Diagnose Defensivproblem

Von Tristan Ebertshäuser
Dortmund hat hinten Probleme - woran liegt's?
© getty

Torrekord in der Champions League, Schützenfeste, fulminante Reus-Rückkehr. Borussia Dortmunds Offensive scheint trotz Umbruch im Sommer auf Hochtouren zu laufen. In der Defensive wackelt's dagegen regelmäßig beim BVB. Gilt auch heute gegen Hoffenheim (20.15 Uhr im LIVETICKER): vorne hui, hinten pfui? Ganz so einfach ist es nicht.

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Dortmunds Offensive steht super da, und das trotz ständiger Verletzungssorgen und vieler neuer Spieler, die zum Teil noch jung und unerfahren sind.

Gerade erst hat der BVB mit 21 Treffern eindrucksvoll den Torrekord in der Champions-League-Gruppenphase geknackt und auch in der Bundesliga stehen nach 14 Spieltagen bereits 32 Tore zu Buche - der zweitbeste Wert nach Tabellenführer Bayern. Unter dem Strich steht aber nur Platz sechs in der Tabelle - und die lügt bekanntlich nicht.

In regelmäßigen Abständen lassen die Schwarz-Gelben Punkte liegen - besonders bitter, wenn man es wie beim 1:1 gegen Köln am vergangenen Wochenende zum wiederholten Mal nicht ausnutzen kann, dass die direkte Konkurrenz um die internationalen Plätze selbst Federn lässt.

Es drängt sich der Eindruck auf, dass Dortmunds Problem ein Defensivproblem ist. Dafür sprechen nicht zuletzt die Ergebnisse der Spiele, in denen der BVB selbst viele Tore schoss. Man kann sich schon fragen, wie man gegen ein Ingolstadt in der Form dieser Saison drei Tore, gegen Hamburg zwei oder gegen ein desolates Warschau sogar vier bekommen kann.

Kein festes Defensivgerüst

Hinten wackelt's. Es fehlt die Stabilität. 16 Bundesliga-Gegentore sind die meisten der ersten sieben Klubs im Tableau. In manchen Spielen kommt es einem so vor, als könne der Gegner bei fast jedem Ballgewinn im Mittelfeld Mann gegen Mann auf die BVB-Abwehrkette zulaufen. Bei gefühlt allen gegnerischen Kontern hält der Borussen-Anhang die Luft an, weil er ahnt: Es wird brandgefährlich.

Beim Blick aufs Personal fällt auf, dass Thomas Tuchel noch kein festes Defensivgerüst gefunden hat. Nur einmal sah die Verteidigung genauso aus wie am Spieltag zuvor, und das auch nur, wenn man bei der flexiblen Dreier- bzw. Fünferkette die Außen Schmelzer und Piszczek zum Mittelfeld rechnet.

Sokratis spielt die wahrscheinlich beste Saison seines Lebens, Piszczek hat sein altes Niveau wieder erreicht und gerade im Spielaufbau hat der Routinier zuletzt sogar nochmal deutlich zugelegt. Bei Schmelzer, Ginter und Bartra dagegen wechseln sich Licht und Schatten schon eher ab - vor allem im Kerngeschäft Verteidigen. Allerdings befinden sich auch hier die individuellen Formschwankungen völlig im Bereich des Normalen. Woran liegt's also?

Spiel nach vorne: Bumerang nach hinten

Dortmunds Spiel krankt weniger an einzelnen Gliedern, die einfach ersetzt werden könnten, sondern am Zusammenspiel des gesamten Organismus. Die Ursache der Instabilität ist wie so oft eine gesamtmannschaftliche.

Hat der BVB in der letzten Saison noch wie eine Maschine von hinten heraus den Ball zirkulieren lassen und sich den Gegner vor wohlüberlegten Vorstößen zurechtgelegt, häufen sich in dieser Spielzeit leichtfertige Ballverluste im Aufbau, Fehlpässe und Hektik bei aggressivem Pressing von Mannschaften wie Leverkusen oder Frankfurt.

So macht man sich das Leben oft selbst schwer. Dortmund spielt zwar nach wie vor sehr dominant, doch die Ruhe und Souveränität der vergangenen Saison scheint bisweilen verloren gegangen zu sein. Das Spiel nach vorne wird dann zum Bumerang nach hinten.

Das Fehlen von Abstimmung, Aufmerksamkeit und gegenseitiger Absicherung rächt sich gnadenlos wie zum Beispiel beim 0:1 von Real Madrid kürzlich, als niemand sich für den riesigen Raum hinter Schmelzer zuständig fühlte, der im Pressing herausgerückt war.

Standards tun weh, Rückstand ist tödlich

Ein weiteres Problem sind ruhende Bälle. Ein Viertel der Bundesliga-Gegentore resultierte aus Standards. Die drei Freistöße, die zu Gegentoren führten - zwei gegen Ingolstadt, einer gegen Köln - wurden alle aus der exakt selben Position in den Sechzehner geschlagen: dem rechten Halbfeld.

Zusammen mit der Ecke zum 1:0 von Leverkusen kostete das allein sieben Punkte - denn: Rückstand ist tödlich! Nach einer 1:0-Führung gewann man in der Bundesliga alle sechs Spiele, von den sieben, in denen man in Rückstand geriet, gerade mal eines: beim 4:1 gegen äußerst zahme Gladbacher Fohlen.

Die Diagnose Defensivproblem ist zwar richtig, die Ursache kann aber nicht eindimensional der Abwehr in die Schuhe geschoben werden. Sie ist psychologischer Natur und betrifft alle Mannschaftsteile und vor allem die Balance zwischen diesen: Hektik im Spielaufbau und fehlende Klarheit in der Positionierung und den Aktionen nach vorne bringen die Abwehr in Bedrängnis. Wenn man dann erst mal hinten liegt, kommt auch die vielgelobte Offensive ins Stottern.

Ging der BVB in Führung, erzielte er durchschnittlich 3,7 Tore pro Spiel, lag er 0:1 hinten, gelangen dagegen nur 1,4 Tore.

Tuchels Reaktion

Tuchel hat die Probleme durchaus erkannt. Nachdem er zu Beginn der Saison fast ausschließlich auf ein 4-1-4-1 gesetzt hat, versuchte er der Mannschaft zuletzt durch die Dreierkette mehr Sicherheit zu geben.

Dennoch schafften es die Borussen gegen Köln wie auch schon gegen Frankfurt und in anderen Spielen nicht, sich in der gewohnten Regelmäßigkeit so viele Großchancen herauszuspielen, dass man am Ende ein Tor mehr auf der Anzeigetafel hatte als der Gegner.

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Was Tuchel sich daher am dringendsten wünscht, ist verständlich: "Die Mannschaft bräuchte eigentlich mehr Training, das ist aber schwierig. Wir haben kaum Zeit", sagte er vor dem Remis gegen Köln.

Kommt Toprak doch schon früher?

Bis zur Winterpause muss der BVB-Trainer nun mit der Zeit auskommen, die er hat. Gegen Hoffenheim und Augsburg müssen idealerweise sechs Punkte her, wenn man sich nicht endgültig hinten anstellen will im Rennen um die Champions-League-Plätze.

Ob die Vereinsführung der Schwarz-Gelben dann allein auf die positive Wirkung von Zeit, ausgedehnten Trainingseinheiten und der langerwarteten Rückkehr von Sven Bender setzen wird oder ob man vielleicht einen weiteren Versuch startet, den Wunschverteidiger der letzten Transferperiode, Leverkusens Ömer Toprak, zu verpflichten, bleibt abzuwarten.

Im Sommer 2017 bekäme Leverkusen dank Ausstiegsklausel nur noch zwölf Millionen für den türkischen Nationalspieler.

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