Fast genau 47 Jahre ist es her, dass Jürgen Klinsmann erstmals in einem Fußballstadion zu Gast war. Es war der 18. November 1972, als Siegfried Klinsmann seinen damals achtjährigen Sohn mit ins Stuttgarter Neckarstadion nahm, zum Bundesligaspiel des VfB gegen Hertha BSC Berlin. "Er kaufte mir eine Hertha-Fahne, und wir standen im Stehblock, weil uns Sitzplätze zu teuer waren", erinnerte sich der Junior vor einigen Jahren.
Der in Frankfurt/Oder geborene Vater war seit seiner Kindheit in Eberswalde in der Nähe von Berlin "großer und treuer Hertha-Fan", wie der Sohn berichtete, auch nach seiner Flucht aus der DDR in den Westen und der späteren Existenzgründung mit der eigenen Bäckerei in Stuttgart-Botnang.
Der Nachmittagsausflug endete allerdings ziemlich enttäuschend für ihn, denn der VfB schoss die Herthaner mit 4:0 förmlich ab. "Für mich dagegen war es ein Riesenerlebnis, und Jahre später stand ich dann mit VfB-Fahne und Schal im Stuttgarter A-Block", berichtete Jürgen Klinsmann 2006.
"Hertha ist für uns Klinsmänner ein besonderer Klub"
Aber: "Die emotionale Bindung zu Hertha blieb, und deshalb ist Hertha auch der einzige Verein, bei dem ich Mitglied bin" - auf Initiative des heutigen Sportchefs Michael Preetz bereits seit 2004 als Ehrenmitglied mit der Nummer 18, seiner ehemaligen Rückennummer als Stürmer. Ein Jahr später starb sein Vater im Alter von 71 Jahren. "Hertha ist und bleibt für uns Klinsmänner ein besonderer Klub", betonte der Ex-Bundestrainer daher vor zwei Jahren zum 125. Vereinsjubiläum - auch weil Sohn Jonathan zu dieser Zeit Ersatztorwart des Teams war.
Im Sommer verließ der 22-Jährige die Hauptstadt wieder Richtung FC St. Gallen, doch ohne den Namen Klinsmann blieb die Hertha nur wenige Monate: Anfang November nahm der Senior das Angebot des neuen Investors Lars Windhorst an, ihn und seine Anteile von 49,9 Prozent im Aufsichtsrat der Profi-Abteilung als sportlicher Berater zu vertreten. Nur drei Wochen später muss er den Posten schon wieder ruhen lassen, weil er seit Mittwoch überraschend als Trainer in die Bundesliga zurückkehrt.
Glaubt man allen Beteiligten, war das eigentlich nicht geplant, als sich der Wahl-Kalifornier nach der 0:4-Pleite der Berliner am Sonntag in Augsburg in den Flieger nach Deutschland setzte. Vielmehr habe er helfen wollen bei der Suche des Nachfolgers für den gescheiterten Ante Covic. Doch nach mehrstündigen Beratungen mit Preetz und dem ebenfalls eingeflogenen Windhorst blieb am Ende nur noch Klinsmann als Übergangscoach übrig.
Klinsmann sagte Hertha angeblich zweimal ab
Zumal Preetz dem 52-Jährigen laut Medienberichten schon zweimal den Job als Hertha-Trainer angeboten und dieser zweimal abgesagt haben soll: Sowohl 2018, als Pal Dardai auf der Kippe stand und dann doch weitermachen durfte, als auch diesen Sommer. Diesmal fühlte sich Klinsmann aufgrund seiner Familiengeschichte offenbar emotional verpflichtet, das Risiko bei der schwächelnden Alten Dame einzugehen.
Doch auch der Verein geht ins Risiko, schließlich hat Klinsmann seit über zehn Jahren nicht mehr als Vereinstrainer gearbeitet, als er unter großem Getöse beim FC Bayern entlassen wurde. Diese Gefahr sieht etwa Herthas langjähriger Rekordschütze Erich Beer, der übrigens bei Klinsmanns erstem Spiel 1972 im Team der Verlierer stand.
"Jürgen Klinsmann hat eine positive Ausstrahlung und kann diese hoffentlich auf die Mannschaft übertragen. Das einzig Negative ist, dass er schon sehr lange aus dem Bundesliga-Geschäft draußen ist. Er muss sich schnell auf die neue Aufgabe Abstiegskampf einstellen", sagte der frühere deutsche Nationalspieler zu SPOX und Goal.
Seit dem Aus als US-Nationaltrainer 2016 war Klinsmann vor allem Privatier und TV-Experte. Dennoch sei er immer sehr nah dran am deutschen Fußball gewesen, heißt es aus seinem Umfeld. Ein langjähriger Begleiter sieht es dagegen weitaus kritischer: "Jeder weiß seit der Zeit mit Jogi Löw als Assistent der Nationalmannschaft und dem Scheitern danach bei Bayern, dass Jürgen Klinsmann nur mit einem starken Co-Trainer erfolgreich arbeiten kann. Deshalb könnte die Konstellation mit Alexander Nouri gefährlich werden."
Wunschkandidat zur neuen Saison bleibt Niko Kovac
Der 40-jährige Nouri war seit fast genau einem Jahr arbeitslos, als er beim später abgestiegenen Zweitligisten FC Ingolstadt nach nur 64 Tagen und acht sieglosen Partien entlassen wurde. Rund ein Jahr zuvor, im November 2017, war er bei Werder Bremen gefeuert worden und ist nun insgesamt seit 21 Pflichtspielen ohne Sieg. Klinsmann ist dennoch von seinem vermutlich wichtigsten Mitarbeiter überzeugt: "Er ist ein sehr wissbegieriger, junger Trainer, dessen Energie und Art der Kommunikation mich begeistert."
Dass im nächsten Sommer so wie 2006 nach der erfolgreichen Heim-WM der damalige Assistent Jogi Löw auch Nouri Klinsmann als Cheftrainer beerben könnte, gilt allerdings als nahezu ausgeschlossen. Wunschkandidat für den Neuanfang zur kommenden Saison ist Niko Kovac. Am liebsten hätten die Hertha-Bosse den gebürtigen Berliner schon jetzt als Retter verpflichtet, doch so kurz nach dem Aus beim FC Bayern war Kovac auch aufgrund der engen Freundschaft zu Ante Covic noch nicht bereit für eine Rückkehr. Ganz im Gegensatz zu Klinsmann.