindungen fand er bei seinen letzten Stationen so nicht mehr. Das Zwischenmenschliche fehlte ihm.

Ein Gefühl von Geborgenheit

Durch den dritten Vereinswechsel in vier Jahren erhofft er sich, genau das wieder zu erlangen. Die Hoffnung steht ganz groß mit zwei Namen in Verbindung: Thomas Tuchel und dessen Co-Trainer Arno Michels. "Sie haben für Andre einen sehr hohen Stellenwert. Es ist für ihn ein Stück weit eine Reise zurück in eine vertraute Geschichte, zurück zum Glauben an sich selbst. Er weiß, dass er dort all das findet, was er braucht", beurteilt Kersting die Wichtigkeit des Trainerteams beim Wechsel.

"Thomas Tuchel war Andres Mentor in der U19 und dann auch in seinen ersten beiden Profi-Jahren. Das prägt einen jungen Spieler immer und ist auch eine Grundlage in Andres fußballerischem Dasein", so Schürrles Entdecker weiter. Der Nationalspieler trifft in Dortmund nun also auf den Trainer, der ihn bestens kennt und der weiß, wozu sein Schützling fähig ist.

"Das gibt einem Spieler ein Höchstmaß an Vertrauen - vor allem jetzt, da er spürt, dass Thomas ihn unbedingt wiederhaben will. Das gibt Andre auch endlich wieder ein Gefühl von Geborgenheit. Ich bin sicher, dass das dahin führt, dass er seine Fähigkeit in Dortmund wieder einhundertprozentig auf dem Platz ausleben und einbringen kann. Er wird beim BVB perfekt funktionieren und wieder mehr Zutrauen in alles finden, weil er spürt, dass das gesamte Umfeld hinter ihm steht."

Im Innern ist Andre Schürrle auch zehn Jahre nach seinem Wechsel zu Mainz 05 noch ein bisschen dieses Talent, das sich nach etwas Heimischem sehnt. Die Chancen, dass er das bei Tuchel wieder findet, stehen offenbar gut.

Andre Schürrle im Steckbrief

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