Absehbare Grenzen

Coach Julian Nagelsmann durchhlebt mit Hoffenheim seine erste Krise
© getty

Die TSG Hoffenheim durchlebt ein Herbsttief, Coach Julian Nagelsmann spricht mittlerweile von einer Krise. Dass eine solche die Kraichgauer ereilt hat, ist aber weder eine große Überraschung, noch ein Grund für Abgesänge.

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Im Oktober machte Julian Nagelsmann auf einem Spielplatz in München ein Foto mit einem jungen Fan. Ein Gefallen, der den Coach binnen kürzester Zeit wieder einholen sollte.

"Dass solche Bilder ins Netz kommen", sagte Nagelsmann im Vorfeld des 2:2 gegen den FC Augsburg, "die ich eigentlich mit einem kleinen Jungen mache, um ihm eine Freude zu machen, ist mehr als traurig."

Nagelsmann ist in München! Nagelsmann trägt eine rote Jacke! Der Boulevard hatte seinen Spaß am Selfie, das nur einer von vielen bizarren Auswüchsen des Rampenlichts war, in dem sich der 30-Jährige vor allem seit den Gerüchten um einen Wechsel zum FC Bayern bewegt. Nagelsmann hat Familie in München, baut dort ein Haus und sagt: "Ich trage schon immer Farbe."

Natürlich: Mit seinem Interview über die "etwas größere Rolle" des Rekordmeisters in seinen Träumen hat Nagelsmann die Diskussionen um seine Person nicht gerade entschleunigt. Die Erwartungen an ihn und seine Mannschaft sind seitdem mächtig groß geworden. Wie sich aktuell zeigt: zu groß.

Sogar Julian Nagelsmann redet von einer Krise

Das ungeliebte K-Wort geisterte schon eine Weile durch den Kraichgau und Nagelsmann wehrte sich lange, es selbst in den Mund zu nehmen. Nach dem 0:3 gegen den Hamburger SV sprach aber selbst er von einer "Ergebniskrise". So gab es in den vergangenen zwei Monaten nur einen einzigen Dreier - in der Liga gegen das noch sieglose Kön. Im DFB-Pokal? Raus. In der Europa League? Ausgeschieden.

Vor allem das Aus in Europa war Anlass für vernichtende Kritiken. Und sicher spricht nicht viel für berauschende Leistungen, in einer Gruppe mit Braga, Ludogorets und Basaksehir nach fünf Spieltagen als schlechtestes Team dazustehen. Hinzu kommt schließlich noch das Gebotene in der Champions-League-Qualifikation: 1:2 und 2:4, chancenlos gegen den FC Liverpool.

Doch stellt sich dringlich die Frage nach dem Maß der Kritik.

Der erste Gegenwind für Nagelsmann als Ligacoach

Richtig ist: Nagelsmann verspürt das erste Mal als Bundesligatrainer einen rauen Gegenwind. Dass der so heftig ausfällt, liegt sicherlich auch daran, wie reibungslos bislang alles funktionierte, was der Trainer-Youngster anstellte.

Mit 28 Jahren übernahm er als jüngster Coach der Ligageschichte drei Monate vor Saisonende die fast sicher abgestiegenen Hoffenheimer und hielt sie in der Liga. In seinem ersten vollen Jahr als Chefcoach führte er die TSG erstmals in der Geschichte ins internationale Geschäft und auf Platz vier. So gut war Hoffenheim noch nie.

"Wir müssen", mahnte Nagelsmann vor einigen Wochen, "die Erwartungshaltung etwas senken". Nach Hamburg heißt es: "Wir sind kein Spitzenteam. Spitzenteams entwickeln sich nur drei bis vier Prozent im Training weiter, alles andere läuft über die Stabilität in den Spielen. Wir brauchen das Training, um uns weiterzuentwickeln."

Hoffenheim: Krise oder Normalität?

Nimmt man die Entwicklung der TSG seit dem Fast-Abstieg, dazu den guten Saisonstart mit dem eindrucksvollen Sieg gegen die Bayern und die Gerüchte um Nagelsmann als neuem Coach für den Rekordmeister - die aktuelle Lage kommt da tatsächlich wie eine mittelschwere Krise daher. Aber ist sie das?

Oder ist eine solche Phase nicht viel eher Normalität, wenn man die Umstände betrachtet? Für Nagelsmann war es die erste Saison auf internationalem Parkett, für den Großteil seiner Mannschaft auch. Mit Sebastian Rudy und Niklas Süle brachen im Sommer zwei der wichtigsten Stützen des Teams weg, zehn neue Spieler mussten in das Team integriert werden, das seit Wochen von einer Verletztenmisere heimgesucht wird und sich überhaupt nicht stabilisieren oder einspielen kann.

"Eine Weiterentwicklung durch Training ist bei dieser Belastung nicht möglich", sagt Nagelsmann. "Wir haben ein Problem damit, alle drei Tage so emotional aufzutreten, dass es für einen Sieg reicht."

Den Status aus dem letzten Jahr, "den haben wir nicht mehr", analysierte der Coach, der selbst trotz seiner herausragenden Fähigkeiten in einem Lernprozess steckt. In seiner zweiten vollen Bundesligasaison. Das erste Mal aus einer Favoritenrolle heraus.

Nagelsmann: "Ich will nicht immer rumheulen"

Trotzdem sagt Nagelsmann: "Ich will nicht immer rumheulen." So ist auch der Spuk der Dreifachbelastung, die Nagelsmann ohnehin nicht als Ausrede zählen lassen will, seit vergangener Woche vorbei. Mehr Training und voller Fokus auf die Liga stehen auf dem Programm: "Wir dürfen nicht davon zehren, was gewesen ist, und müssen wieder in der Realität leben. Wir müssen wieder alles dafür tun, um zu gewinnen."

Da dürfte es auch helfen, dass der Bayern-Hype um Nagelsmann abgeflaut ist und die Kraichgauer nicht mehr so krass unter Beobachtung stehen.

Außer vielleicht, Julian Nagelsmann trägt bald wieder seine rote Jacke auf einem Münchner Spielplatz.

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