Eine Szene kann so vieles aussagen. Das Dortmunder Stadion explodiert, soeben ist der BVB gegen Leipzig durch ein Eigentor von Marcel Sabitzer mit 2:1 in Führung gegangen. Die Spieler in den schwarz-gelben Trikots liegen sich nur kurz in den Armen, dann erhebt einer das Wort und gibt im Moment des Jubels Anweisungen. Mit einem fokussierten Gesichtsausdruck und deutlichen Gesten untermalt. Im Stile eines Führungsspielers.
Verwunderlich dabei: Es ist nicht etwa ein langjähriger Wortführer, nicht Kapitän Marco Reus oder Ex-Kapitän Marcel Schmelzer. Es ist Thomas Delaney. Ein Neuzugang, der zum ersten Mal überhaupt in der Bundesliga das Trikot des BVB trägt.
Thomas Delaney strahlt bei BVB-Bundesliga-Debüt Autorität aus
Delaney strahlte bei seinem Dortmunder Bundesliga-Debüt nicht nur in dieser Szene eine natürliche Autorität aus. Er tat dies mit seinem Einsatz, seiner konsequenten Zweikampfführung und seinem Zug nach vorne auch auf dem Platz. Er war nicht für die feine Klinge zuständig. Delaneys Aufgabe war es, eine Komponente ins Spiel der Borussen zu bringen, die den Verantwortlichen in der letzten Saison fehlte: Mentalität.
"Das war ja keine Demonstration der Stärke, wie wir in der vergangenen Saison in die Champions League eingezogen sind", sagte Hans-Joachim Watzke erst an diesem Wochenende gegenüber ntv: "Dann ist uns aufgefallen: 'Wir brauchen mehr Spieler, die sich auch mal wehren, die Zweikämpfe gewinnen und böse werden.'"
Das war nicht die erste Aussage, die in diese Richtung abzielte. In der gesamten vergangenen Rückrunde ließ den BVB diese Thematik nicht los. Schon zu Beginn der Transferperiode war klar, dass die Dortmunder das als eine der wichtigsten Anforderungen an Neuzugänge einstuften.
Böse werden, gallig sein, einen Arsch in der Hose haben - so kann eine Mannschaft in Dortmund das Publikum anzünden. Genau das gelang beim Saisonauftakt am Sonntag gegen Leipzig.
BVB: Axel Witsel erzielt zweites Tor im zweiten Pflichtspiel
Dafür war Delaney ebenso hauptverantwortlich wie ein anderer Neuzugang. Axel Witsel vereinte Präsenz (meiste Ballaktionen) mit Ballsicherheit, Übersicht und einem Schuss Galligkeit. Dazu erzielte er in seinem zweiten Pflichtspiel für die Borussia seinen zweiten Treffer.
Bemerkenswert war dabei nicht nur, dass, sondern auch wie Witsel traf: Das zwischenzeitliche 3:1 machte der Belgier mit einem Fallrückzieher.
Dieser Kunstschuss war nur wenige Minuten nach der Führung der entscheidende Moment. Durch den Doppelschlag ging der BVB mit einer Zwei-Tore-Führung in die Pause und konnte sich spätestens ab diesem Zeitpunkt der lautstarken Euphorie der Anhänger gewiss sein.
Borussia Dortmunds 3:1 als Tor des Willens
Der Treffer war aber nicht nur künstlerisch hochwertig, er war auch ein Tor des Willens. Nicht nach einer Umschaltsituation, schön herausgespielt oder perfekt kombiniert. Nein, nach einer Ecke und einem wuchtigen Kopfball von Delaney, den Leipzig-Keeper Peter Gulacsi gerade so noch abwehren konnte. Den Abpraller verwandelte Witsel, weil er voll durchgegangen und in den richtigen Raum gelaufen war. Für das Spiel war es passend, dass dieses 3:1 eine Co-Produktion der beiden Mentalitätsspieler Delaney und Witsel war.
Euphorie ist trotz des unter dem Strich überzeugenden Auftaktsieges und der damit verbundenen Tabellenführung verfrüht. Noch lief nicht alles rund.
Neuzugang Abdou Diallo zeigte seine Qualitäten im Spielaufbau, wirkte nach seinem Patzer vor dem 0:1 aber in der gesamten ersten Halbzeit noch verunsichert. Mit dem hohen Anlaufen der Leipziger schien er überfordert. Erst nach der Halbzeit steigerte er sich deutlich.
Die Nicht-Berücksichtigung von Mario Götze (90 Minuten Bank) oder Shinji Kagawa (gar nicht im Kader) war ebenfalls ein Thema, das zumindest im Raum steht.
BVB: Stürmerfrage weiter offen - Zorc kommentiert Paco Alcacer nicht
Auch im Spiel nach vorne waren die Abläufe nicht 100-prozentig homogen. Christian Pulisic brachte zwar viel Schwung, strahlte jedoch keine Torgefahr aus.
Maximilian Philipp spielte wie erwartet als nomineller Stoßstürmer. Er spielte ordentlich mit, leitete den Ausgleichstreffer durch einen klugen Pass auf den Flügel zu Marcel Schmelzer ein, war ansonsten gegen die beiden körperlich starken Leipziger Innenverteidiger aber häufig fehl am Platz.
Reicht das auf lange Sicht? Die Stürmerfrage beantwortete auch die Partie am Sonntag nicht.
"Wir haben ja noch fünf Tage und es ist nicht komplett ausgeschlossen, dass wir noch etwas tun auf dem Transfermarkt. Ein bisschen Geduld brauchen wir noch und dann wissen wir, was passiert", sagte Zorc gegenüber Sky.
Den Namen Paco Alcacer, der offenbar vor einem Wechsel nach Dortmund stehen soll, kommentierte Zorc nicht. Sebastian Kehl bestätigte zumindest, dass dieser auf einer ominösen Liste möglicher Kandidaten steht. Oder stehen könnte. Etwas wischiwaschi eben.
RB Leipzig noch kein Maßstab für Bewertung von Lucien Favre
Nein, jede Frage beantwortete das erste Heimspiel der Borussia nicht. Auch auf den Fußball, den Favre auf lange Sicht etablieren will, kann noch nicht final geschlossen werden. Dafür ist eine Pressing-und-Umschalt-Maschine wie RB Leipzig nicht der richtige Maßstab.
Aber es gab erste Erkenntnisse. Vor allem die, dass die neue Mannschaft Herz hat. Und einen Arsch in der Hose.
Der BVB war von dem Rückstand nach nur 32 Sekunden sichtlich geschockt. Der Defensivverbund wirkte in der Folge vor allem in der ersten Viertelstunde verunsichert, die Leipziger Taktik, den Spielaufbau der Dortmunder aggressiv zu attackieren, überforderte diese sichtlich.
Ende der Ära Jürgen Klopp durch frühes Gegentor eingeleitet
Gedanken a la "Jetzt geht das schon wieder los" wären in dieser Phase nicht abwegig gewesen. Nach einer seltsamen letzten Saison. Und auch mit der Erinnerung an 2014.
Denn vor fast auf den Tag genau vier Jahren ging der BVB am ersten Spieltag ebenfalls wahnsinnig früh in Rückstand. Karim Bellarabi brachte Leverkusen damals sogar schon nach neun Sekunden in Führung. Dortmund kam nicht mehr zurück, verlor das Spiel 0:2 und begann eine verhexte Saison, an deren Ende die Ära Jürgen Klopp vorbei war.
Diesmal begann womöglich eine Ära, die von Lucien Favre. Die Parallelen hätten auf der Hand gelegen. Denn Leipzig spielt einen ähnlichen Fußball wie damals Leverkusen unter Roger Schmidt. Der frühe Rückstand hätte den BVB noch deutlicher aus der Bahn werden können. Aber es passierte nicht.
Stattdessen brutalisierte sich der BVB ins Spiel. Durch Präsenz im Mittelfeld, Zweikampfstärke und Tore des Willens, zwei davon nach Standardsituationen.
Den ersten Feldversuch hat die neue Mentalität bestanden. Den Fans im Dortmunder Stadion gefiel das neue Herz, der neue Arsch. Und das, was womöglich der Grundstein für eine neue Hierarchie in der Mannschaft sein kann. Delaney und Witsel haben jedenfalls schon Argumente gesammelt.
Die wichtigsten Sommertransfers des BVB im Überblick
Spieler | ehemaliger Verein | Kolportierte Ablöse |
Abdou Diallo | Mainz | 28 Millionen Euro |
Thomas Delaney | Werder Bremen | 20 Millionen Euro |
Axel Witsel | Quanjian | 20 Millionen Euro |
Marius Wolf | Eintracht Frankfurt | 5 Millionen Euro |
Marwin Hitz | FC Augsburg | ablösefrei |