Innenverteidiger Ermin Bicakcic hat eine bewegte Lebensgeschichte hinter sich: Im Interview mit SPOX und Goal erzählt der 29-Jährige, wie er als Kriegsflüchtling nach Deutschland kam, von Jahren der Ungewissheit mit einem Container als Zuhause und der Rolle, die der Fußball damals für ihn spielte.
Die TSG startet am Sonntag mit einem Auswärtsspiel bei Eintracht Frankfurt in die neue Saison (15.30 Uhr im LIVETICKER) - ein Spiel, in dem "Eisen-Ermin" auch als Freistoßschütze in Erscheinung treten könnte.
Außerdem verrät der Bosnier, warum er bei Interviews den Ton ausschaltet, was den neuen Trainer Alfred Schreuder ausmacht und warum er seinen Sport gern mit einem Bürojob vergleicht.
Herr Bicakcic, Sie haben im letzten Jahr einmal gesagt, dass Sie bei Interviews manchmal den Ton ausschalten, weil sowieso klar ist, wie die Antwort lauten wird.
Ermin Bicakcic: Was ich damit meinte: Manchmal fehlt mir in Interviews die Ehrlichkeit, das authentische Reden "frei Schnauze". Vor allem, wenn es um unangenehme Fragen geht, zum Beispiel nach verlorenen Spielen. Da brettern selbst erfahrene Spieler ihre Antworten runter, als würden sie Karteikarten ablesen. Das finde ich schade.
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Schalten Sie denn auch manchmal auf "Autopilot", wenn sich eine Frage an Sie ständig wiederholt?
Bicakcic: Das kann vorkommen. Oft ist es so, dass man die gleiche Frage noch einmal gestellt bekommt, nur anders formuliert, und man sich denkt: "Das habe ich doch schon vor einer Minute gehört." Dann spule ich meine Antwort auch schon mal runter. Aber ansonsten bin ich ein großer Freund davon, offen zu sprechen und den Emotionen freien Lauf zu lassen.
Ich frage auch deshalb, weil ich mit Ihnen gern über Ihre Vergangenheit als Flüchtling sprechen würde, auch wenn Sie dazu natürlich schon häufig befragt worden sind. Ihre Familie ist aus Bosnien geflohen, als Sie zwei Jahre alt waren. Zuerst waren Sie in einem Auffanglager in Österreich, schließlich landete Ihre Familie in Neckarsulm. Was ist das Erste, woran Sie sich in diesem Zusammenhang erinnern können?
Bicakcic: An besondere Einzelheiten erinnere ich mich nicht, dafür ist damals zu viel passiert. Mir war nicht klar, warum wir Bosnien verlassen mussten, ich war ja fast noch ein Baby. Durch Erzählungen meiner Eltern und meiner älteren Schwester wurde mir die Situation schließlich mehr und mehr bewusst, umso älter ich wurde. Woran ich mich aber bei unserer Flucht noch genau erinnere: Es gab lange keinen Ort, bei dem wir sagen konnten: Hier sind wir angekommen, hier sind wir wieder zuhause.
imago imagesWann hatten Sie zum ersten Mal wieder das Gefühl, zuhause zu sein?
Bicakcic: Als wir über Freunde nach Möckmühl kamen und mein Vater eine Arbeit fand, war es das erste Mal, dass ich wieder mehr Kontakt zu anderen Kindern hatte. Wir wussten aber immer noch nicht, ob und wie lange wir bleiben durften. Ich würde sagen, dass dieses Gefühl des Ankommens so richtig bei meiner Einschulung kam: Jetzt schließe ich Freundschaften, jetzt bleiben wir erstmal. Bis zu diesem Moment war alles sehr kurzfristig.
Von vielen Sportlern aus dem ehemaligen Jugoslawien weiß man, wie sie im Krieg damals unter widrigsten Bedingungen trainierten und sich in den Sport quasi "flüchteten". Wie war das bei Ihnen?
Bicakcic: In den Sport "geflüchtet", das würde ich nicht sagen. Ich habe aber im Fußball definitiv meine Freude gefunden und konnte den Rest zumindest zeitweise vergessen. Auch heute noch schöpfen die Menschen in Bosnien, in ganz Ex-Jugoslawien, Freude aus dem Fußball. Da bist du als Spieler ein Volksheld, die Leute geben ihre letzte Mark für ein Ticket aus. So holen sie sich das Gemeinschaftsgefühl zurück, das damals im Krieg zerstört wurde.
Hat Ihnen der Fußball geholfen, sich zu integrieren? Oder war das nicht notwendig, weil Sie so jung nach Deutschland kamen?
Bicakcic: Auch wenn ich in Deutschland aufwuchs, so bin ich doch als Flüchtling gekommen. Jeden Monat mussten wir bangen: Dürfen wir weiter in Deutschland bleiben? Es war nicht einfach, sich unter diesen Umständen ein neues Leben aufzubauen. Ich musste mich also integrieren, und am besten konnte ich das durch den Fußball, zumal ich schon in jungen Jahren richtig gut war. So habe ich auch die Aufmerksamkeit der anderen Kinder bekommen. Unser Umfeld hat uns ebenfalls unterstützt, etwa als es darum ging, die unbefristete Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen.
So wie Ihrer Familie damals geht es derzeit sehr vielen Menschen in Deutschland. Die Flüchtlingskrise der letzten Jahre muss Ihnen sehr nahe gegangen sein.
Bicakcic: Natürlich geht das nicht spurlos an mir vorbei. Die aktuelle Situation ist sehr komplex und kaum zu überschauen. Ich versuche zu helfen, soweit es geht, und habe meiner Familie und meinen Freunden gesagt: Wenn es Möglichkeiten gibt und ihr wisst, wo ich helfen kann, womit auch immer, dann bin ich der Erste, der sich beteiligt. Ich kann nicht allen helfen, aber ich kann ein Dominostein in dem Ganzen sein.
Wie früh war bei Ihnen der Gedanke da, Fußballprofi zu werden? Vielleicht auch nur deshalb, um den schwierigen Umständen zu entkommen oder Ihre Familie unterstützen zu können.
Bicakcic: Ich muss ehrlich sagen, dass ich als Kind nicht an eine Profikarriere gedacht habe. Angesichts unserer Umstände ging es zunächst darum, das Drumherum zu vergessen und etwas zu finden, das mir Freude macht und Halt gibt. Aber irgendwann machte es auch bei mir Klick. Man darf nicht vergessen, unter welchen Umständen wir lebten.
Erzählen Sie.
Bicakcic: Wir wohnten bei dem Arbeitgeber meines Vaters auf dem Firmengelände, zu viert in einem kleinen Container mit einem Stockbett, wie man es aus der Jugendherberge kennt. Da realisierst du als Kind irgendwann: Ich kann eigentlich niemanden zu mir nach Hause einladen - denn ein wirkliches Zuhause habe ich ja gar nicht. Oder wenn deine Mutter zu dir sagt: "Ich wünschte, ich könnte dir mehr ermöglichen." Das sind Momente, die dich prägen. Dann sagst du dir: "Irgendwann mache ich das schon für uns." So etwas gibt dir Energie und Motivation, es bis zum Profi zu schaffen. Wann mir dieser Gedanke aber genau kam, das kann ich nicht sagen.
Ermin Bicakcic: Stationen seiner Karriere
Zeitraum | Verein |
2005 - 2009 | Jugend VfB Stuttgart |
2009 - 2011 | Stuttgart II |
2011 - 2012 | VfB Stuttgart |
2012 - 2014 | Eintracht Braunschweig |
2014 - | TSG Hoffenheim |
Ihr Weg zum Profi führte Sie zunächst zum VfB Stuttgart.
Bicakcic: Beim VfB habe ich die Jugend durchlaufen, ich bin in Stuttgart zur Schule gegangen und habe meinen Freundeskreis aufgebaut. Ich durfte dort meine ersten Erfahrungen als Profi machen. Auch das war eine prägende und emotionale Zeit. Ich schiele immer mit einem Auge nach Stuttgart und wünsche dem Verein und der Region, dass sie so schnell wie möglich aufsteigen. Der VfB Stuttgart gehört in meinen Augen in die Bundesliga.
Ein absolutes Highlight muss der Bundesliga-Aufstieg mit Eintracht Braunschweig gewesen sein.
Bicakcic: Braunschweig war ein Meilenstein in meiner Karriere. Dort bin ich zum Bundesliga-Profi herangewachsen, dort hatte ich eine extrem geile Zeit. Das war die Station, bei der ich realisiert habe, dass ich im Profifußball angekommen bin. Mit dem Aufstieg 2013 nach 28 Jahren haben wir etwas Historisches erreicht, das werde ich nie vergessen. Wie ich von den Fans dort aufgenommen wurde, wie ich dort bis heute noch begrüßt und empfangen werde, das ist unglaublich.
In Hoffenheim gehen Sie mittlerweile in Ihr sechstes Jahr, im Frühjahr haben Sie bis 2022 verlängert. Hoffe und Bicakcic - warum passt das so gut zusammen?
Bicakcic: Schon als ich 2014 zu Hoffenheim gekommen bin, habe ich gesagt: Ich kehre ein Stück weit nach Hause zurück. Ich bin aus der Region und habe einen großen Teil meiner Kindheit hier verbracht. Ich habe mir mein Standing im Verein erarbeitet und erkämpft, das positive Feedback ist für mich die Bestätigung meiner Leistung. Es passt hier einfach wie die Faust aufs Auge.
War ein Abschied aus Hoffenheim bisher nie ein Thema?
Bicakcic: Ich habe immer gesagt: Wenn es irgendwann nicht mehr passen sollte und ich das Gefühl habe, dass es nicht mehr das Richtige ist, werde ich definitiv nicht einfach in dieser Komfortzone bleiben, weil es hier toll ist und ich mich wohlfühle. Aber dieser Fall ist noch nie eingetreten. Es hat gepasst, es passt weiterhin - und deshalb habe ich auch verlängert.
Bei den Fans sind Sie mittlerweile Kultfigur und haben den Spitznamen "Eisen-Ermin" weg. Tragen Sie den mit Stolz?
Bicakcic: Am Anfang musste ich durchaus schmunzeln. Es ist schon so, dass es bei manchen Leuten, vielleicht auch bei Journalisten, so rüberkam: Ach ja, das ist so einer, der kloppt nur. Dass ich auch kicken kann, habe ich aber mittlerweile gezeigt, denke ich. Trotz allem ist der Spitzname für mich eine Auszeichnung. Auf deutsch klingt es vielleicht ein bisschen plump, bei "Iron" Mike Tyson zum Beispiel hört es sich sehr viel cooler an. Aber das ist schon in Ordnung. (lacht)
Sie haben in den sozialen Medien zuletzt auch den einen oder anderen verwandelten Freistoß gepostet. Ist es Ihr Ziel, sich für die Standards anzubieten?
Bicakcic: Absolut! Genau mit solchen Posts will ich daran erinnern, dass ich auch kicken kann. (lacht) Wir hatten bisher immer überragende Standard-Spezialisten, auch jetzt wieder. Aber ich habe in der Vorbereitung genau hingeschaut, wenn wir uns die Bälle nach dem Training am Strafraum hingelegt haben, und kann voller Selbstvertrauen sagen: Ich gehöre definitiv zu den Kandidaten, die sich das Ding auch mal schnappen werden. (grinst)
Sie haben die Vorbereitung unter dem neuen Trainer Alfred Schreuder absolviert. Was unterscheidet ihn denn von Julian Nagelsmann?
Bicakcic: Ich habe diese Frage jetzt schon öfter gehört, sie werden gern miteinander verglichen. Ich denke aber nicht, dass das nötig ist. Natürlich führt er von Julian Nagelsmann einige Dinge fort, weil Julian ein Ausnahmetalent als Trainer ist und vieles erfolgreich war. Trotz allem hat Alfred Schreuder seine eigene Handschrift.
Wie sieht die aus?
Bicakcic: Er will weiter den attraktiven Fußball spielen, der uns in den letzten Jahren ausgezeichnet hat. Dafür bringt er die nötigen Komponenten mit, etwa seine Erfahrungen bei Ajax Amsterdam. Aber er legt auch noch einen Tick mehr Aufmerksamkeit auf die Defensive und will sie noch stabiler machen.
Wird sich Ihre Rolle auf dem Platz - oder auch abseits des Platzes - verändern?
Bicakcic: Alfred Schreuder kennt meine Stärken. Wir stehen in engem Austausch, er hat meine Vertragsverlängerung befürwortet und mich davor auch persönlich kontaktiert. Er weiß, dass ich ein Leadertyp bin. Ich bin mittlerweile 29 und gehöre nun zu den erfahrenen Spielern. Ich stehe in der Verantwortung und will diese auch annehmen.
Mit Nico Schulz, Kerem Demirbay, Joelinton oder auch Nadiem Amiri hat der Klub mehrere Leistungsträger gehen lassen. Dämpft das den Optimismus auf die neue Saison?
Bicakcic: Es ist nicht zu leugnen, dass wir Spieler mit individueller Klasse abgegeben haben. Dass solche Spieler begehrt sind und umworben werden, spricht aber umgekehrt auch für die Arbeit, die bei der TSG Hoffenheim geleistet wird. Ich bin überzeugt, dass die Verantwortlichen um Alexander Rosen wieder gute Arbeit geleistet haben, was die Zusammenstellung des neuen Teams angeht. Es ist aber wichtig, dass man eine gewisse Geduld mitbringt. Im einen oder anderen Spiel wird individuelle Klasse gefragt sein, aber das Kollektiv ist wichtiger, und da habe ich ein sehr gutes Gefühl. Wenn ich anders denken würde, weiß ich nicht, warum ich die Vorbereitung überhaupt hier gemacht habe. (grinst)
Sie hatten ein paar Wochen Sommerurlaub, nun liegt der Fokus wieder voll auf Fußball. Welche Sportarten haben es Ihnen denn sonst noch angetan?
Bicakcic: Die NBA habe ich lange verfolgt, ich war auch das eine oder andere Mal in Miami und habe Spiele der Heat vor Ort gesehen. In den letzten Jahren bin ich aber mehr und mehr zur NFL gewechselt. Die Seattle Seahawks, gerade vor einigen Jahren mit "Beast Mode" Marshawn Lynch, haben es mir angetan. Da schaue ich mir Spiele an, so oft es geht. Umgekehrt kann ich mich kaum daran erinnern, wann ich privat zum letzten Mal Fußball geschaut habe.
Woran liegt das?
Bicakcic: Ich weiß auch nicht so genau. Wenn ich das Trainingsgelände verlasse, schalte ich ab und tanke wieder auf. Ich vergleiche das gern mit einem Bürojob, bei dem man den ganzen Tag vor dem PC hängt - den schaltet man daheim dann auch nicht sofort wieder ein. Die Spieler, die jeder kennt, die kenne ich natürlich auch. Spitzenspiele in der Champions League mit Spielern, die ich aus der Nationalmannschaft kenne oder so, schaue ich schon. Aber ansonsten interessiert mich Fußball in meiner Freizeit nicht so sehr. Manchmal komme ich in die Kabine und die anderen reden über eine Partie vom Vorabend, die ich gar nicht auf dem Schirm hatte...
Ihr Vater soll in Ihrer Kindheit immer sehr streng gewesen sein, er hat Sie auch nach guten Leistungen fast nie gelobt. Ist das immer noch so?
Bicakcic: Er war schon immer mein größter Kritiker. Ich hatte Spiele, da kam Lob von allen Seiten, nur er fand etwas zu meckern. Irgendwann stellte ich ihn zur Rede und er meinte: "Du hast schon so viele Schulterklopfer, da brauchst du nicht auch noch mich."
Die Schwaben sagen: "Nix gsagt isch gnug globt."
Bicakcic: Ich finde das völlig in Ordnung und habe ihm viel zu verdanken: Seine Kritik hat mich letzten Endes besser gemacht, zumal ich es ihm in gewissen Situationen vielleicht auch mal beweisen wollte. Und ich würde sagen, er hat sich mittlerweile auch um 0,1 Prozent gebessert. (lacht)