Lars Kornetka rutschte vor zehn Jahren eher zufällig in den Profifußball und arbeitet mittlerweile als Co-Trainer Analyse für Bayer Leverkusen. Der 39-Jährige spricht im Interview über seine Anfänge als Ziehsohn von Ralf Rangnick, den großen Wandel der Videoanalyse und die Zeit beim FC Bayern unter Pep Guardiola.
SPOX: Herr Kornetka, bevor Sie im Fußball landeten, studierten Sie an der Sporthochschule Köln auf Diplom mit dem Schwerpunkt Journalismus. Wie kam es dazu?
Lars Kornetka: Mein Bruder absolvierte eine Ausbildung zum Bankkaufmann und war so ein bisschen mein Vorbild. Ich konnte es ihm aber nicht gleichtun, weil in unserem Heimatkreis nur ein Familienangehöriger bei derselben Bank arbeiten darf. In der Oberstufe hatten wir einen Referendar in der Schule, der Sport studierte. Über ihn bin ich überhaupt erst auf den Trichter gekommen, dass das auch etwas für mich sein könnte.
SPOX: Wann kam der Fußball ins Spiel?
Kornetka: Ich habe selbst in der Verbands- und Landesliga gespielt und mich immer dafür interessiert. Mit vielen meiner alten Trainer stehe ich noch in Kontakt. Ich war aber der Meinung, dass es in Deutschland letztlich zu wenige Vereine gibt, um damit irgendwie Geld verdienen zu können. Ein paar meiner Kommilitonen trainierten beim 1. FC Köln die E-Jugend. Ich hatte großen Respekt davor, war aber immer überzeugt davon, dass das wenig Perspektive hat. Es war für mich komplett abwegig, ich habe diese Möglichkeit für mich nicht als realistisch eingeschätzt und mich deshalb auf die Journalismus-Schiene begeben.
SPOX: Dabei absolvierten Sie Praktika beim DSF und Sky und waren lange freier Mitarbeiter beim WDR - mit dem Schwerpunkt Fußball.
Kornetka: Boris Notzon, der mittlerweile Sportdirektor in Kaiserslautern ist, kannte ich durch den WDR. Er hat damals für den 1. FC Köln Highlight-Videos produziert. Bei der Hockey-WM 2006 kam der damalige Bundestrainer Bernhard Peters auf ihn zu und fragte, ob er nicht ein solches Video auch für ihn machen könne. Ich hatte einen engen Draht zu Boris und habe ihn dabei ein bisschen unterstützt. Zu diesem Zeitpunkt kam dann das Thema Analyse und die Frage auf, warum man das eigentlich nicht im Fußball einsetzt. In vielen anderen Sportarten war es über Jahre erfolgreich etabliert, nur eben im Fußball nicht.
spoxSPOX: Haben Sie den Umgang ausschließlich im Studio erlernt?
Kornetka: Nein, ich habe mich schon immer fürs Schreiben und besonders für den Film interessiert. Gerade für die Hollywood-Streifen, wie man so etwas dreht und wie die Regiearbeit funktioniert - das hat mich fasziniert. Ich lieh mir schon als junger Kerl Kameras aus und sparte auf eine eigene. Auch Schnittprogramme habe ich mir besorgt und dann einfach für mich herumgewerkelt.
SPOX: Peters ging 2007 zum Regionalligisten Hoffenheim. Dort arbeitete Ralf Rangnick als Trainer - und nach dem Aufstieg in die 2. Liga auch Sie.
Kornetka: Bernhard Peters wollte das Thema Analyse in Hoffenheim aufbauen und etablieren und jemanden dafür einstellen. Es gab ein Treffen mit ihm, Ralf Rangnick und Jan Schindelmeiser. Ich sagte ihnen, dass ich technisches Knowhow mitbringe und auch schneiden kann, ich hatte aber wenig Ahnung von den Abläufen im Profifußball und wusste nicht, wie ein Trainingsalltag funktioniert.
SPOX: Und trotzdem hat man Sie genommen!?
Kornetka: Ein wenig Fußball-Sachverstand hatte ich dann schon und strategisches Denken fiel mir leicht. Letztlich war meine fehlende Prägung im Leistungsfußball sogar hilfreich. Ralf Rangnick brachte dazu mal einen coolen Spruch: "Das Gute an dir ist, dass deine Festplatte noch leer ist und man sie bespielen kann." Diese Denke hat mir später sehr geholfen. Meine Arbeit hat sich etabliert, die Abteilung wuchs und ich stellte erste Mitarbeiter ein - nach ganz konkreten Gesichtspunkten: Sie mussten jung, hungrig und wissbegierig sein.
SPOX: So ganz ohne Ahnung vom Profifußball.
Kornetka: Aber mit dem Glück, Ralf Rangnick als Trainer zu haben. Er war mein Lehrer und ich sein fußballerischer Ziehsohn. (lacht) Er ist total schlau, hat enorm viel drauf und als ausgebildeter Pädagoge kann er einem ziemlich gut etwas beibringen. An seiner Seite war sein Mentor Helmut Groß, für mich einer der größten Fußball-Fachmänner Deutschlands. Er ist extrem innovativ, an allem interessiert und hat sich viel um mich gekümmert. Anfangs hatte ich viele Sieben-Tage-Wochen, doch ich musste auch einiges lernen.
SPOX: Erinnern Sie sich noch an Ihr erstes Spiel, das Sie für Rangnick zusammengeschnitten und ihm präsentiert haben?
Kornetka: Das weiß ich noch genau. Ich ließ das Video laufen und erklärte, was ich in dieser Partie gesehen habe. Dann zeigten mir Rangnick und Groß auf, was wirklich wichtig und unwichtig ist. Am Ende war die Hälfte meines Videos Müll, andere wichtige Aspekte hatte ich komplett übersehen. Es war letztlich learning by doing, um die Analyseinhalte bis ins Training transportieren zu können.
SPOX: Wie haben Sie sich antrainiert, Auffälligkeiten im Spiel direkt live zu sehen, damit Sie in der Halbzeitpause bereits einen entsprechenden Clip präsentieren konnten?
Kornetka: Helmut Groß war anfangs bei allen Spielen dabei. Ich nahm das Spiel auf, er stand neben mir und beschrieb die Szenen: Hier machen wir dieses richtig, hier hätten wir lieber das machen sollen. Irgendwann kam er nicht mehr zu den Spielen, weil er meinte, dass ich das jetzt alleine könne.
SPOX: In Leverkusen fungieren Sie aktuell als Co-Trainer Analyse, sind deutlich näher an der Mannschaft und können auf einen Mitarbeiterstab zurückgreifen. Wie gehen Sie heute während der Partien vor?
Kornetka: Mein Kollege Simon Lackmann sitzt neben mir und taggt das Spiel live nach quantitativen Inhalten, so dass wir die Möglichkeit haben, etwa alle Tore, Freistöße, Eckbälle oder Spielaufbauszenen in jeweils einzelnen Clips zu sehen. Da ich in den meisten Fällen an den Matchplänen des Trainerteams mitarbeite, weiß ich, mit welchen Vorgaben wir ins Spiel gegangen sind. Darauf kontrolliere ich das Geschehen. Die ersten 20 Minuten lasse ich immer erst auf mich wirken, dann kommt die Herangehensweise des Gegners hinzu: Entspricht sie unserer Annahme, was kann uns weh tun, worin liegen Gefahren oder unsere Möglichkeiten, müssen wir etwas korrigieren? So wird je nach Situation entschieden, welche Punkte ich dem Trainer in der Halbzeit vorstelle und zu welchen Spielsituationen und ob wir überhaupt der Mannschaft einen Clip zeigen.
SPOX: In dieser Saison spielt Bayer nicht international, hat also selten englische Wochen. Wie viele der kommenden Gegner bereiten Sie dann vor, wie sieht der Ablauf mit Ende des letzten Spiels aus?
Kornetka: Am Tag nach dem Spiel gibt es vor der Mannschaft die Nach-Analyse der Partie, die der Cheftrainer übernimmt. 70 bis 80 Prozent von dem, was ich über den kommenden Gegner wissen muss, erarbeite ich mir am Tag darauf. Wieder einen Tag später kommt der inhaltliche Feinschliff. Da sammelt man auch mal Informationen von Leuten, die bereits gegen den nächsten Gegner gespielt haben oder den Trainer gut kennen. All dies kommt quasi in einen Topf und daraus entsteht dann die Quintessenz der Analyse. Grundsätzlich ist diese Saison natürlich weniger stressig, da einfach mehr Zeit zur Verfügung steht - das ist purer Luxus, wenn man zuvor jahrelang alle drei Tage ein Spiel hatte.
SPOX: Wie konsumieren die Spieler ihre persönlichen Analysedaten?
Kornetka: Wir arbeiten mit mehreren Tools und Plattformen, über die wir vereinsintern alle Videoszenen und Daten innerhalb von Sekunden hochladen können. Die Spieler bekommen das dann über eine App auf ihr Handy, bei der wir auch sehen können, ob sie wirklich davon Gebrauch machen. Wir setzen dies nicht nur als Lernhilfe ein, um in bestimmten Spielszenen besser zu reagieren, sondern auch motivational. Dann schneiden wir persönliche Highlight-Szenen für einen Spieler zusammen, um ihn zu bestärken.
SPOX: In der Saison 2013/2014 arbeiteten Sie beim FC Bayern unter Pep Guardiola. Der sagt, er benutze die Videoanalyse, um den Spielern seinen Plan erklären zu können und leichter in ihre Köpfe zu kommen. Ohne Videoanalyse ginge das heutzutage also gar nicht mehr?
Kornetka: Doch, aber man spart damit extrem viel Zeit und potenziert die Inhalte. Wir nutzen die Videoanalyse auch manchmal, wenn wir eine vielleicht sogar auf den Gegner gemünzte Trainingsform geplant haben und damit vorab erklären, weshalb wir diesen Inhalt jetzt gleich auf dem Platz trainieren. Bringt man bei den Spielern die Erkenntnis für eine Sache unter, wachsen bei der Ausführung auch gleich Bereitschaft und Qualität.
SPOX: Inwiefern spielt für Ihren Job Ihre eigene Idee vom Fußball eine Rolle oder reicht es, nach den Parametern des Cheftrainers zu analysieren?
Kornetka: Die gemeinsame Überzeugung für eine Spielidee muss vorhanden sein. Als ich 2014 die Anfrage erhielt, nach Leverkusen zu wechseln und Co-Trainer mit dem Schwerpunkt Analyse zu werden, war es in erster Linie für mich sofort interessant, weil ich mit Roger Schmidt zusammen arbeiten konnte. Ich wusste aus seiner Zeit in Salzburg, dass Roger dieselbe Spielidee verkörpert, wie auch ich sie präferiere und dass er das Pressing noch extremer betreibt als bis dahin alle anderen zuvor. Das war innovativ und spannend. Ich hatte meistens Glück, dass ich mit meinen Chefs schnell auf einer Wellenlänge lag.
SPOX: Wie wurde der FC Bayern auf Sie aufmerksam?
Kornetka: Ich hielt einen Vortrag über meine Arbeit, als anschließend ein Headhunter der Bayern auf mich zukam und sagte, er wolle sich mit mir austauschen. Anfangs hielt er sich noch bedeckt, so dass ich dachte, er sei nur ein interessierter Fußballfan. Ein paar Tage später eröffnete er mir, dass Matthias Sammer mich gerne kennenlernen würde. Dieses Treffen war dann schon außergewöhnlich. Sammer zeichnete einen enorm attraktiven möglichen Werdegang für mich auf, ein super Konzept. Allerdings stand damals Pep Guardiolas Wechsel nach München noch nicht fest. Als ich hörte, Guardiola geht auch zu den Bayern, freute ich mich sehr.
SPOX: Welche Aufgabe hatten Sie dann in München?
Kornetka: Ich war nominell für die erste Mannschaft zuständig. Nach meiner Ankunft waren dort aber schon vier oder fünf Analysten am Werk - nur für die Profis. Zudem kam auch noch die siebenköpfige Entourage aus Spanien. Es gab einfach zu viele Köche und letztlich zu wenig Arbeit für alle. Ich habe mich dann eher darum gekümmert, Pep Guardiola den deutschen Markt und die ihm unbekannten Gegner vorzustellen. Ich versuchte auch, seine Ansätze in den Nachwuchs zu transportieren. Es war ein tolles Jahr, in dem ich viel lernen konnte. Mir war aber auch schnell klar, dass es nicht auf das hinauslaufen würde, weshalb ich eigentlich nach München gekommen war.
SPOX: Können Sie Guardiolas größte Stärke beschreiben?
Kornetka: Er erkennt während der Partien sehr schnell, was nicht so gut klappt und reagiert dann umgehend darauf. Er hat sein Spiel immer sehr akribisch auf den Gegner vorbereitet und dessen Schwächen extrem gut analysiert. Nach dem Motto: Das sind unsere Optionen und Räume gegen diesen Gegner. Er ist wirklich ein Perfektionist und schafft es eigentlich fast immer, die Mannschaft so vorzubereiten, dass ihr der Matchplan während des Spiels sofort bewusst ist. Die Spieler erkennen relativ schnell, was er meint und wie es funktionieren muss. Kluge Spieler sind für Pep Guardiola sehr wichtig, weil sie in der Lage sind, seine Ideen schnell zu verstehen und umzusetzen.
SPOX: Als Sie in München unterschrieben, wurden Sie als "Peps Super-Auge" betitelt. Wie gefiel Ihnen das?
Kornetka: Die Schlagzeile entstand, nachdem mein Wechsel in einer winzigen Meldung eines Boulevardblattes verkündet wurde. Damals war Sommerpause und alle wollten Informationen über Guardiola. Da man an ihn aber nicht herankam, bauschte man diese Nachricht auf, ohne mit mir gesprochen zu haben. Dann schrieben das alle voneinander ab. Mir gefiel es deswegen nicht, weil ich mit niemandem gesprochen hatte. Auch nicht mit Guardiola, aber vor allem nicht mit meinen künftigen Kollegen. Die bekamen das dann groß aufgemotzt von der Presse serviert - und das war unangenehm. Der einzige Witz daran war, dass ich mich damals mit einem entzündeten Auge herumplagte. (lacht)
SPOX: Wenn Sie jetzt auf Ihre Anfänge von vor zehn Jahren zurückblicken, wie sehr hat sich Ihre Arbeit im Vergleich zu heute verändert?
Kornetka: Sie ist eigentlich ähnlich, nur deutlich schneller und detaillierter. Man nimmt nun das Training permanent auf, die am Trainingsgelände installierten Kameras kann ich von meinem Rechner im Büro aus steuern. Früher stand man mit der Kamera in der Hand selbst auf dem Platz oder brauchte für alles DVDs, deren Inhalt dann erst noch langwierig gerendert werden musste, bevor man damit arbeiten konnte. Es gibt jetzt auch viel mehr und besser ausgebildete Mitarbeiter. Dadurch ist die Qualität der Arbeit deutlich gestiegen. So kann man jetzt sehr detailliert und eher individual- sowie gruppentaktisch arbeiten. Die Sensibilität der Trainer für das Thema ist inzwischen viel ausgeprägter. Dazu kommen die externen Datenanbieter. Deren Daten sind mit den Jahren immer genauer und ergiebiger geworden. Und wir haben gelernt, sie besser zu nutzen.
SPOX: Ohne den Mut der Hoffenheimer Führungsriege von 2007 wäre Ihr Werdegang vielleicht vollkommen anders verlaufen. Schließen Sie in der Zukunft eine erneute Zusammenarbeit mit Rangnick aus?
Kornetka: Ich bin kein Romantiker und weiß, dass sich im Fußball die Situation schnell ändern kann. Und ausschließen kann man nichts. Aber Rudi Völler und Jonas Boldt haben mir immer ihr Vertrauen entgegengebracht und momentan fühle ich mich bei Bayer total wohl. Es war schließlich mein ausdrücklicher Wunsch, hierher zu wechseln.