"Bitte nicht schon wieder."
Mit diesem Gedanken reagierten viele Bremer Fans, als die Werder-Aufstellung vor dem Spiel gegen RB Leipzig durchgesickert war: Cheftrainer Alexander Nouri würde wieder eine Dreierkette auf den Rasen schicken.
Rückblick: Nach dem katastrophalen Start ins Jahr 2017 stand ein Schlüsselduell in Augsburg auf dem Programm. Werder ging zweimal in Führung, konnte daraus aber überhaupt keine Stabilität generieren. In einem dramatischen Finish siegte der FCA 3:2, wobei zwei Gegentore auf die Kappe von Ulisses Garcia gingen - der linke Verteidiger in Nouris Dreierkette.
Eine Woche später beim 0:1 in Gladbach das gleiche Bild: Eigentlich ließ Bremen wenig zu. Doch aus einer Umschaltsituation heraus erzielten die Fohlen das einzige Tor des Abends - über Werders entblößte linke Seite des defensiven Dreierverbunds.
Weg mit der Dreierkette?
Nouri reagierte in den folgenden Wochen und stellte auf ein 4-4-2 um. Gegen Mainz, Darmstadt und Wolfsburg erkämpfte sich Werder drei Siege in Folge, auch beim 1:1 in Leverkusen wäre mehr drin gewesen. Im Duell gegen Bayer konnten die Zuschauer phasenweise wieder eine Dreierkette erahnen, was allerdings kaum ins Gewicht fiel, da Leverkusen kaum bis gar keine Gefahr ausstrahlte.
Eine Woche später hatte der SVW mit den Bullen eine der anspruchsvollsten Herausforderungen der Bundesliga vor der Brust. Diese Umschaltmaschine, die jeden Fehler im Spielaufbau gnadenlos bestraft. Vor allem, so dachte man, gegen eine bei Ballverlusten extrem anfällige Dreierkette. Und Nouris Lineup machte deutlich, dass der Coach keineswegs von seiner Formation abweichen würde. "Bitte nicht schon wieder."
Knapp zwei Stunden später: Auch 20 Minuten nach dem Abpfiff gleicht das Weserstadion noch einem Tollhaus. Kein Fan kommt auf die Idee, den Heimweg anzutreten. Auf der Anzeigetafel prangt ein 3:0 für die Hausherren. Auf dem Rasen bilden die Grün-Weißen einen Spielerkreis mit Nouri in der Mitte. Minutenlang redet er auf sein Team ein - mit Tränen in den Augen. Irgendwann kann er nicht mehr und muss von Claudio Pizarro in den Arm genommen werden.
Bloß nicht durchdrehen
Das dicke Ausrufezeichen gegen RB war der Höhepunkt des beeindruckenden Werder-Laufs. Aus den letzten sieben Spielen nahmen die Bremer 19 Punkte mit, da können nicht einmal die übermächtigen Bayern mithalten. Plötzlich hört man aus einigen Reihen vorsichtig das Wort "Europa" flüstern. Verständlich, richtet man den Blick nach oben, ist Werder doch fleißig geklettert und liegt nur noch fünf Punkte hinter Platz sechs. Unverständlich, richtet man den den Blick nach unten, denn der Vorsprung auf den Relegationsplatz beträgt weiterhin nur sechs Zähler.
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"Wir dürfen nicht durchdrehen", mahnt Nouri deshalb zur Ruhe. "Wir müssen weiter an uns arbeiten und auch im nächsten Spiel bis ans Limit gehen, um zu bestehen." Für diese Aussagen müsste er zwar eigentlich ein Monatsgehalt ins Phrasenschwein stopfen, doch in einem Abstiegskampf, an dessen Ende die magischen 40 Punkte plötzlich doch nicht so magisch sein könnten, sind sie schlichtweg richtig.
Doch wenn Werder an die Leistungen in den vergangenen Partien anknüpfen kann, brennt nichts mehr an. Während das Team in den ersten 20 Spielen noch 2,1 Tore pro Match kassierte, waren es in den vergangenen sieben Spielen nur 0,57. Aber warum lässt Werder plötzlich so wenig zu?
Bremen hat die Ruhe weg
Der Defensivverbund, der sich bei gegnerischem Ballbesitz in eine Fünferkette verwandelt, tritt kompakt und diszipliniert auf. Räume werden zugestellt, Spielgestalter von den tiefen Sechsern früh angelaufen. Die Gegner - zuletzt besonders bei Schalke zu beobachten - verlieren die Geduld und flüchten sich am Ende von wenig ertragreichen Passstafetten oft in Verzweiflungsaktionen.
Während die anlaufenden Kontrahenten hastig agieren, haben die Bremer - auch das ist neu - die Ruhe weg. Vorbei sind die Zeiten, in denen ein Außenverteidiger zu weit einrückt oder ein Innenverteidiger seine Position verlässt und das Zentrum entblößt. Dabei foulen die Bremer extrem selten, womit ein weiteres Problem abgestellt wurde.
Nehmt ihr ruhig die Pille
Auf besonders viel Ballbesitz sind die Norddeutschen dabei nicht erpicht. Während der Serie mit sechs Siegen und einem Remis besaßen sie das Leder im Mittel nur 40,7 Prozent - das sind fast sieben Prozent weniger als in den ersten 20 Spielen.
Das Motto lautet: Bloß kein Risiko eingehen. Gerade gegen Leipzigs Pressing war zu erkennen, dass die Bremer im Spielaufbau Ballverluste im Zentrum um jeden Preis vermeiden wollten. Lange Bälle auf die Flügel waren die simplen und erfolgreichen Mittel, um die Dreierkette nicht in die Bredouille zu bringen.
Haben sich die Bremer aus der Umklammerung befreit, liegt es an Max Kruse, den Ball festzumachen und Angriffe zu initiieren. Bremens Königstransfer lässt sich gerne ins linke Mittelfeld fallen, um die nachrückenden Kollegen zu bedienen. Die Technik und die Spielübersicht des 29-Jährigen haben in der Hinrunde, die Kruse größtenteils verpasst hatte, schmerzlich gefehlt. In seinen letzten sechs Spielen war er an sechs Treffern direkt beteiligt. Für seine eigenen vier Buden benötigte er nur sieben Schüsse - Effizienz pur.
Ein Schuss, ein Tor
Naturgemäß lassen Vergleiche im Fußball nicht lange auf sich warten. Wurde Ailton seinerseits mit: "Ein Schuss. Ein Tor. Das Ailton", zitiert, kann "Ailton" nun problemlos durch "Werder" ersetz werden: Die Chancenverwertung der letzten sieben Spiele liegt bei bärenstarken 34,6 Prozent. Davor waren es mickrige 12,9. Dabei gingen neun der letzten 18 Tore auf das Konto von Mittelfeldspielern, die auch von Kruses Spielmacherfähigkeiten profitieren. So bekam beispielsweise Thomas Delaney bei seinem spektakulären Dreierpack in Freiburg eine Flanke von Kruse perfekt auf den Kopf serviert.
Shootingstar Delaney ist nun allerdings mit einem Muskelfaserriss auf Werders Verletztenliste dieser Saison gelandet. Clemens Fritz, Robert Bauer, Lamine Sane, Serge Gnabry oder einmal erneut Kruse mussten immer wieder passen - Nouri konnte bei Werders Aufholjagd nie zweimal in Folge dieselbe Elf auf den Rasen schicken.
Zwischen Europa und Sandhausen
Doch dafür steht das Werder der letzten Wochen auch: Es scheint völlig egal zu sein, wer gerade nicht zur Verfügung steht - die Spieler auf dem Platz schultern die Verantwortung. Das Vertrauen, das Nouri vom Verein inzwischen offensichtlich hat, überträgt er auf alle seine Spieler, die nicht über die Minutenverteilung murren und sich in den Mannschaftsverbund integrieren. Am Freitagabend wartet mit Frankfurt nun die nächste Herausforderung - wieder mit neuer Startelf. Bei einem Sieg würde man an den Hessen vorbeiziehen, womit Europa-Träumereien endgültig legitim wären.
Allerdings wäre bei einer Niederlage und plötzlich wieder Abstiegskampf angesagt. So ist es in dieser Saison unterhalb der Top-6: Europacup und Sandhausen liegen sehr nah beieinander.
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