Prozess im Innern

Thomas Tuchel durchlebte als Trainer von Borussia Dortmund zuletzt auch unruhige Zeiten
© getty

Die Bundesliga-Saison von Borussia Dortmund verläuft bislang holprig. Dies hatte der Klub im Sommer auch für möglich gehalten. An Thomas Tuchel entzündeten sich während der Hinrunde jedoch einige Debatten. Wie für den BVB ist auch für den Trainer eine Zeit des Umbruchs im Gange.

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Kürzlich hat Pep Guardiola zum Telefonhörer gegriffen und seinen Kumpel Thomas Tuchel angerufen. Dortmunds Trainer wurde davon überrascht, wie intensiv Guardiola bei diesem Anruf vom Fleck weg auf ihn einredete. Es sei sehr schwer gewesen, seinen Gedanken zu folgen, verriet Tuchel in einem auf erstaunlich einwandfreiem Englisch geführten Interview mit ESPN.

Es erscheint schlüssig, dass sich die beiden nicht nur dann austauschen, wenn sie sich irgendwo zufällig über den Weg laufen. Den ehemaligen Coach der Bayern und seinen deutschen Bewunderer verbindet aktuell nämlich einiges.

Guardiola befindet sich bei Manchester City mitten in einer der größten Herausforderungen seiner Trainerlaufbahn. Der Spanier muss mit einer neuen Mannschaft arbeiten, sie nach seinen Vorstellungen formen und sich dazu noch an eine neue Liga gewöhnen. Das bereitet ihm größere Schwierigkeiten als angenommen, zumal der Start der Citizens noch grandios verlief.

Neue Dimensionen für Tuchel

Tuchel ergeht es in dieser Saison bei Borussia Dortmund sehr ähnlich. Die Auswirkungen des personellen Umbruchs sind noch längst nicht verhallt und wie bei Guardiola fand auch Tuchels BVB sehr gut in die Spielzeit.

Die neue Liga, das stellen für Tuchel in erster Linie die Dimensionen eines Vereins der Strahlkraft der Borussia dar. Das gilt gleich in mehrfacher Hinsicht: wirtschaftlich, medial oder bezogen auf Anspruch und Außenwirkung.

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Während die Auftritte in der Champions League tadellos vonstattengingen, hat man sich bei den Dortmunder Vereinsoberen darauf geeinigt, dem Geschehen in der Bundesliga "vier bis fünf Punkte" (Sportdirektor Michael Zorc/Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke) hinterher zu hinken.

Tuchels Charakter im Fokus

Es liegt trotzdem ein diffuses Gefühl der Unzufriedenheit in der Luft - und das berührte auch immer wieder die Arbeit von Tuchel, der im Verlaufe der Hinrunde gleich mehrere Male im Blickpunkt stand.

Tuchels Bilanz beim BVB liest sich zunächst einmal weiter hervorragend. Mit nur zwölf Niederlagen in 81 Pflichtspielen (bei 204 Toren) und einem Punkteschnitt von 2,16 ist er der erfolgreichste Trainer der Vereinsgeschichte. Doch wie zu Guardiolas Zeit in München entzünden sich bei Tuchel die Diskussionen nicht an seiner Fachkompetenz, sondern am vermeintlich eigenwilligen Charakter.

Tuchel gilt als schlechter Verlierer, als verkopft und stur. Er wird häufig auf den humor- und empathielosen Taktik-Tüftler reduziert. Tuchel erscheint nicht wenigen im Dortmunder Umfeld als zu wenig emotional und nicht echt genug, womit er gewissermaßen konträr zum in der Ära von Vorgänger Jürgen Klopp formulierten Markenversprechen des Klubs steht.

Klopp ist Geschichte

Tuchel wird auch medial wie unter den Anhängern vielen Vergleichen mit Klopp unterzogen. Dies mutet bisweilen durchaus befremdlich an. Ottmar Hitzfeld beispielsweise wird in Dortmund aufgrund seiner Erfolge in den 1990er Jahren bis heute als Trainergott gefeiert, trat aber nie als emotionaler Vulkan wie Klopp auf.

Es dient in der Gegenwart kaum einem sinnvollen Zweck, sich an solchen Vergleichen abzuarbeiten. Klopp ist endgültig Geschichte, das unter ihm geschriebene Märchen passe. Es ginge an der Realität im Profifußball vorbei, würde man in Dortmund darüber zu diskutieren meinen, ob der Trainer des BVB zunächst nicht lieber besonders emotional und erst im zweiten Schritt inhaltlich überzeugend sein sollte.

Das Bild von Tuchel ist weiterhin jenes, das bereits zu seiner Zeit beim 1. FSV Mainz 05 gezeichnet wurde. Der 43-Jährige ist niemand, der von seinen Prinzipien abrückt. Das bewies allein schon die Episode um Chefscout Sven Mislintat, mit dem sich Tuchel vor einem Jahr wegen des gescheiterten Transfers von Oliver Torres überwarf. Seitdem herrscht Eiszeit zwischen den beiden, obwohl Mislintat zusammen mit Sportdirektor Michael Zorc die gute Transferpolitik der letzten Jahre verantwortet.

Perfektion statt Emotionalität

Es ist zudem nicht so, als wäre sich Tuchel seiner Charaktereigenschaften und deren Außenwirkung nicht bewusst. Er weiß, dass er als Fußball-Intellektueller durchgeht. Daran stört er sich auch nicht. Da stört ihn viel eher, dass ein Fußball-Intellektueller offenbar kritischer beäugt wird als handelsüblichere Vertreter dieser Branche.

Tuchel ist verliebt in die Details seiner Arbeit und deren Wirkungsweise. Er befindet sich noch am Anfang seiner Trainerkarriere und innerhalb einer intensiven Lernphase. Auch für ihn standen beim BVB beispielsweise die ersten Europapokalpartien an. Mehrfach schon erzählte Tuchel auf Pressekonferenzen mit leuchtenden Augen Anekdoten aus seiner Jugend über die kommenden internationalen Gegner.

Es würde nicht überraschen, sollte Tuchel eine Art Plan im Kopf haben, wie es für ihn als Trainer kurz- und langfristig weitergehen könne. Er dürstet nach inhaltlicher Weiterentwicklung, nach neuen Einflüssen und Impulsen und womöglich auch der Auseinandersetzung mit neuen Fußballstilen. Dies lehnt sich stark an Guardiolas Vita und Denkweise an. Überspitzt formuliert jagt Tuchel viel eher der Perfektion im Fußball hinterher als einer lang anhaltenden emotionalen Bindung an einen Klub.

Tuchel und die Debatten

In dieser Saison in Dortmund lernt Tuchel neue Seiten seiner Arbeit kennen. Manche davon haben ihn sicherlich überrascht, manche trat er jedoch selbst los. Die öffentliche Kritik am scheidenden Mats Hummels im Anschluss an das vergangene DFB-Pokalfinale, die Diskussion um Foulspiele gegen sein Team, zuletzt die schwelende Frage nach dem Kapitänsamt - all dies mag teils zu sehr überhöht worden sein, doch Tuchel kann diese Debatten nicht ausschließlich auf eine fragwürdige mediale Verwertung schieben.

Sein Umgang mit solchen Widrigkeiten mag weder populär, noch analog zur üblichen Verfahrensweise sein. Es ist ihm jedoch nicht vorzuwerfen, sie nicht richtig einordnen zu können. Tuchels Analysen sind stets ausführlich und klar, er legt seine Sichtweise glaubwürdig wie authentisch dar. Dass er seine mediale Erscheinung grundsätzlich auf Sparflamme hält, hat weniger damit zu tun, er würde seine Ansichten nur ungern öffentlich teilen. Tuchel sieht eher eine Gefahr darin, unbeabsichtigt Schlagzeilen zu produzieren, die ihn möglicherweise wochenlang begleiten.

So tobt in Dortmunds Coach derzeit ein Prozess im Innern. Seine Aussagen haben nun eine Tragweite, die nicht mehr wie noch in Mainz lediglich regional für Aufmerksamkeit sorgen.

Er moderiert nun einen Umbruch unter diffizilen Bedingungen und hoher Spielbelastung an. Auf diesem Weg sah er sich zwischenzeitlich mit seiner Mannschaft schon weiter, als sie letztlich war und ist. Es wird eine Aufgabe für ihn, dies für sich vernünftig zu kanalisieren. Erst Recht, wenn man wie Tuchel schnell zur Ungeduld neigt.

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