Borussia Dortmund befindet sich inmitten eines großen Kaderumbruchs, drei prominenten Abgängen stehen acht Neuverpflichtungen gegenüber. Eine vielversprechende, aber noch nicht gänzlich überzeugende Mischung in der Innenverteidigung, ein Quantensprung auf der Position des Linksverteidigers, Talent und Tempo im Mittelfeld, kaum Neues im Angriff - das ist das Ergebnis der Analyse des aktuellen BVB-Kaders.
Torhüter: Roman Bürki, Roman Weidenfeller, Hendrik Bonmann
Die Bilanz des Vorjahres: Viel Licht und Schatten bei Bürki, Weidenfeller bei seinen wenigen Auftritten solide, aber nicht herausragend.
An der grundsätzlichen Rollenverteilung wird sich nichts ändern, Bürki bleibt die Nummer eins. Gut vorstellbar jedoch, dass der Schweizer diesmal die internationalen Spiele in der Champions League absolvieren darf, während Weidenfeller im Pokal zum Einsatz kommt. Diesbezüglich hat sich Tuchel noch nicht geäußert.
In Hendrik Bonmann bekleidet der Stammtorhüter der Dortmunder U23 den dritten Posten. Der 22-Jährige wird demnach nur bei Verletzungen der Konkurrenten in Frage kommen. So verfährt der BVB seit Jahren auf der Torhüterposition drei.
Innenverteidigung: Sokratis, Marc Bartra, Sven Bender, Matthias Ginter, Mikel Merino, Neven Subotic
Mit Mats Hummels und dem lange ausfallenden Subotic brechen endgültig zwei Urgesteine aus der Dortmunder Abwehr weg, der Verlust von Hummels schmerzt natürlich enorm. Allein wegen seines Wegfalls wird sich die Spielauslösung der Borussia verändern müssen, zumal sein vermeintlicher Ersatz Bartra bei Barcelona fast ausschließlich auf der rechten Innenverteidigerposition zum Einsatz kam.
Bartras Stärken und Schwächen: Mehr als ein Hauch Piquenbauer
Links würde somit Sokratis verteidigen, dessen Stammplatz aktuell bombensicher ist. Das Thema Ömer Toprak loderte mehrere Wochen im Hintergrund, kürzlich machte Leverkusen aber endgültig die Tür zu.
Dortmund verzichtet in diesem Mannschaftsteil also auf den Transfer eines weiteren gestandenen Spielers, so dass die Besetzung in der Mitte der Abwehrkette tendenziell eher dünn daher kommt.
Der verletzungsanfällige Bender wird aufgrund seiner Olympia-Teilnahme in jedem Fall die 1. Runde im DFB-Pokal verpassen, Ginter (ebenfalls bei Olympia dabei) kam unter Tuchel bislang nur in seltenen Fällen in der Innenverteidigung zum Zug.
Das könnte sich zur neuen Saison ändern, Ginter scheint aber als Innenverteidiger Nummer vier ins Rennen zu gehen. Besonders als rechtes Glied einer Dreierkette wäre der Weltmeister jedoch gut vorstellbar.
Auch Neuzugang Merino ist das Einsatzgebiet in der letzten Kette nicht fremd, auf dessen Stärken im Passspiel dürfte der Coach allerdings vermehrt im Mittelfeld setzen.
Bleiben eben Sokratis und Bartra. Der kampfstarke Grieche mit Tendenzen zum Hitzkopf hat nach zahlreichen Top-Leistungen zunehmend mehr Wertschätzung beim BVB erfahren, muss nun jedoch auch die Kategorie "Führungsspieler" mit Leben füllen. Für Bartra sind Umfeld und Liga zunächst noch absolutes Neuland - unter dem Strich eine vielversprechende, aber (noch) nicht gänzlich überzeugende Mischung.
Linksverteidiger: Marcel Schmelzer, Raphael Guerreiro, Erik Durm, Felix Passlack, Joo-Ho Park
Spätestens seit der EM ist klar: Mit Guerreiro hat Dortmund einen guten Griff getätigt, der Portugiese muss seine starke Form nach dem Urlaub jetzt nur noch in die Bundesliga hinüber retten.
Eine vermeintlich sorgenfreie Linksverteidiger-Alternative zum gesetzten Schmelzer bedeutet aber einen Quantensprung, nachdem sich in den Vorjahren dort zahlreiche Kandidaten mehr schlecht als recht versucht haben.
Der immer wieder von Blessuren geplagte Schmelzer kam zwar gut durch sein erstes Tuchel-Jahr, angesichts der Belastungen wird es aber wichtig sein, Pausen für ihn einstreuen zu können - dank Guerreiro könnte das ohne größeren Qualitätsverlust möglich sein.
Schmelzer, der als Vize-Kapitän hinter Reus gehandelt wird, sollte als einer der klaren Führungsspieler seinen Platz zunächst sicher haben. Guerreiro, immerhin 14 Millionen Euro teuer, wird sich mit ihm aber einen Kampf um die Stammelf liefern - und der 22-Jährige deutete das Potential an, diesen auch gewinnen zu können.
Hinter Durm, der auch auf der gegenüberliegenden Seite agieren kann, steht wie schon im Vorjahr ein dickes Fragezeichen. Ihn plagt erneut das linke Knie, womöglich ist auch diesmal eine Operation vonnöten. Mit dem Weltmeister wird erst einmal nicht zu rechnen sein.
Der perspektivlose Park wird den Verein noch verlassen, Allrounder Passlack hat diese Position auch schon bekleidet.
Rechtsverteidiger: Lukasz Piszczek, Matthias Ginter, Erik Durm, Felix Passlack
Piszczek eroberte sich im letzten Jahr nach anfänglichen Schwierigkeiten seinen Stammplatz zurück, spielte eine überzeugende Europameisterschaft und geht nach seiner Rückkehr aus dem Urlaub als Platzhirsch ins Rennen.
Ginters Chancen stehen deshalb aber nicht per se schlecht, in der vergangenen Rückrunde positionierte Tuchel seine Außenverteidiger jedoch tiefer als noch zum Saisonstart - das ausbalancierte Verhalten spräche auf dieser Position dann eher für den Polen.
Die Perspektiven von Passlack, der während der bisherigen Vorbereitung regelmäßig Spielanteile bekam, sehen auf der rechten Seite etwas besser aus als links. Passlacks "Problem": Zwar ist er noch sehr jung, seine große Variabilität bedingt aber, dass er noch nicht auf eine finale Hauptposition festgelegt ist. Dies wäre für ihn ein baldiger nächster Schritt, um dann dort seine weitere Entwicklung vorantreiben zu können.
spoxGrundsätzlich sind als Abwehrformationen alle Varianten von Dreier- über Vierer- bis Fünferkette denkbar, das zeigte bereits das Vorjahr. Tuchel hat sich noch nicht festgelegt, am Gerüst vom Ende der letzten Saison sollte sich aber nicht grundlegend etwas verändern.
Heißt: Bei eigenem Ballbesitz wird aus einer Dreierkette aufgebaut, die Außenverteidiger stehen hoch, im letzten Drittel tummeln sich fünf Spieler in einer Art 3-2-4-1.
Der Hybrid aus Dreier-, die bei gegnerischem Ballbesitz zu einer Fünferkette wird, bleibt ebenfalls aktuell - vielleicht jedoch mit einem höheren Linksfokus und dem Tandem Schmelzer/Guerreiro.
Bliebe alles so, wie es derzeit ist, scheint die Viererkette Schmelzer-Sokratis-Bartra-Piszczek für den Beginn die wahrscheinlichste Variante zu sein.
Defensives Mittelfeld: Julian Weigl, Sebastian Rode, Nuri Sahin, Mikel Merino, Gonzalo Castro, Mario Götze, Moritz Leitner, Matthias Ginter
Das Duo Gündogan/Weigl, der eine Achter, der andere auf der Sechs, ist gesprengt. Neuzugang Rode ist einer der Kandidaten, um Gündogans Platz einzunehmen, wenngleich der Ex-Bayer die defensivere Variante ist und einen geringeren Offensivdrang mitbringt. In den Testspielen zeigte Rode vielmehr starke Szenen im Gegenpressing.
Die höhere Achterposition käme daher vor allem für Castro in Frage, der sich im Laufe der Vorsaison immer unverzichtbarer machte und zum Start gesetzt sein dürfte. Castro ist derzeit Dortmunds Mini-Außenminister, sein Spanisch hilft den Kollegen Bartra und Merino, sich in der neuen Welt zurecht zu finden. Doch es ist auch ein kleiner Wink, dass Castro künftig eine noch verantwortungsvollere Rolle zuteil werden könnte.
Auch Rückkehrer Götze ist auf der Acht eine denkbare Alternative, um Bälle mit seiner Technik und seinen Drehungen ins vordere Drittel zu tragen.
Fest steht: Im gesamten Mittelfeld hat Tuchel große Auswahl, selbst jetzt, wo EM-Fahrer Weigl noch seinen Urlaub genießt und Sahin davon gerade erst zurückgekehrt ist. Sahin fehlte im Vorjahr lange verletzt, Tuchel hielt aber regelmäßig Lobeshymnen auf ihn. Für den türkischen Nationalspieler wird es ein Neustart, Sahin braucht nun dringend Konstanz.
Interessant wird auch Merinos Entwicklung zu beobachten sein, der für Tuchels Fußball die klassisch spanischen Tugenden wie präzises (Flach-)Pass- und Positionsspiel mitbringt und auf diesem Terrain vor der Abwehr auch zu Hause ist. Detail am Rande: Wie Sahin ist auch Merino ein Linksfuß.
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Nachdem hinten rechts für ihn kein Platz mehr war, lief Ginter häufiger im defensiven Mittelfeld auf und ist ebenso eine Alternative wie der lange unter dem Radar geflogene Leitner für die Acht.
Der 23-Jährige drängte sich Anfang 2016 nach seiner Versetzung in die zweite Mannschaft plötzlich wieder für die Profis auf, ihn hatte selbst Tuchel nicht mehr auf der Agenda. Nicht auszuschließen, dass Leitner auch in der neuen Saison für Überraschungen sorgt - der Weg wird aber steinig.
Offensives Mittelfeld: Marco Reus, Gonzalo Castro, Mario Götze, Andre Schürrle, Shinji Kagawa, Ousmane Dembele, Emre Mor, Christian Pulisic, Raphael Guerreiro, Moritz Leitner, Jakub Blaszczykowski, Felix Passlack
Hier schlummern viel Talent, Potential und Geschwindigkeit in Dortmunds Kader. Durch die ungewisse Rückkehr des verletzten Reus gab es eine Unwucht, die der BVB mit den Verpflichtungen von Mario Götze und Andre Schürrle begradigt hat.
Besonders Schürrle ist in Abwesenheit von Reus für die linke offensive Außenbahn prädestiniert. Götzes Stärken, der wie Schürrle auch rechts auflaufen kann, liegen vor allem im Zentrum - dort scheint ihn nach eigenem Befinden auch Tuchel zu sehen.
Dieses Gebiet hat Dortmund mit Götze, Kagawa, Schürrle, Castro und den Neueinkäufen Dembele und Mor extrem variabel abgedeckt.
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Dembele und Mor stehen überdies für die Außenbahnen zur Verfügung, gleiches gilt für Youngster Pulisic. Der US-Amerikaner, während des Sommers bei der Copa America aktiv, überzeugte in seinen zwölf Pflichtspieleinsätzen im Vorjahr mit Tempo, Technik sowie Unbekümmertheit und könnte noch näher an die erste Elf rücken.
Neben Pulisic wird Tuchel vor allem auch Dembele und Mor fördern, der Franzose bewies in den bisherigen Testspielen gleich eine gute Form und zeigte einige starke Ansätze. Anfangs kam Dembele meist über das Zentrum, Tuchel ließ ihm aber auch schon über beide Flügel ran. Der schwer ausrechenbare 19-Jährige besitzt trotz einiger gescheiterter Dribblings in riskanten Zonen gute Chancen, trotz der großen Konkurrenz gleich beim Pflichtspielstart in der Anfangsformation zu stehen.
Mor hat bei seinem Ex-Klub Nordsjaelland zwar auch schon im Sturm gespielt, sein explosiver Antritt und die Spielübersicht kommen in einer tieferen Position aber besser zur Geltung. Bei der EM hinterließ Mor in der phlegmatischen türkischen Truppe den vitalsten Eindruck, in Dortmund dürfte er zu Beginn eine gute Einwechseloption darstellen.
Rückkehrer Blaszczykowski schlägt nach Ende seines Florenz-Leihgeschäfts und Urlaubs wieder beim BVB auf, er wäre jedoch auf die rechte Mittelfeldseite beschränkt. Kuba würde dem Kader eine Portion internationale Erfahrung hinzufügen, doch es ist nicht davon auszugehen, dass er und Tuchel zusammenfinden werden.
"Bei uns ist niemand festgelegt, wir sind sehr variabel. Das sollte unsere große Stärke sein", sagt Sportdirektor Michael Zorc. Die kann jedoch nur zum Tragen kommen, wenn es Tuchel gelingt, eine gelungene Balance im Kader herzustellen und er mögliche Störfaktoren zu moderieren weiß.
Bei mehr als acht möglichen Spielern für drei, vier Positionen sind unzufriedene Bankdrücker nicht auszuschließen. Solche denkbaren Strömungen wird der BVB-Coach lenken müssen, um die Leistungsatmosphäre aufrecht zu erhalten.
Angriff: Pierre-Emerick Aubameyang, Adrian Ramos, Marco Reus, Mario Götze, Andre Schürrle, Ousmane Dembele, Emre Mor
Im Westen nichts Neues, die Hierarchie im Ein-Mann-Sturm bleibt dieselbe: An Aubameyang führt kein Weg vorbei, Ramos ist der Backup.
Der Kolumbianer fand sich nach einem öffentlichen Rüffel von Tuchel im Winter-Trainingslager in Dubai immer besser in dieser Rolle zurecht, sieben Treffer und drei Assists sprangen in der Bundesliga-Rückrunde für ihn heraus.
In den Vorbereitungsspielen ließ Tuchel auch schon beide zusammen ran. Einer kam dann klassisch über den Flügel, in manchen Szenen tummelten sich auch beide im Strafraum. Diese Variante war jedoch eher mangelnden Alternativen als einem wirklichen Gedankenspiel in diese Richtung geschuldet.
Die bloße Anzahl ist zwar nicht riesig, doch neben den beiden nominellen Angreifern sind Reus, Dembele, Mor, Götze und vor allem Schürrle weitere Kandidaten, um in der letzten Linie zu spielen - beispielsweise in einem auch in der letzten Spielzeit häufig erprobten 4-3-3.
Dortmunds Trainer ist nun gefordert, das neue Gebilde in seiner Gesamtheit zu testen und fürs Erste sinnvoll anzuordnen. Erst Anfang August stoßen mit Götze, Schürrle, Weigl, Piszczek, Guerreiro und Blaszczykowski die letzten urlaubenden Spieler zur Mannschaft.
"Thomas Tuchel muss jetzt erstmal die Aufgabe lösen, diese Spieler in eine harmonischen Formation zu kriegen", stellt Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke klar. "Es gibt Verständnisprobleme, die Spieler sprechen unterschiedliche Sprachen. Wir müssen uns erst einfinden. Man tauscht nicht einfach ein paar Spieler aus und schon läuft es. So einfach ist es nicht."
Dortmund hat viel Qualität in der Spitze verloren, das gilt auch für die mannschaftsinternen Abläufe. In der Breite ist Dortmund nun stärker aufgestellt, eine neue Hierarchie muss sich jedoch noch organisch herausbilden - und benötigt Zeit.