Am 31. Mai letzten Jahres betritt Joachim Löw das Podest des Presseraums der Nationalmannschaft in Ascona. Die endgültige Bekanntgabe des EM-Kaders steht an und der Bundestrainer spricht für vier seiner Spieler die verhängnisvollen Worte:
"Es werden jetzt nach Hause gehen: Julian Brandt, dann Karim Bellerabi, Sebastian Rudy und Marco Reus. Ich danke diesen Spielern, weil sie sich im Training voll reingehängt haben. Ich hoffe wirklich, dass sie diese Enttäuschung gut wegstecken und es als Motivationsschub für die Zukunft sehen."
Während Deutschland einmal mehr über das Verletzungspech von Marco Reus debattiert, beginnen abseits der medialen Aufmerksamkeit bittere Wochen für Sebastian Rudy. Obwohl der Hoffenheimer als einer der wenigen Nationalspieler für jedes Länderspiel seit der Weltmeisterschaft nominiert wurde und als ernsthafter Kandidat für den Posten des Rechtsverteidigers gehandelt wurde, ist sein Traum von der EM jäh geplatzt.
Jetzt erst recht zum Rekordjahr
Die Worte des Bundestrainers hörten sich für viele damals nach dem üblichen PK-Geplänkel an, doch für Rudy haben sie in gewisser Weise Signalwirkung. "Die Nichtnominierung in den EM-Kader löste ein Jetzt-erst-recht-Gefühl in mir aus. Das ist sicherlich auch ein Schlüssel für meine gute Saison bisher", erinnert er sich.
Rudy nimmt Löws Ansagen zum Ansporn für die bis dato beste Saison seiner Karriere. Der 27-Jährige zieht im defensiven Mittelfeld seiner Hoffenheimer die Fäden und ist einer der Hauptgründe für die überraschend starke Saison der TSG. Zwei Tore, fünf Vorlagen und dazu zwei herausgeholte Elfmeter stehen bereits auf seinem Statistikbogen.
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Er ist auf dem besten Weg, seinen Rekord von neun Torbeteiligungen in einer Saison zu brechen. Doch Rudy zeichnet deutlich mehr aus als seine Torbeteiligungen. Der Nationalspieler hat sich seit Beginn der neuen Saison in nahezu allen relevanten Bereichen seines Spiels verbessert.
Stabile Haltung gleich guter Zweikampf
Rudy gewinnt in dieser Saison 54 Prozent seiner Zweikämpfe am Boden. Als alleiniger Sechser vor Hoffenheims Dreierkette entscheidet er im Vergleich zu den letzten beiden Spielzeiten immerhin vier bis sechs Prozent mehr Zweikämpfe zu seinen Gunsten.
Sein Erfolgsrezept klingt dabei simpel wie einleuchtend: "Ich will nicht breiter werden. Ich versuche vielmehr stabil zu sein, um geschickt in die Zweikämpfe gehen zu können und diese auch ohne Körperkontakt zu gewinnen."
Erfolgsfaktor Nagelsmann
Großen Anteil an Rudys Werdegang hat der Wechsel auf der Trainerposition. Unter Markus Gisdol wurde er zwischen den Positionen hin- und hergeschoben: Der heutige HSV-Coach stellte Rudy in 70 Spielen auch zehnmal als Rechtsverteidiger und 13 Mal im linken oder rechten Mittelfeld auf. Diese Polyvalenz brachte Rudy zwar letztendlich in die Nationalmannschaft, verhinderte aber eine Leistungsexplosion zum absoluten Leader.
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Bei Nagelsmann ist Rudy vom ersten Tag an in der Startformation gesetzt und hat mit Ausnahme von Sperren und Verletzungen jedes Spiel von Anfang an bestritten. Auf der Position des Rechtsverteidigers musste er in 32 Spielen nur zweimal ran. Seit der Umstellung auf eine Dreierkette hat er im zentral defensiven Mittelfeld eine feste Heimat gefunden.
Rudy ist für die Innenverteidiger oft die erste Anspielstation im Mittelfeld und gehört in puncto Torschussvorlagen zu den Top 3 auf seiner Position. Dabei hat er auch seine Passquote von 80 Prozent nochmals deutlich gesteigert und verzeichnet im Schnitt mindestens sieben Ballaktionen mehr als in den vergangenen beiden Jahren.
Auch dank der Leistungssteigerung des ehemaligen Stuttgarters hat sich Hoffenheim von der viertschlechtesten zur zweitbesten Defensive hinter den übermächtigen Bayern entwickelt.
Rudy findet "Entscheider-Gen"
Weil Kapitän Eugen Polanski vermehrt auf der Bank sitzt, schickt Nagelsmann Rudy sogar als Spielführer auf das Feld. "Er weiß, wie er mich einsetzen muss, ich spüre das Vertrauen und das will ich zurückzahlen", sagte Rudy. "Julian ist ein prägender Trainer für mich. Seine Ideen und seine Vorbereitungen auf die Spiele haben von Anfang an funktioniert."
Sein Trainer gibt das Lob umgehend zurück: "Sebastian findet immer mehr sein Entscheider-Gen. Er hat gemerkt, dass er Spiele nicht nur ballsicher lenken und gestalten, sondern sie auch entscheiden kann."
Wendepunkt in München?
Rudy geht voran - mit Leistung und selten auffälligen Anführerqualitäten. "Ich bin keiner, der auf dem Platz rumschreit, aber einer, auf den man sich verlassen kann, der versucht, immer anspielbereit zu sein", sagte Rudy über sich selbst.
Seine kontinuierliche Entwicklung als Spieler und Persönlichkeit führt Rudy im Sommer bekanntlich zum FC Bayern. Nicht wenige erinnert der Wechsel an den Fall von Sebastian Rode. Auch der Dortmunder war ablösefrei und glänzte durch vielseitige Einsatzmöglichkeiten, scheiterte in seinem zweiten Jahr aber an der großen Konkurrenz.
Rudy selbst will davon nichts wissen: "Ich denke, dass noch viel mehr in mir steckt. Ich würde den Schritt ja nicht wagen, wenn ich nicht davon überzeugt wäre, mich durchzusetzen." Gut möglich, dass er zum Zeitpunkt dieser Aussagen bereits von den Plänen von Philipp Lahm und Xabi Alonso wusste.
Wird Vielseitigkeit zum Nachteil?
Auch wenn weitere Transfers beim Rekordmeister sicherlich nicht auszuschließen sind, werden zur kommenden Saison wieder Plätze in Carlo Ancelottis Rotation frei. Gerade jetzt, wo sich Rudy auf einer Position einspielen und steigern konnte, ist es jedoch möglich, dass ihm seine Polyvalenz in München wieder zur Bremse in seiner Entwicklung wird. Rode und Joshua Kimmich können derzeit ein Lied davon singen.
Dafür hat der Status als FCB-Spieler im Kampf um die Nationalmannschaft selten geschadet. In der Nationalelf wurde Rudy gerade aufgrund seiner Vielseitigkeit bislang meist als Rechtsverteidiger eingesetzt, dabei hat er diese Position in sieben Jahren bei der TSG aber nur 13 Mal gespielt. Das könnte sich in der kommenden Saison beim Rekordmeister durchaus ändern.
Sebastian Rudy im Steckbrief