Polyvalenz. Ein Begriff aus dem Griechischen und dem Lateinischen, der "breit gefächerte Einsatzmöglichkeit" bedeutet und sinnbildlich für das Dilemma von Matthias Ginter in seiner Zeit bei Borussia Dortmund steht. An und für sich ist die Polyvalenz für einen Fußballprofi ein positives Attribut, ein Ausdruck von Qualität und für jeden Trainer eigentlich ein Segen. Für Ginter war sie beim BVB allerdings mehr Fluch als alles andere.
"Ich habe in Dortmund sehr viele Einsatzzeiten gehabt (102 Pflichtspiele, Anm. d. Red.), habe aber eben immer auf unterschiedlichen Positionen gespielt", resümierte Ginter die drei Jahre beim BVB nach seinem Abgang zu Borussia Mönchengladbach: "Vielleicht wurde ich in der Öffentlichkeit deshalb nicht als Stammspieler wahrgenommen." Mit seinem Wechsel an den Niederrhein hat sich die öffentliche Wahrnehmung Ginters innerhalb eines halben Jahres schlagartig geändert.
Während Ginter beim BVB immer wieder zwischen Rechtsverteidigung, Innenverteidigung und defensivem Mittelfeld je nach Bedarf und personellem Notstand hin und hergeschoben wurde, jedoch gefühlt nie erste Wahl war, ist er in Gladbach als Innenverteidiger gesetzt. Die Fohlen sicherten Ginter ein Ende der Polyvalenz zu. Eine Chance, sich endgültig vom Standing eines Positionsnomaden loszueisen und eine Führungsrolle einzunehmen. Schließlich musste in der Gladbacher Innenverteidigung der Abgang von Andreas Christensen kompensiert werden.
Matthias Ginter bei BMG: "Einer unserer Platzhirsche"
Die Rückkehr in die Innenverteidigung und der Weg in die Monovalenz hatte für Ginter im Sommer oberste Priorität. "Sonst hätte ich ja in Dortmund bleiben können", begründete der 24-Jährige seinen Weggang vom BVB: "Als junger Spieler war es gut, verschiedene Positionen zu spielen. Ein Führungsspieler kann man aber nur sein, wenn man eine feste Position hat." Und wenn man seine Leistung bringt, denn "ohne die, bist du kein Anführer", das weiß Ginter selbst am besten. Er ergänzt aber auch: "Führungsspieler zu werden - das geht nicht auf Knopfdruck, nicht von heute auf morgen."
Seinem eigenen Anspruch, zumindest "eine tragende Rolle" in Gladbach spielen zu wollen, wird der 17-fache Nationalspieler in seiner ersten Saison bei den Fohlen bislang allerdings mehr als gerecht. Ginter ist auf einem guten Weg, seine statistisch gesehen beste Saison zu spielen. Er überzeugt mit guten Zweikampfwerten (64,3 Prozent) und sicherem Passspiel (88,3). Dazu ist er neben Schalkes Naldo der torgefährlichste Innenverteidiger der Bundesliga (4 Tore, 2 Assists).
Aufgrund seiner nicht immer konstanten, aber dennoch häufig guten Leistungen genießt Ginter bereits nach einer Hinrunde innerhalb der Gladbacher Mannschaft ein hohes Ansehen. "Er ist einer unserer Platzhirsche", urteilte Christoph Kramer kurz vor der Winterpause. Auch Sportdirektor Max Eberl ist mit der Entwicklung seines Wunschtransfers, den er bereits 2014 anstrebte, äußerst zufrieden: "Matze besitzt ein unglaublich großes Potenzial und nimmt bei uns mittlerweile eine sehr gute Rolle ein", sagte Eberl im Gespräch mit dem kicker. Neben seinem großen Potenzial ist Ginter trotz seines noch jungen Alters auch schon reich an Erfahrung.
Seine sportliche Vita liest sich wie die eines 36 Jahre alten Profis, der - im Herbst seiner Karriere stehend - den jungen Burschen noch einmal zeigen will, wie das mit dem Fußballspielen so geht. Ginter ist Weltmeister, Confed-Cup-Sieger, Silbermedaillengewinner bei den Olympischen Spielen in Rio und DFB-Pokalsieger und dabei erst 24 Jahre alt. Er besitzt Erfahrungswerte, die er in Gladbach als "Platzhirsch" - der zwar kein großer Lautsprecher sei, aber dennoch vorangehen wolle - einbringen kann.
Borussia Mönchengladbach: Die Defensive ist das Sorgenkind
Allerdings darf trotz der individuell guten Auftritte Ginters nicht außer Acht gelassen werden, dass sowohl der Neuzugang als auch die gesamte Gladbacher Hintermannschaft noch Verbesserungsbedarf haben. Immerhin stellt die Borussia mit 30 Gegentreffern neben Köln, Mainz und Freiburg (alle 33 Gegentore) die viertschlechteste Defensive der Liga. Das ist freilich nicht nur Ginter allein zuzuschreiben. Allerdings führt dieser Fakt die von Eberl attestierte "Statik und Stabilität", die Ginter der Gladbacher Defensive angeblich sofort verliehen habe, zumindest in Teilen ad absurdum.
Es wäre aber zu diesem Zeitpunkt fahrlässig zu sagen, dass Ginter als Ersatz für den zum FC Chelsea abgewanderten Andreas Christensen nicht der Richtige sei. Immerhin war der Defensiv-Verbund auch mit dem hochgelobten Dänen in der vergangenen Spielzeit nicht unbedingt das Prunkstück der Gladbacher: Im Vergleich kassiert die Borussia in dieser Saison lediglich 0,14 Gegentore pro Spiel mehr. Zwar hat Ginter im Vergleich zu Christensen noch Nachteile in der Schnelligkeit und der Spieleröffnung, allerdings zeigt sowohl die Formkurve Ginters als auch die der Gladbacher Defensive zum Rückrundenstart nach oben.
Gegen den FC Augsburg blieb die Borussia beim 2:0-Heimsieg zum ersten Mal seit dem 8. Spieltag ohne Gegentor, und Ginter wurde mit seinem Führungstreffer und seiner Vorlage für Hazard ganz nebenbei zum Matchwinner. Gelobt wurde Ginter im Anschluss allerdings vielmehr für eine verloren geglaubte Facette, die dem Gladbacher Spiel kritischen Stimmen zufolge nicht erst im Derby zum Rückrundenauftakt gegen Köln abhandengekommen war: die Physis und das Durchsetzungsvermögen. Bestes Beispiel dafür war seine Balleroberung vor dem 2:0 und seine schnelle Weiterleitung auf Hazard.
Was Ginter dem Gladbacher Spiel geben kann: Plan A und Plan B
Neben seiner Physis, der neu entdeckten Torgefahr, sowie den zuletzt defensiv stabileren Leistungen bringt Ginter - ob es ihm nun gefällt oder nicht - natürlich auch seine Flexibilität mit ins Gladbacher Spiel und bietet Trainer Dieter Hecking Optionen, um Ausfälle beispielsweise von Christoph Kramer adäquat zu ersetzen. Die Trumpfkarte, dass Ginter auch auf der Sechserposition agieren kann, hat Hecking bereits vier Mal in dieser Saison ausgespielt - und das mit durchschlagendem Erfolg.
Bei fast allen Auftritten im defensiven Mittelfeld wusste Ginter durch hohe Laufbereitschaft und auch im eigenen Ballbesitz zu überzeugen. Gegen Hoffenheim traf Ginter von der Kramer-Position zum wichtigen 2:1. Hecking bezeichnete ihn anschließend gar als "Schlüssel zum Sieg". Gegen den FC Bayern wiederholten sich die Ereignisse: Kramer verletzte sich, Ginter rückte auf die Sechs, traf zum 2:0 und Gladbach gewann.
"Ich bin noch mal zum Trainer und habe gefragt, ob es wirklich sein muss", sagte Ginter nach dem Spiel gegen die Münchner, angesprochen auf seinen Positionswechsel. Ein Ausdruck der Furcht davor, dass ihn der Wunsch der Trainer nach seiner Polyvalenz die 115 Kilometer über die A46 von Dortmund nach Gladbach gefolgt sein könnte. Anders als beim BVB ist Ginter allerdings in Gladbach immer erste Wahl und nur noch in eben jenen Ausnahmefällen ein Notnagel zum Wohle des Kollektivs. In Dortmund habe er sich hingegen gewünscht, dass seine Flexibilität mehr Wertschätzung bekommen hätte.
Ginter und der Traum von der WM 2018: Löws beste Notlösung?
Dass es zwischen den Fohlen und Matthias Ginter besser passt als zwischen ihm und dem BVB liegt auch an den unterschiedlichen Ansprüchen beider Vereine: In Gladbach werden ihm Unsicherheiten, zumindest in der ersten Saison, leichter verziehen. Zudem ist der Druck, unbedingt international spielen zu müssen, geringer als bei der ambitionierteren Borussia aus Dortmund, für die die Champions League fast schon Alltag ist.
"Es fällt natürlich schwer, als Spieler auf Europa zu verzichten", sagt der Innenverteidiger, "aber man muss immer abwägen." Das hat Ginter getan und mit dem Neuanfang in Gladbach auch im Hinblick auf die WM 2018 keine schlechte Entscheidung getroffen. Seine Chancen auf die Endrunde in Russland dürften im vergangenen halben Jahr gestiegen sein - einerseits wegen seiner positiven Entwicklung in Gladbach, aber ironischerweise auch aufgrund seiner Vielseitigkeit. "Ich rechne mir gute Chancen aus", sagte Ginter mit Blick auf eine mögliche WM-Nominierung.
Die selbstbewusste Aussage Ginters ist angesichts der momentanen Situation im DFB-Team auch durchaus nachvollziehbar: Bundestrainer Löw muss für den Ernstfall planen und braucht eine Alternative für die gesetzten Joshua Kimmich, Jerome Boateng und Mats Hummels. Auf rechts probierten sich bereits Emre Can und Sebastian Rudy. Bei beiden hielt sich der Erfolg des Experiments im DFB-Dress in Grenzen, zumal Rudy beim FC Bayern unter Heynckes kaum noch Einsatzzeiten bekommt.
Insofern könnte Ginter zumindest auf rechts im Ernstfall die beste Notlösung sein. Das hängt allerdings davon ab, wie Löw letztendlich bei der WM spielen lassen will. Wird Ginter nominiert, muss er sich mit einer für ihn bekannten, aber mittlerweile ungewohnten Situation auseinandersetzen: Schließlich ist Ginter bei Gladbach jetzt Platzhirsch und kein Notnagel mehr.