Nuri Sahin ist erst 27 Jahre alt, bei Borussia Dortmund aber bereits ein Urgestein. Nach seiner langen Verletzungspause greift der türkische Nationalspieler derzeit im Trainingslager in Bad Ragaz wieder beim BVB an. Im Interview spricht Sahin über Joo-Ho Parks Gesangseinlage, Christian Pulisic' Begegnung mit Lionel Messi, die Hilfe von Kaka, das besondere Talent von Emre Mor und seine Meinung zur Rückkehr von Mario Götze.
Frage: Herr Sahin, am Samstag vor elf Jahren sind Sie erstmals in der Bundesliga aufgelaufen und sind seitdem der jüngste Spieler aller Zeiten. Wie weit weg ist das für Sie heute?
Nuri Sahin: Das ist ja der Geburtstag von Roman Weidenfeller. Ich habe zu ihm schon häufig gesagt: Roman, deinen Geburtstag vergesse ich nie! (lacht) Es fühlt sich sehr weit weg an, am Jahrestag selbst erinnere ich mich aber immer wieder aufs Neue gerne daran. Was in diesen elf Jahren alles passiert ist und was ich währenddessen erlebt habe, damit könnte man drei Karrieren füllen. Oder ein Buch schreiben.
Frage: Am Sonntagabend hatten die Dortmunder Neuzugänge ihre Feuertaufe zu bestehen. In welchem Rahmen fand das statt?
Sahin: Wir haben ganz normal zu Abend gegessen. Die Älteren haben sich vorab Gedanken gemacht, wie wir das Programm für die Neuen aufteilen. Joo-Ho Park kam noch hinzu, da er bislang noch nicht diese Art von Einstand feierte. Wir wollten nicht, dass neun Leute hintereinander singen, das wäre langweilig gewesen. Sebastian Rode, Mario Götze und Marc Bartra haben die Köche gespielt und zwei andere mussten eine Rede halten, die auch jeweils ganz stark war. Der Rest musste singen. Was Joo-Ho aber in seiner Landessprache abgerissen hat, war schon ganz hohes Niveau und hat alles getoppt. (lacht)
Frage: Sie selbst sind derzeit auf der Suche nach Ihrem höchsten Niveau, nachdem Sie in der letzten Saison lange verletzt waren. Welche Erwartungen an sich haben Sie an die neue Spielzeit?
Sahin: Vor allem, komplett gesund durch die Spielzeit zu kommen. In den letzten drei Jahren war ich immer nur als Tourist hier im Trainingslager dabei. Diesmal bin ich ein vollwertiges Teammitglied, habe noch keine Einheit verpasst und gebe Gas. Das ist das erste Etappenziel, das ich erreichen wollte. Gerade im letzten Jahr war der Rhythmus immer von Reha, Training, Spiel und Regeneration geprägt, so dass ich nie sagen konnte, jetzt wieder richtig anzugreifen. Der Rest ergibt sich dann für gewöhnlich von selbst.
Frage: Auf welchem Level befinden Sie sich aktuell?
Sahin: Ich habe gerade erst mit unserem Physiotherapeuten Peter Kuhnt gesprochen. Er meinte, es sähe doch ganz ordentlich bei mir aus. Das werte ich mal als gutes Zeichen. (lacht) Mir geht es richtig gut, denn ich wusste nicht, wie sich die Vorbereitung genau anfühlen wird und wie weit ich tatsächlich schon bin. Es hat noch nirgends gezwickt. Ich muss meinen Körper aber vor und nach dem Mannschaftstraining pflegen, da ich beinahe zwei Jahre raus war. Deshalb darf ich mich nicht selbst anlügen und denken, es würde von alleine gehen.
Frage: Der BVB hat einen an vielen Stellen erneuerten Kader beisammen, dem auffällig viele Mittelfeldspieler angehören. Es wird also zweifelsohne auch Härtefälle geben.
Sahin: Dass wir breit aufgestellt sind und keinen Qualitätsverlust haben, ist ja auch so gewollt. Jeder Spieler muss es dem Trainer so schwer wie möglich machen. Alles andere liegt dann nicht in unserer Hand. Es findet bei uns gerade ein Umbruch statt. Deshalb ist jeder aufgefordert, seinen Teil beizutragen, damit uns der Umbruch gelingt. Das geht einfach nur über Leistung und über das Verhalten auf und außerhalb des Platzes.
Frage: Kam dieser Umbruch für Sie überraschend?
Sahin: Wir haben immer mal wieder etwas mitbekommen. Jetzt sind viele junge, aber auch einige gestandene Spieler hinzugekommen, die allesamt wirklich viel Qualität mitbringen. Ich habe das vorhin erst am eigenen Leibe im Training erfahren müssen, wo ich als Teil der defensiven Mannschaft gegen die Offensiven gespielt habe. Im Eins-gegen-eins oder was das Tempo angeht haben wir viel an Fantasie zugelegt. Wir müssen das aber alles erst einmal vernünftig aufs Feld bekommen. Da sind auch wir Erfahrenen gefragt, damit das gelingt.
Frage: Sehen Sie sich gerade für die jungen Spieler als Ansprechpartner, da Sie ja einen sehr ähnlichen Weg gegangen sind? spox
Sahin: Natürlich. Das beste Beispiel ist Christian Pulisic: Seinen Weg habe ich beinahe Eins-zu-eins auch erlebt. Man kommt ohne Erwartungen zu den Profis, steht auf einmal im Kader, spielt dann plötzlich, wird in die Nationalelf eingeladen, bei der Copa America saß er dann neben Lionel Messi bei der Dopingprobe. Das geht alles so dermaßen schnell. Ich weiß gut, wie schwer es ist, solche Dinge richtig einzuordnen und kann aus Erfahrung sprechen. Daher biete ich meine Hilfe sehr gerne an.
Frage: Wie war das damals bei Ihnen, wer waren Ihre wichtigsten Ratgeber?
Sahin: Ich hatte das Glück, dass mir mit Dede und Tomas Rosicky zwei Jungs geholfen haben, die mir auch bis heute noch helfen. Ich kann sie jederzeit anrufen und hatte erst vor einem Tag noch ein Telefonat mit Tomas. Marc Bartra hat beispielsweise ein kleines Kind und suchte einen Babysitter, ich habe dann unsere beiden Ehefrauen zusammengebracht. Ich weiß noch wie heute, als ich damals bei Real Madrid angekommen bin: Kaka kam zu mir und meinte, meine Frau solle doch mit seiner Frau Kontakt aufnehmen. Es war für mich sehr beachtlich, dass ein Weltfußballer wie er, der schon alles gewonnen hat, sich um einen unbekannten 22-Jährigen kümmert. Davon habe ich mir eine Scheibe abgeschnitten.
Frage: Einer dieser jungen Spieler und Kollege in der türkischen Nationalmannschaft ist Emre Mor. Er wurde schon als die Blume des türkischen Fußballs bezeichnet. Was macht ihn in Ihren Augen so besonders?
Sahin: Er tut sehr unerwartete Dinge, hat gerade auch aus dem Stand ein extremes Tempo, ist stark im Eins-gegen-eins und spielt grundsätzlich einfach frech auf. Er hat etwas in seinem Spiel, das nicht viele Fußballer haben. Emre ist definitiv ein besonderes Talent. Als ich ihn bei der Nationalmannschaft das erste Mal gesehen habe, war ich wirklich beeindruckt.
Frage: Kann er mit diesen unerwarteten Dingen auch mal seine eigenen Mitspieler überraschen, wenn die nicht wissen, was er mit dem Ball genau vor hat?
Sahin: Im letzten Drittel kann er das gerne machen. (lacht) Ich habe einen sehr guten Draht zu ihm und seiner Familie, wir helfen ihm alle so gut es geht. Er hat einen langen Weg vor sich und muss noch einiges lernen. Wenn er ihn aber weitergeht, hat er eine große Zukunft vor sich.
Frage: Werden derzeit eigentlich neue Abläufe und Inhalte trainiert oder baut der Trainer auf dem Gerüst des Vorjahres auf?
Sahin: Die Philosophie von Thomas Tuchel ist grundsätzlich dieselbe geblieben und uns mittlerweile auch sehr gut bekannt. Die Neuen müssen jetzt mit unserer Hilfe zusehen, dass sie diese Abläufe verinnerlichen. Ich würde sagen, da befinden wir uns für den aktuellen Stand auf einem guten Weg.
Frage: Die erste echte Prüfung findet bereits am kommenden Sonntag statt, wenn die Borussia im Supercup den FC Bayern empfängt. Ist das nur ein Test auf hohem Niveau oder deutlich mehr?
Sahin: Es geht in diesem einen Spiel um einen Titel, mit dem man sich belohnen kann. Es gibt in Deutschland und wohl auch weltweit keinen schwereren und besseren Gegner als Bayern München. Deshalb ist das zugleich ein sehr guter Test. Wir werden nicht den Fehler machen, es in Anführungszeichen nur als Testspiel zu sehen. So werden das auch die Bayern nicht angehen. Wir nehmen das Spiel sehr ernst.
Frage: Auf Bayern-Seite wird Mats Hummels in den Signal Iduna Park zurückkehren, beim BVB ist es besonders für Mario Götze ein brisantes Spiel. In diesen Tagen wirkt er, als habe er sich wieder ganz normal in die Gruppe eingegliedert, so als sei er nie weg gewesen. Wie nehmen Sie ihn wahr?
Sahin: Was den Kontakt und die Freundschaft angeht, war er ja auch nie weg. Ich kenne Mario, seit er mit 15 oder 16 das erste Mal bei uns dabei war. Er freut sich jetzt, dass er sich wieder nur auf den Fußball konzentrieren kann. Wir mussten ihn oder Andre Schürrle jetzt nicht besonders an die Hand nehmen und ihm alles erklären. Mario ist, wie er ist und hat auch von sich auch wieder den Kontakt gesucht. Dieses Drumherum regelt er meiner Meinung nach ganz gut.
Frage: Der Rummel um ihn hat seit Jahren gigantische Ausmaße angenommen. Glauben Sie, das könnte sich in Dortmund langfristig auf Normalmaß einpendeln?
Sahin: Nein, das wird nie abnehmen. Der Name Mario Götze wird im Fußball immer etwas Besonderes sein. Das ist ganz einfach so, wirkliche Ruhe wird da nie einkehren. Wir sind alle gute Fußballer, aber es gibt Spieler, die ihre gesamte Karriere über extrem im Fokus stehen. Mario kennt das gar nicht anders. Ich werde nie vergessen, welche grandiosen Dinge er im ersten Profi-Training unter Jürgen Klopp getan hat. Da habe ich sofort gesagt: Der muss am Wochenende spielen! So extrem gut war das. Und wenn wir als Mitspieler schon so etwas gedacht haben, dann war es unvermeidlich, dass dieser Hype um ihn aufkam.
Frage: Zumal er mit seinem Wechsel von Dortmund nach München und dem Siegtreffer bei der WM 2014 auch schon viele Aufs und Abs in kurzer Zeit erlebt hat.
Sahin: Das ist ja das Verrückte. Was alles auf ihn schon eingeprasselt ist, obwohl er erst 24 ist - Wahnsinn. Ich will nicht wissen, was passiert wäre, wenn ein anderer dieses Tor geschossen hätte. Der wäre längst unantastbar und unsterblich. Dass man Mario in der Öffentlichkeit immer noch so gnadenlos beurteilt, dieser Umgang mit ihm, das tut mir manchmal echt weh. Er war häufig lange verletzt, seine Quoten in Sachen Toren und Vorlagen waren aber trotzdem immer sehr ordentlich - selbst im letzten Jahr. Die Erwartungen an ihn sind und waren einfach so hoch, dass man jede seiner Aktionen doppelt und dreifach bewertet.